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Ausgabe:

Januar/2003

Spalte:

64–66

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Heidrich, Jürgen

Titel/Untertitel:

Protestantische Kirchenmusikanschauung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Studien zur Ideengeschichte wahrer Kirchenmusik.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2001. XIV, 282 S. gr.8 = Abhandlungen zur Musikgeschichte, 7. Kart. ¬ 39,00. ISBN 3-525-27906-X.

Rezensent:

Christoph Krummacher

"Das Nachdenken über Kirchenmusik in der zweiten Hälfte des 18. Jh.s darzustellen und auf diese Weise zum Verständnis wahrer Kirchenmusik beizutragen, ist Ziel dieser Studie ... Auf der Grundlage des in der zweiten Jahrhunderthälfte enorm expandierenden musikalischen Schrifttums widmet sich die Studie der Reflexion kirchenmusikalischer Sachverhalte und deren Einordnung in ideengeschichtliche Zusammenhänge." So umschreibt Jürgen Heidrich einleitend (XII f.) sein Forschungsinteresse. Gemeinhin galt oder gilt die Zeit nach 1750 als kirchenmusikalisch wenig relevant wenn nicht gar als Verfallszeit der Kirchenmusik. Dieser Wertung hält H. entgegen, die bisherige Forschung hätte ihr Verfallsbild aus der Gegenüberstellung zu J. S. Bach gewonnen (angefangen bei der Bach-Rezeption und den Restaurationsbestrebungen des 19. Jh.s und fortwirkend bis zur kirchenmusikalischen Erneuerungsbewegung des 20. Jh.s), statt die so genannte "Verfallsperiode" ideengeschichtlich aus sich selbst heraus zu sehen. "Das Verdikt von der Verfallsperiode gründet sich ... gleichermaßen auf liturgisch-dogmatische, auf hymnologische Kategorien, auf musikästhetische Entwicklungen und personalstilistische Verhältnisse." (5) Dennoch zeigt das einleitende Kapitel ("Protestantische Kirchenmusik in der Historiographie"), dass neben einem universalgeschichtlichen resp. musikalischen Fortschrittsbewusstsein die Zeitzeugen des 18. Jh.s z. T. selbst ein Gefühl für den Niedergang der Kirchenmusik besaßen, sei es mit Blick auf deren sozialinstitutionelle Rahmenbedingungen (Verfall der Schulkantoreien, Organistenämter und Stadtmusikanten - vgl. 8 f.), sei es in Form einer kritischen Bewertung zunehmend weltlich-theatralischer Kirchenmusik.

Das 2. Kapitel ("Rezeption altitalienischer Vokalmusik im protestantischen Deutschland") stellt im Kontext damaliger "Italiensehnsucht und bürgerlicher Reisekultur" die paradigmatische Wirkung vor allem zweier Werke dar, des "Miserere" von Allegri und des "Stabat mater" von Pergolesi. Vom "Miserere" mit seiner legendären Aufführungstradition in der Cappella Sistina ging die Idealisierung des a-cappella-Klanges und der darin entdeckten kunstvollen Simplizität aus. Das "Stabat mater" wurde demgegenüber sehr viel kritischer betrachtet, vor allem seines der protestantischen Tradition fremden Textes wegen, aber auch mit Blick auf vermeintliche musikalisch-satztechnische Schwächen. Es wurde zwar, auch in bearbeiteter Form (die früheste deutsche Bearbeitung stammt bekanntlich von J. S. Bach), in Deutschland vielfach aufgeführt, wurde aber gerade als Gegenstand kontroverser Diskussion zum "empfindsamen" Gegenpol des a-cappella-Ideals, an dem sich "die Auseinandersetzung um die moderne Praxis orchesterbegleiteter Gattungen mit allen textlichen und musikalisch-stilistischen Implikationen" (84) festmachte. - Eine in sich geschlossene und einheitliche Vorstellung von wahrer Kirchenmusik kann das von H. in großer Breite herangezogene Quellenmaterial nicht vermitteln: Konfessionelles Denken stand aufgeklärter, überkonfessioneller Liberalität und allgemein-religiösem Empfinden gegenüber, Traditionen musikalischer Gelehrsamkeit stießen auf das Ideal einer dem Laien zugänglichen Verständlichkeit, höchst unterschiedlich waren die musikalisch-stilistischen Präferenzen zwischen romantisierender Historisierung des "Alten" und einer zeitgemäßen Modernität.

Im Zentrum der Studie stehen drei aufeinander bezogene und vornehmlich auf Berlin konzentrierte Kapitel zu C. Fr. Chr. Fasch, zum Proselytenstreit und konfessionellen Spannungen der 1780er Jahre und zu J. Fr. Reichardt. Faschs berühmte 16-stimmige Messe (die in Wahrheit weder eine a-cappella-Komposition noch eine vollständige Messvertonung, sondern eine lutherische "Kurzmesse" darstellt) wurde vom Komponisten selbst als alle früheren eigenen Arbeiten entwertende Schöpfung angesehen und vom publizistisch eifrigen Reichardt als Muster wahrer Kirchenmusik öffentlich gemacht. Hier geht H. auch auf weitere Formen protestantischer Messvertonungen der Zeit und auf das nicht weniger berühmte "Heilig" von C. Ph. E. Bach ein. Kommt H. im Blick auf Fasch zu der Überzeugung, dass dessen Messe weniger gottesdienstlich-liturgisch als vielmehr allgemein konzertant intendiert und zugleich wegen ihres katholischen Hintergrundes sozusagen zwischen die Fronten konfessioneller Spannungen (mit der Angst vor katholischer Infiltration der evangelischen Kirchenmusik) geraten sei, so thematisiert er leider eher randläufig ein wohl zentrales Problem damaliger Kirchenmusik: ihre Stellung zwischen Gottesdienst und Konzertsaal (119 ff.).

