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Ausgabe:

Januar/2003

Spalte:

48–52

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Seelig, Gerald

Titel/Untertitel:

Religionsgeschichtliche Methode in Vergangenheit und Gegenwart. Studien zur Geschichte und Methode des religionsgeschichtlichen Vergleichs in der neutestamentlichen Wissenschaft.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2001. 354 S. gr.8 = Arbeiten zur Bibel und ihrer Geschichte, 7. Geb. ¬ 38,50. ISBN 3-374-01909-9.

Rezensent:

Roland Deines

Die Hallenser neutestamentliche Dissertation von Gerald Seelig wurde anfangs von Georg Strecker und nach dessen Tod von Udo Schnelle betreut und gehört mit dem mit den beiden Namen verbundenen Projekt des "Neuen Wettstein" zusammen, an dem S. von 1986-1999 mitarbeitete. Angeregt durch dieses Projekt entstand die Arbeit mit dem Ziel, für den religionsgeschichtlichen Vergleich zwischen dem NT und den Texten der religiösen Umwelt "einen Orientierungsrahmen zu schaffen" und zugleich ein "die praktische Arbeit strukturierendes Instrumentarium für den religionsgeschichtlichen Vergleich im Rahmen neutestamentlicher Exegese zu erarbeiten" (17). Dass eine hermeneutisch und methodisch kritisch Bilanz ziehende Arbeit immer wieder nötig ist, dürfte außer Zweifel stehen, zumal in einer Zeit, in der das zum Verständnis des NT herangezogene Material eine gewaltige Ausweitung erfährt, ohne dass über eine historisch plausible Vermittlung immer ausreichend reflektiert würde.

Die Arbeit von S. hat drei klar abgegrenzte Teile: Der erste beschreibt das Programm des "Novum Testamentum Graecum" des aus Basel stammenden, von dort aber vertriebenen Gelehrten Johann Jakob Wettstein (1693-1754). Dieser hatte seiner textkritischen Ausgabe des Neuen Testaments einen umfangreichen Anmerkungsapparat beigegeben, mit dem der historische, theologische und sprachliche Hintergrund der betreffenden Stelle erhellt werden sollte, um im Falle von textkritischen Abweichungen in der Lage zu sein, eine sachgemäße Entscheidung zu treffen. Diese Parallelensammlung wuchs in Umfang und Bedeutung jedoch weit über das ursprüngliche Ziel hinaus. Wenn heute noch von der Bedeutung des "Wettstein" die Rede ist (und das Erscheinen des "Neuen Wettstein" stellt schon im Namen eine Hommage an den "alten" dar), basiert diese ausschließlich auf der Bedeutung der Parallelensammlung.

Diese umfasst über 30.000 Stellen aus der gesamten griechischen und lateinischen Literatur des Altertums bis hin zum frühen Mittelalter, einschließlich der biblischen, frühchristlichen, patristischen und rabbinischen Quellen. Was S. leider nicht bietet (auch in der Literatur über Wettstein scheint sich darüber nichts zu finden), ist eine zumindest ungefähre Statistik, die Auskunft darüber gibt, wie sich die Parallelen aus über 175 Autoren, die Wettstein in 40 Jahren unermüdlicher Lektüre auswertete, prozentual auf die genannten Textgruppen verteilen. Der "Wettstein" stellt den Höhepunkt der damals in Blüte stehenden Observationenliteratur dar, deren Ertrag maßgeblich durch ihn der Gegenwart vermittelt wurde.

