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Ausgabe:

Januar/2003

Spalte:

54–56

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Heinecke, Herbert

Titel/Untertitel:

Konfession und Politik in der DDR. Das Wechselverhältnis von Kirche und Staat im Vergleich zwischen evangelischer und katholischer Kirche.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2002. 508 S. 8. Kart. ¬ 39,00. ISBN 3-374-01960-9.

Rezensent:

Sebastian Engelbrecht

Herbert Heinecke beweist mit seiner Studie in mehrfacher Hinsicht Mut. Erstens siedelt der Politologe seine konfessionsvergleichende Dissertation über die Kirchen in der DDR im Grenzbereich von Religionssoziologie, Theologie, Kirchengeschichte und Politikwissenschaft an - ein interdisziplinärer Ansatz, mit dem er schwerlich den Ansprüchen aller Fächer genügen wird. Zweitens spannt er einen weiten Bogen, indem er die ganze Geschichte von Kirche und Staat in der DDR verstehen will, also die Geschichte der evangelischen und katholischen Kirche von 1949 bis 1989. Und drittens knüpft er an das Vermächtnis zweier großer Kirchenhistoriker an, denen er die Anregung zu einer konfessionsübergreifenden Fragestellung verdankt - womit die Erwartungen an seine Studie nicht geringer werden.

H. ist sich des "Risikos" bewusst, das er eingeht, indem er, Kurt Nowak folgend, die "Herausforderung einer konfessionsübergreifenden Darstellung" annimmt. Zugleich beruft er sich auf Klaus Scholders bikonfessionelle Untersuchungen zur Geschichte der Kirchen in der Zeit des Nationalsozialismus.

H. wurde mit der Arbeit im Jahr 2001 an der Universität Magdeburg promoviert. Systematisch vergleicht er, wie die evangelische und katholische Kirche sich in ihren institutionellen Erscheinungsformen zum Staat verhielten und mit welcher Kirchenpolitik der Staat den Kirchen begegnete.

H., heute wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Fachhochschule Magdeburg-Stendal, kommt zu dem Ergebnis, beide Kirchen hätten sich auf unterschiedliche Weise dem totalen Staat DDR verweigert. Den Unterschied sieht der Autor in der spezifischen Ausprägung dieses widerständigen Verhaltens: Die typische Eigenschaft des evangelischen kirchlichen Handelns bestand im Wandel, während das Agieren katholischer Entscheidungsträger sich durch Kontinuität auszeichnete. H. nimmt mit dieser grundlegenden Beobachtung ein analytisches Muster von Victor Conzemius in der Kirchenkampfgeschichtsschreibung auf. Danach beschäftigte sich die evangelische Kirche partiell mit einer radikalen theologischen Neubestimmung ihres Ortes in der Gesellschaft, die katholische dagegen verschanzte sich in ihren "institutionellen Bastionen".

Entsprechend habe die evangelische Kirche in der DDR die Ideologie des Sozialismus zwar mehrheitlich abgelehnt, sich aber im Laufe der Jahrzehnte auf die gesellschaftliche Praxis in der sozialistischen DDR eingestellt. Auf Grund seiner "traditionellen Kapitalismuskritik" habe der Protestantismus "geistesgeschichtliche Affinitäten" zum Sozialismus mitgebracht. Auch auf Grund dieser Voraussetzung hätten die evangelischen Bischöfe 1968 den Sozialismus auf ihre Weise definiert, nämlich als "Gestalt gerechteren Zusammenlebens". Die Evangelischen ließen sich nach H. also auf den Sozialismus als neue Realität ein, bestritten aber die Deutungshoheit von Staat und Partei, worum es sich bei diesem Sozialismus handeln sollte. Mit Hilfe einer "kontextualisierten" Theologie mischten sich evangelische Landeskirchenämter und Konsistorien, Synoden und Kirchenleitungen in den politischen Diskurs ein oder regten politische Diskussionen an.

Bei der katholischen Kirche sieht H. dagegen eine "starre Verweigerungshaltung" - sowohl gegenüber der marxistischen Ideologie als auch gegenüber der DDR-Gesellschaft. Mit politischen Äußerungen hielten sich die Bischöfe zurück - und wenn, dann sprachen sie nur bei Einstimmigkeit. Die Geschichte der katholischen Kirche in der DDR dreht sich nach der Analyse H.s um ein personales und zeitliches Zentrum: den Berliner Bischof und späteren Kardinal Alfred Bengsch, der von 1961 bis 1979 im Amt war. Als Vorsitzender der Berliner Ordinarienkonferenz habe er die situationsbezogene Reflexion der kirchlichen Existenz in der DDR verhindert und sei nicht bereit gewesen, theologische Impulse aus der Weltkirche in der DDR wirksam werden zu lassen.

Für den Staat war, so H., diese katholische Kirche berechenbar, die evangelische dagegen wegen ihrer inneren Vielfalt schwer auszuloten. Die staatlichen Kirchenpolitiker hätten versucht, sich die typischen Eigenschaften der Konfessionsrepräsentanten jeweils zunutze zu machen: Sie drängten die Katholiken vollends in die Rolle der Kirche des religiösen Kults ohne politische Bedeutung. Und sie begriffen die protestantische Vielfalt als Ansporn zu einer sogenannten "Differenzierungspolitik". Sie bemühten sich, verschiedene Kräfte innerhalb des Protestantismus auseinander zu dividieren. Zum Beispiel, indem sie einzelne Landeskirchen förderten und andere strenger anfassten oder Bündnisse mit marxistischen Sympathisanten in der Kirche eingingen.

H. fasst den Forschungskonsens über weite Strecken gut zusammen. Sein Buch bietet einen weiten, fast enzyklopädischen Überblick über die Geschichte der Kirchen in der DDR. Positiv hervorzuheben ist vor allem, dass H. gegenüber dem Leser Rechenschaft über seine historische Methode ablegt. Auf Grund seiner methodischen Überlegungen gelangt er zu einem "Analyseraster", das die historisch-politischen Traditionen der Kirchen, ihre Organisationsstruktur und ihr Selbstverständnis berücksichtigt. Das streng systematische Vorgehen des Autors sucht in der DDR-Kirchengeschichtsschreibung ihresgleichen. H. leitet den Leser konsequent und übersichtlich durch seine Studie. Dabei steht er aber in der Gefahr, einem Schematismus zu verfallen und dabei relevante Fragen aus den Augen zu verlieren. Mit anderen Worten: H. ordnet den Forschungsstand zur DDR-Geschichte neu und gibt ein Musterbeispiel für methodisch reflektierte Forschung, seine vergleichenden Kategorisierungen bieten aber kaum einen substantiellen Erkenntnisfortschritt. Was er an historischen Unterschieden der beiden kirchlichen Existenzen im Gegenüber zum Staat aufzählt, ist aus der Literatur bekannt. Dafür bleiben entscheidene Fragen offen: Welchem Ziel dient der interdisziplinäre Vergleich der Konfessionen - über die erhoffte historische Differenzierung hinaus? Ist der Konfessionsvergleich im Verhältnis 1:1 im Blick auf ein so eindeutig protestantisch dominiertes Gebiet überhaupt sinnvoll und zulässig? Und wie wirksam waren die beiden Kirchen in ihrer jeweils unterschiedlich ausgeprägten Verweigerungshaltung?

H. selbst bezeichnet seine Untersuchung mit ihrer "spezifischen Herangehensweise und Systematik" als "ertragreich". Der Ertrag besteht allerdings mehr in der vorgeführten Form als in weiterführenden historischen Erkenntnissen.