Die Bedeutung J. Fr. Reichardts als eines herausragenden Ideenträgers damaliger Kirchenmusikdiskussion ist von der Forschung nie bestritten worden. H. möchte das Bild Reichardts präzisieren, indem er dessen persönliche Beziehungen zu J. K. Lavater und Fr. G. Klopstock hervorhebt. "Mit deren Wirken verbinden sich solche Phänomene wie irrationale Religiosität und naive Frömmigkeit einerseits, sowie pathetische Artifizialität und hymnisch-weihevolle Erhabenheit andererseits, damit geistige Motive, durch die Reichardts Kirchenmusikanschauung unverkennbar beeinflußt ist." (152) Führte der Einfluss Lavaters zu einer Anlehnung an die "Vorstellungen des philanthropischen Religionsbegriffes" (171), zum volkserzieherischen Anspruch einer sittlich-moralischen Verbesserung (vgl. 155) und infolgedessen zum Ideal liedmäßiger Simplizität und "reiner" akkordischer Setzweise (Reichardt rühmte die frühreformatorische Choralpraxis ebenso wie den selbst erlebten mehrstimmigen Gemeindegesang in Zürich), so schlug sich Klopstocks Einfluss in Reichardts poetologischen Ideen nieder (vgl. 171 ff.), ohne dass die Spannungen zwischen Klopstockscher Sublimität und den genannten musikalischen Referenzen von Reichardt wirklich vermittelt worden wären. Und trotz der unbestreitbaren Vorrangstellung, die Reichardts Kirchenmusikanschauung publizistisch eingenommen hat, sind seine Ideen von seinen eigenen Kompositionen keineswegs eingelöst worden - er war vorrangig Lied- und Opernkomponist.

Am Beispiel der "Oratorientheorie um 1780" (184 ff.) stellt H. sodann die Widersprüchlichkeit zwischen lyrischen und dramatisch-theatralischen Kirchenmusikkonzeptionen dar. Das abschließende Kapitel stellt die Frage "Was ist wahre Kirchenmusik?". H. spiegelt hier die Uneinheitlichkeit der damaligen Kirchenmusikanschauung in der Uneinheitlichkeit des ästhetischen Wahrheitsbegriffes bis hin zu dessen fast inflationär entwerteten Verwendung.

Das Verdienst von H.s Studie, die im Wintersemester 1998/ 99 in Göttingen als Habilitationsschrift angenommen wurde, liegt kurz gesagt in ihrer Themenstellung selbst: Mit dieser gründlichen Berücksichtigung zeitgenössischer Quellen ist die Kirchenmusikanschauung nach 1750 bislang nicht dargestellt worden. Gleichwohl bleiben Wünsche offen: Die Konturen der damaligen Diskussion hätten an Schärfe gewinnen können, wenn einerseits die Kontrastfolie resp. das Erbe der kirchenmusikalischen Ideen der ersten Hälfte des Jahrhunderts wenigstens ansatzweise berücksichtigt, andererseits die Anschauungen zur wahren Kirchenmusik in den Kontext der Theologie und der Gottesdienstanschauungen der Zeit selbst gestellt und schließlich die damals ganz neuartige (musik-) ästhetische Diskussion einbezogen worden wäre. Der Zwiespalt in der Kirchenmusikanschauung entsprang neben den heterogenen Geistesströmungen doch wohl auch einer neuartigen Konfliktsituation: Während auf der einen Seite die liturgisch-gottesdienstliche Notwendigkeit der Kirchenmusik in Frage gestellt wurde, war auf der anderen Seite ihr autonomer ästhetischer Rang zweifelhaft. Dass die zweite Hälfte des 18. Jh.s um eine eigene Kirchenmusikanschauung gerungen hat (das Hauptinteresse der musikästhetischen Diskussion lag gleichwohl nicht bei der Kirchenmusik), belegt die Studie kenntnisreich. Ob damit die einleitend geäußerte Absicht eines besseren Verständnisses wahrer Kirchenmusik eingelöst ist, muss der Leser entscheiden. Und ob damit eine "Ehrenrettung" dieser "Verfallsperiode" gelingen kann, müsste sich auch an der Musik selbst erweisen - hier hätten exemplarische Analysen statt der wenigen und eher vordergründigen musikalischen Verlaufsbeschreibungen, auf die sich H. beschränkt, dem Gesamtbild gut getan. In der Denkfigur der Simplizität und der Forderung nach allgemeinverständlicher Kirchenmusik liegen indes Konfliktpotentiale, die auch unserer Gegenwart hinlänglich vertraut sind.