Wettstein hatte seiner Ausgabe im Anhang darüber hinaus eine knappe Abhandlung "De Interpretatione Novi Testamenti" beigegeben, die S. ausführlich bespricht und aus der deutlich wird, dass manche neue Methode schon bei Wettstein in nuce angelegt ist (vgl. 66.75 m. Anm. 212) Ausgehend von diesen Regeln beschreibt S. "Wettsteins Bibelverständnis", das sich durch eine scharfe Trennung des AT vom NT ebenso auszeichnet wie durch die Prämisse, dass bei der Auslegung des NT keine Sonderhermeneutik Verwendung finden dürfe (79). Die Vernunftwahrheit gilt als Maßstab für die Sachkritik (89). Was als unvernünftig erkannt wurde, erklärte Wettstein mit Hilfe der Akkommodationstheorie, d. h. im Hintergrund steht das unhistorische Ideal einer vollkommenen heiligen Schrift, so dass die Schwächen der real vorhandenen erklärt werden müssen. Das gilt insbesondere im Hinblick auf den religionsgeschichtlichen Vergleich, als dessen Wegbereiter der Vf. Wettstein versteht (110-121). Allein schon die pure Masse der in seinen Anmerkungen verbuchten Parallelen aus dem Bereich der Religion zwangen ihn (bzw. alle, die sein Werk gebrauchten), sich mit den Übereinstimmungen etwa im Bereich der Wunder oder der supranaturalen Herkunft Jesu in Analogie zu griechischen Halbgöttern auseinander zu setzen. S. legt Wert darauf, dass die Unterscheidung zwischen Analogie und Genealogie im Hinblick auf ähnliche Stoffe bei Wettstein "bereits angelegt" ist (117.119), da dieser einen genetischen Zusammenhang zwischen Jesu Wundern und denen antiker Wundertäter ausdrücklich verneinte. Aus diesem Grund gehört Wettstein nach S. weniger zu den Vorläufern der Religionsgeschichtlichen Schule als vielmehr zu denen des in Leipzig zu Beginn des 20. Jh.s initiierten "Corpus Hellenisticum"-Projekts (CH).

Dem CH, einem von dem Neutestamentler Georg Heinrici (1844-1915) begonnenen Unternehmen mit dem Ziel, "eine möglichst vollständige Sammlung der Parallelen für das Neue Testament herzustellen, welche in zeitgemäßer Weise ... die Dienste leistet, die im 18. Jahrhundert Wettstein ... gewährte" (Heinrici 1915, zit. 123), ist der 2. Hauptteil gewidmet. Die Anknüpfung des CH an Wettstein ergibt sich aus dem Zitat. Der neue Name verweist dagegen auf die veränderte Forschungssituation, die von der Entdeckung des Hellenismus als einer eigenen Epoche und den Herausforderungen durch die im engeren Sinne religionsgeschichtliche Schule geprägt ist, deren Methode in erster Linie genealogisch ausgerichtet war. Methodisch partizipierte das CH an der klassischen Philologie. Die Preisgabe einer gesonderten Philologia sacra auf theologischer Seite ermöglichte diese Annäherung ebenso wie das neu entstandene Interesse der Philologie an der Koine, zu deren wichtigsten Literaturwerken die Septuaginta (und das Neue Testament) zählen. S. belegt, dass die religionsgeschichtliche Schule zu ihrer Zeit kein Monopol auf die religionsgeschichtliche Arbeitsweise bzw. das Adjektiv "religionsgeschichtlich" besaß und darum auch nicht so einzig modern oder progressiv war, wie es dem populären Bild vom Gang der neutestamentlichen Wissenschaftsgeschichte entspricht. Dazu sei es nur gekommen, weil infolge des Einflusses von Bultmann allein diese Richtung eine erkennbare Fortsetzung nach dem 2. Weltkrieg fand (vgl. 228-230). S. hebt dagegen mit Recht hervor, dass der religionsgeschichtliche Vergleich von unterschiedlichen Prämissen her betrieben worden ist und werden kann.

Ein wichtiges Ergebnis des 2. Hauptteils ist darum die Herausstreichung der religionsvergleichenden Forschung, wie sie u.a. in Leipzig unabhängig und methodisch selbständig von der Gruppe um Gunkel und Bousset betrieben wurde. Das Hauptinteresse der Leipziger war, "die biblischen Religionen gegenüber verwandten religiösen Erscheinungen schärfer zu profilieren". Damit standen sie in ausgesprochenem Gegensatz zu den Ableitungstheorien und der kausal-genetischen Methode der religionsgeschichtlichen Schule (153). An die Stelle der Ableitung tritt die Analogie (158-172), doch bleibt bei beiden Richtungen als Grundproblem bestehen, dass nur das Originale und Unabgeleitete (bzw. das Ursprüngliche) als wirklich wertvoll gilt (vgl. 156.164 f.167.180.225 f.231 f. u. ö.), was S. zu wenig deutlich macht (vgl. immerhin 247 f.259). Auch das Hellenismus-Verständnis Heinricis und das daraus abgeleitete Verhältnis von Christentum und Hellenismus ist zu schematisch (vgl. etwa 177: das älteste Christentum sei ohne jeden Kontakt mit der hellenistischen Kultur als rein innerjüdische Bewegung entstanden) im Sinne eines "Schlüssel-Schloß-Prinzip(s): Das Christentum deckt exakt die Defizite der hellenistischen Kultur, es leistet genau das, was die hellenistische Kultur, trotz mancher Bestrebungen, nicht zu leisten vermocht hat" (189; vgl. auch das Heinrici-Zitat 185 f.). S. weist auf diese dogmatische Voreingenommenheit zwar hin (190; vgl. 233 f.), aber diese ansatzweise Kritik wird nur selten fruchtbar gemacht, auch nicht im dritten, methodischen Teil.

