Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Januar/2003

Spalte:

61–63

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Roy, Martin

Titel/Untertitel:

Luther in der DDR. Zum Wandel des Lutherbildes in der DDR-Geschichtsschreibung. Mit einer dokumentarischen Reproduktion.

Verlag:

Bochum: Verlag Dr. Dieter Winkler 2000. 375 S. gr.8 = Studien zur Wissenschaftsgeschichte, 1. Kart. ¬ 45,55. ISBN 3-930083-24-8.

Rezensent:

Martin Brecht

Die DDR insgesamt konnte nicht umhin, sich zu Luther als einer der bedeutendsten historischen Gestalten ihres Territoriums irgendwie zu verhalten. Das ist ein weites Feld, weshalb sich die vorliegende Untersuchung auf die DDR-Geschichtsschreibung beschränkt. Es handelt sich dabei um ein spannendes, in manchem fast noch zu frisches Kapitel der Zeitgeschichte, das Auswirkungen und Mitwirkende über die DDR und ihren Apparat hinaus hatte.

Der Autor nimmt hauptsächlich die offiziellen Positionen in den Blick. Die erhebliche Bedeutung des Themas beispielsweise für die evangelischen Kirchen oder die Geschichts- und Kirchengeschichtsforschung in der Bundesrepublik bleiben für ihn allenfalls am Rand. Die offizielle DDR-Historiographie war stramm marxistisch-leninistisch ideologisiert und hatte sich an diesen Vorgaben auszurichten. Wer immer mit ihr zu tun hatte, musste dies ins Kalkül ziehen. Die Untersuchung macht vorweg bewusst, dass die Diskussion um die Qualifizierung der DDR-Geschichtswissenschaft nach wie vor im Fluss und dabei weiterhin auch ideologisch beeinflusst ist. Die Informationen über die Entwicklung des allgemeinen DDR-Geschichtsbildes bringen eine wichtige Voraussetzung für das Verständnis der speziellen Problematik bei. Gleiches gilt für die Beschreibung der Organisation der historischen Forschung sowie für die ideologische Fixierung der historischen Terminologie. Zutreffend dürfte die Annahme sein, dass in Blick auf die historische Arbeit ein Interessengemenge zwischen konkreter Forschung, Methodologie und politischen Intentionen der SED bestand. Danach bestimmten sich nicht zuletzt die Möglichkeiten der Zusammenarbeit und des Dialogs mit außerhalb. Die Nötigung zur Beschäftigung mit Luther lag darin, dass seine anhaltende Wirkung erklärt und gedeutet werden musste.

Erst mit dem 6. Abschnitt Frühe Lutherbilder in der DDR und ihre Vorläufer (73) kommt die Arbeit zum eigentlichen Thema. Als die ursprüngliche Autorität galt Friedrich Engels, nach dem Luther die Revolution ausgelöst habe, dann aber zum Handlanger der Fürsten geworden sei. Wer über diese Konzeption hinauswollte, musste sich auf fortentwickelte spätere Notizen von Engels berufen. Großen Einfluss erlangte Alfred Meusels Thomas Müntzer und seine Zeit (1952) mit seiner überwiegend abschätzigen Beurteilung Luthers, obwohl es wegen seiner mangelnden Übereinstimmung mit dem sozialistischen Geschichtsbild und dazu seiner schlampigen Arbeitsweise auf die Dauer kaum haltbar war. Zudem gab es Forderungen nach einer positiveren Bewertung Luthers. Zum "wissenschaftspolitisch bedeutendsten Historiker der DDR in den 50er und 60er Jahren" wurde Leo Stern (Halle). Reformation und Humanismus galten ihm als die gegen den Feudalismus gerichteten geistigen Hauptströmungen, wobei aber der Theologe Luther zunächst gegenüber dem Humanisten Melanchthon zurückgesetzt wurde. Immerhin verschaffte die Unterscheidung zwischen objektiver Wirkung und subjektiver Intention bei Luther der Würdigung einen gewissen Spielraum. Entsprechend der Höherschätzung Melanchthons wurde das Melanchthonjubiläum 1960 ausgerichtet, was sich allerdings nicht ohne nachträgliche Komplikationen durchführen ließ. Eine völlige Vereinheitlichung des Geschichtsbildes gab es in der DDR zunächst noch nicht.

Unter der Führung von Max Steinmetz (Leipzig) wurde 1960 die Arbeitsgemeinschaft gebildet, die auf Grund marxistisch-leninistischer Methode die neue Konzeption der "frühbürgerlichen Revolution" mit den beiden Elementen Reformation und Bauernkrieg entwickelte und vertrat. Luther wurde dabei als Vertreter des Bürgertums begriffen, wobei seine Theologie praktisch ausgeklammert blieb. Die Bewertung Luthers wurde zunehmend positiver.

