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Ausgabe:

Januar/2003

Spalte:

60 f

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Reinhard, Wolfgang

Titel/Untertitel:

Ausgewählte Abhandlungen.

Verlag:

Berlin: Duncker & Humblot 1997. 463 S. gr.8 = Historische Forschungen, 60. Kart. ¬ 76,00. ISBN 3-428-08754-2.

Rezensent:

Luise Schorn-Schütte

Diese Rezension muss mit einem Widerspruch beginnen, einer Form der wissenschaftlichen Kommunikation also, die der Vf. der Abhandlungen liebt und meisterlich beherrscht: Reinhard bezeichnet sich zwar in der Einleitung als wissenschaftlichen Einzelgänger, im Sinne einer Prägung unseres Faches aber ist er dies in der Tat nicht! Nur wenige Frühneuzeithistoriker des deutschsprachigen Raumes haben in den letzten 25 Jahren mit einem so präzisen methodischen Zugriff und mit so vielfältigen inhaltlichen Neuansätzen für unser Fach so wegweisend gewirkt wie eben R. Was aber ist prägender im Sinne von schulbildend als solche Wirkung? Die ausgewählten Abhandlungen, anlässlich seines 60. Geburtstages im April 1997 erschienen, zeigen wichtige Stationen der Reinhardschen Anregungen.

Die fünf Abteilungen, in die die Sammlung gegliedert ist, sind mit den wissenschaftlichen Schwerpunkten des Freiburger Historikers identisch: zum ersten die Erforschung der Geschichte der frühneuzeitlichen römischen Kirche unter dem Aspekt ihres Vorbildcharakters für die "moderne Staatsbildung" ebenso wie unter dem Aspekt ihres Vorbildcharakters für die Entwicklung von Patronage und personalen Netzwerken (Verflechtungen), die für die europäische Frühneuzeit konstitutiv gewesen sind; zum zweiten der Entwurf des Deutungsmusters der Konfessionalisierung für die frühneuzeitlichen Sozialordnungen methodisch fußend auf dem gewichtigen Ansatz der Verbindung von Sozial- und Wirtschafts- mit Kirchengeschichtsschreibung; zum dritten die Betrachtung des Werdens des modernen Staates unter finanz-, wirtschafts- und verfassungsgeschichtlichen Aspekten, die jüngst in R.s magistraler Arbeit "Geschichte der Staatsgewalt" (1999) mündete; zum vierten die Erschließung methodisch neuer Wege u. a. in Gestalt der Verflechtungsanalyse aber auch der wissenschaftsgeschichtlichen Reflexion der disziplinären Traditionen (u. a. zu den Ursprüngen des Historismus in der Geschichtsschreibung zur Reformation); schließlich fünftens die Erforschung der Geschichte der europäischen Expansion in der Vormoderne, die der nachwachsenden Historikergeneration deutlich gemacht hat, wie eng die Verbindungen zwischen Mission, Kulturkontakt und Staatsexpansion seit dem 16. Jh. waren und wie gewichtig sie für das Verständnis der zeitgenössischen Globalisierungsprozesse sind.

Konfessionalisierungs- und Verflechtungsthese ebenso wie die These vom Wachsen des modernen Staates u. a. durch Elitendifferenzierung nach dem Muster der römisch-katholischen Kirche sind inzwischen unverzichtbare Bestandteile der Geschichtsschreibung zur europäischen Frühneuzeit geworden. Es ist ein Markenzeichen des Historikers R., dass er diese Deutungshoheit durch skeptische Nachfragen durchaus in Frage zu stellen und zu differenzieren bereit ist. Es wäre gerade deshalb gut gewesen, wenn einige der jüngeren Aufsätze zur Konfessionalisierungsdebatte hier ebenfalls wieder abgedruckt worden wären. Denn die noch sehr starre Sichtweise des Beitrages von 1977 ist inzwischen durch den Verfasser selbst gewinnbringend aufgelockert worden. (vgl. z. B. ders., Sozialdisziplinierung - Konfessionalisierung - Modernisierung. Ein historiographischer Diskurs, in: N. Boskovska/Leimgruber [Hrsg.], Die Frühe Neuzeit in der Geschichtswissenschaft, Paderborn 1997), nicht zuletzt deshalb, weil die eigene Zeitgenossenschaft in die Reflexion der eigenen Forschungen einbezogen wurde.

Das gilt ebenso für das andere große Thema des modernen Staatswachstums, das R. in seinem hier abgedruckten Aufsatz von 1992 präludierte. Dass dieser Prozess nicht jener lineare "Aufstieg" vom Chaos zur Ordnung des neuzeitlichen Machtstaates gewesen ist, wie es in den Schulbüchern noch immer zu finden ist, ist ein gewichtiges Ergebnis der R.schen Forschungen. Dennoch bleibt er bei der Aussage, dass es Wachstum war, das zu immer größerer Ordnungskompetenz und -kraft geführt habe. Die Widersprüche, die sich dagegen entfaltet haben und den Aufstieg zu einem aufhaltsamen haben werden lassen, hat R. stets als Teil des Gesamtwachsens zu charakterisieren versucht. Dies war eine Anregung, die durch andere Historiker auf ihre Weise aufgenommen und in neue Richtungen fortgeführt worden ist. Herrschaft muss sich nicht notwendigerweise im modernen Staat organisieren, die Kolonialgeschichte, die R. erforscht hat, zeigt diese Variationsmöglichkeiten. Herrschaft war auch Beratung, war Teil eines Kommunikationsprozesses ohne strikt vorgegebene Formen der Institutionalisierung.

Der Gewinn, den jeder Leser dieser Sammlung haben wird, besteht darin, dass bekannte Thesen "gegen den Strich" gebürstet werden, um anregende andere Lösungen vorstellen zu können, dies zudem in gut lesbarer Form. Das wissenschaftliche Prinzip des "Widerspruchs", das R. zu dem seinen gemacht hat, war und ist, so kann geschlossen werden, äußerst produktiv.