Das ist das etwas Enttäuschende an dieser Arbeit, dass es ihr in den historischen Teilen nicht gelingt (bzw. nur selten überhaupt versucht wird), eine Brücke zur gegenwärtigen Diskussion zu schlagen. So wird zwar das antiquarische Interesse derer befriedigt, die wissen wollen, welchen Weg der religionsgeschichtliche Vergleich in der Vergangenheit genommen hat (darüber hinaus erfährt man Vieles über die behandelten Autoren), aber die Möglichkeit, diese Autoren in ein "Gespräch" über die Zeiten hinweg mit ihren gegenwärtigen Kollegen zu bringen, wird nicht ausgeschöpft. Das zeigt sich beispielsweise im 2. Hauptteil, wo zwar ausführlich die Vor- und Frühgeschichte des CH und seiner ersten Mitarbeiter, Interessenten und Kritiker (u. a. W. Heitmüller, C. Clemen, E. v. Dobschütz, H. Lietzmann, A. Deißmann) beschrieben wird (193-234), aber weder die daraus hervorgegangene Arbeit am CH in der zweiten Hälfte des 20. Jh.s (maßgeblich N. Walter, G. Delling, W. C. van Unnik, P. W. van der Horst, G. Mussies, H. D. Betz) noch das Unternehmen des "Neuen Wettstein", die ja beide direkt aus dem CH heraus entstanden sind, damit in Beziehung gesetzt werden. Auch im 3. Hauptteil wird auf Beispiele aus diesem Bereich gänzlich verzichtet.

Den Abschluss des 2. Hauptteils bilden als Überleitung zum Schlussteil Reflexionen über die hermeneutischen Differenzen zwischen den beiden dargestellten religionsvergleichenden Wissenschaftsauffassungen zu Beginn des 20. Jh.s. Als Hauptunterschied benennt S., dass die Forscher um das CH mit einer Ab-lösung "der neutestamentlichen Wissenschaft von kirchlichen Bezügen" nicht einverstanden waren (250). Hier schlägt S. erfreulicherweise einmal einen Bogen in die Gegenwart, da die damaligen Alternativen "auch die heutige Diskussion" bestimmen.1 Auf Seiten der kirchlich unabhängigen Richtung sieht er G. Lüdemann und H. Räisänen, während Strecker und Schnelle als Vertreter einer auf die Verkündigung der Kirche ausgerichteten Forschung genannt werden (zu der S. sich S. 333-335 ausdrücklich bekennt). Gemeinsam ist beiden Richtungen, dass sie "die historische Kritik als unabdingbare Plattform ihrer Arbeit betrachten". Der damit geforderte "methodische[n] Atheismus" gilt als "grundlegende Voraussetzung neuzeitlichen Wissenschaftsverständnisses und wissenschaftlicher Intersubjektivität" (251 mit Anm. 515).