Im Vorfeld des Reformationsjubiläums 1967 machte sich eine Konkurrenz der Arbeitsgruppen Stern und Steinmetz bemerkbar. Der SED ging es um die Vereinnahmung der Reformationsstätten als Nationalsymbole für die DDR. Die Biographie von Gerhard Zschäbitz (Leipzig) Martin Luther. Größe und Grenze (1967) löste erstaunlicherweise erstmals Luthers reformatorische Erkenntnis aus dem marxistisch-leninistischen Erklärungszusammenhang und parallelisierte sie lediglich mit den akuten gesellschaftlichen Prozessen. Er stellte damit seine Historikerkollegen (Vogler, Steinmetz und Brendler) nicht ohne weiteres zufrieden. Vor allem Steinmetz suchte mit der Zuordnung der frühbürgerlichen Revolution zur Geschichte der DDR die Meinungsführerschaft in der Wissenschaft wie in der Partei zu erlangen. Eine Beteiligung der EKD an den Feiern war von daher unerwünscht. Die Wahrnehmung der DDR-Geschichtsforschung im Westen war keineswegs einheitlich und dürfte die herrschende Ideologisierung zumeist unterschätzt haben.

Merkwürdigerweise geht die Untersuchung auf das Bauernkriegsjubiläum 1975 gar nicht ein, obwohl es allerhand an Austausch und bereits auch an Annäherung zwischen Ost und West und umgekehrt mit sich gebracht hat. Hingegen wird die Luther-Ehrung 1983 breit erörtert. Der 1978 gebildeten Koordinierungsgruppe gehörten alle etablierten Frühneuzeithistoriker der DDR an. Schon vorher hatten sich die DDR-Kirchen zum Zwecke "einer sinnvollen Koordinierung" in die Vorbereitungen einzuschalten versucht. Zudem machte sich das außerhalb der DDR bestehende Interesse am Lutherjubiläum bereits bemerkbar, dem propagandistisch mit einer geeigneten Konzeption Rechnung getragen werden musste. Die Ausarbeitung der "wissenschaftlichen Konzeption" fiel dem Zentralinstitut für Geschichte und damit de facto Gerhard Brendler zu, dem die politische Komplexität der Aufgabe sehr wohl bewusst gewesen zu sein scheint. Auf ihn geht wohl auch der Entwurf der "Thesen über Martin Luther" vom April 1979 zurück, der in seiner Entwicklung dann gelegentlich geradezu scholastisch allerhand Opportunitäten Rechnung tragen musste. Bei der Vertretung dieser Thesen erwiesen sich die DDR-Historiker freilich nicht als besonders dialogfähig. An Brendlers Biographie Martin Luther. Theologie und Revolution (1983) war die relativ unabhängige Einbeziehung der Theologie auffallend, deren Ergebnis angeblich mit der Idee des Kommunismus koinzidiere. Wegen des Beharrens auf seinem bürgerlichen Klassenstandpunkt sei Luther der inneren Logik seiner Theologie nicht gefolgt. Der Langzeitwirkung seiner Obrigkeitstheologie habe dies jedoch keinen Abbruch getan.

Die Untersuchung kann belegen, in welchem Ausmaß Brendler ungesteuert eklektisch von sekundärer Literatur abhängig ist, die in das ideologische Schema eingepasst wird, ohne dass eigene Forschungen vorhanden waren. (Ursprünglich las man Brendler vom Westen aus freilich auch daraufhin, welche Impulse er aufnahm und einzubeziehen vermochte. Über die Unzulänglichkeiten wurde höflich geschwiegen. Erst Brendlers Müntzerbiographie von 1989 erfuhr dann den fälligen Widerspruch.) Gegen Brendlers Thesen sowie seine Lutherbiographie meldete sich allerhand Kritik von seinen Kollegen sowie von linken Theologen. So bemängelte Adolf Laube die Vernachlässigung der Wechselwirkung zwischen Luther und den gesellschaftlichen Entwicklungen, auch Steinmetz und Günter Vogler waren nicht zufrie- den. Beim wissenschaftlichen Luther-Kongress 1983 in Halle waren die DDR-Historiker jedoch um Einheitlichkeit und ein gutes Erscheinungsbild bemüht. Intern dürften sich die Wissenschaftler der Abhängigkeit ihrer Konzeption von der Parteiideologie bewusst gewesen sein und diese auch weithin bejaht haben.

Interessant sind die kommentarlos gebotenen, obwohl keinesweg homogenen rückblickenden Interviews mit den beteiligten Historikern, Funktionären, aber auch mit Kirchenhistorikern (253-283). Die abschließende Auswertung kann der Qualität der offiziellen DDR-Lutherforschung kein gutes Zeugnis ausstellen. Dies dürfte weithin zutreffen, aber gleichwohl nicht die volle Wahrheit sein. Es ging eben doch nicht alles auf in der fatalen Liaison der Wissenschaft mit der Partei. Das konnte man beispielsweise im Kontakt mit Steinmetz überraschend erfahren. Der auch von der DDR ausgehende Impuls zur Befassung mit der Sozialgeschichte war fällig und fruchtbar bis hin zur Erschließung neuen Quellenmaterials. Die Kontakte mit der benachbarten Kirchengeschichtsforschung sowie mit der westlichen Wissenschaft ließen alle Beteiligten nicht unverändert. In diesen Zusammenhang gehört auch die von der Untersuchung nicht berücksichtigte Publikation nicht systemkonformer Literatur und deren Zensur. Schließlich war nicht nur Luther den Bedingungen der DDR exponiert, sondern auch die DDR der Gewalt der Sprache und der Sache Luthers. Daraus ergaben sich Nuancen, Schattierungen, partielle Verständigungen, die das Thema nun doch nicht einseitig negativ und jedenfalls als faszinierende Paradigma erscheinen lassen.