Hier wird nach meinem Eindruck mit viel Pathos das gegenwärtige Weltbild und die gegenwärtige Welterklärung gegen "das an ein unwiderruflich vergangenes Weltbild gebundene Glaubenszeugnis der neutestamentlichen Texte" in Stellung gebracht (252, Anm. 516 u. ö.). Zum einen hat es sich gezeigt, dass noch alle Ehen zwischen der Theologie und dem jeweils gegenwärtigen wissenschaftlichen Weltbild wieder geschieden worden sind, zum anderen beraubt sich die Theologie ihrer Möglichkeit, die jeweils aktuellen Realitätsverständnisse der Neuzeit zu kritisieren, wenn sie sich von vornherein deren totalitärem Wahrheitsanspruch beugt. Das ist nicht nur im Bereich der Geschichtswissenschaft relevant, sondern spürbarer noch im Bereich der Ethik bzw. gegenwärtig in der damit verbundenen biologischen und medizinischen Anthropologie. - Wenn die neutestamentliche Wissenschaft um einer scheinbaren Intersubjektivität willen sich vorbehaltlos dem Grundsatz des "etsi deus non daretur" verschreibt, dann schließt sie konzeptionell die Perspektive des "etsi deus daretur" aus. Die Berufung auf die Theologie als kirchliche Wissenschaft, die - man ist geneigt zu sagen "nur" - an den "theologischen Aussagen des Neuen Testaments und den dahinter stehenden religiösen Erfahrungen ein eminentes Interesse hat" (253), ist demgegenüber eine zu wenig radikale Alternative. Anzuknüpfen lohnte sich dagegen an die Haltung von Hans Lietzmann, der, wie S. herausstellt, der Meinung war, dass ein "konsequent angewendetes, immanent kausales Entfaltungsschema nicht der Mannigfaltigkeit der geschichtlichen Phänomene in ihrer möglichen Spontaneität und Heterogenität" gerecht werden könne (214). Dieser Ansatz verdien- te es, nicht nur apologetisch für die Geschichte des Christentums in Anschlag gebracht zu werden (wie es zumeist geschah, was diesen Ansatz diskreditierte), sondern als genuin theologischer Beitrag im Konzert der Wissenschaften mit ihrem Erklärungszwang in Erinnerung gehalten zu werden.

Der abschließende dritte Hauptteil bietet "Überlegungen zum religionsgeschichtlichen Textvergleich" (260-335) mit dem eingangs erwähnten Ziel, ein der praktischen Arbeit dienendes Instrumentarium vorzustellen (18). Zuerst werden dafür die Grenzen und Ziele des unter der Prämisse "der Geschichtlichkeit und des Bezogenseins einer jeden Religion auf eine bestimmte Kultur" (262 f.) benannt. Das ist die direkte Folge des erwähnten methodischen Atheismus, denn dieser lässt Religionen (nur und ausschließlich) als Produkte der jeweiligen Kulturen und damit innerweltlich erklären. Die Möglichkeit, Kultur umgekehrt (zumindest auch) als Ergebnis der Erfahrung eines nicht ableitbaren Wirkens zu verstehen, ist damit von vornherein ausgeschlossen. Das aber wirkt sich direkt auf den religionsgeschichtlichen Vergleich aus, indem er auf die zwei Möglichkeiten von Analogie (verbunden mit der Vorstellung der Universalisierbarkeit menschlicher Erfahrungen) und Genealogie (im Sinne innerweltlicher Ableitbarkeit und Erklärbarkeit) eingeschränkt wird (das sieht S. durchaus, vgl. 279 f., ohne dass klar ist, welchen dritten Weg er vorschlägt).

Die Ausführungen in diesem Teil enthalten gleichwohl eine Fülle von Anregungen, die dem eigenen Arbeiten auf diesem Feld als Kontrollfunktion dienen können, nicht zum wenigsten gerade da, wo man dem Autor zu widersprechen wünscht. Auch die Diskussion neuerer Entwürfe (J. Z. Smith, Karlheinz Müller, K. Berger/C. Colpe) zum Vergleich zwischen dem frühen Christentum und den Religionen der Umwelt (296-311) ist anregend.

Der abschließende "methodische[r] Leitfaden für den religionsgeschichtlichen Textvergleich" (312-335 mit insgesamt fünf Verfahrensschritten) ist pragmatisch ausgerichtet und kann gut in einem Proseminar diskutiert werden, wenngleich auch hier die von S. angebotenen Verstehensmöglichkeiten zu sehr reduziert sind. So wird bei der Frage nach dem historisch-genetischen Zusammenhang von parallelen religiösen Vorstellungen (325- 327) und bei der "Analyse des Rezeptionsvorgangs" (331-333) das biographische Element (Konversion) überhaupt nicht genannt. Hilfreich wäre es zudem gewesen, wenn S. die Anwendbarkeit seiner Gesamtmethodik an einem Beispiel illustriert hätte.

Den Abschluss des gut gemachten Bandes bildet ein Literaturverzeichnis. Auf Register wurde unverständlicherweise verzichtet. Zumindest ein Stellenregister (zum Auffinden der be-sprochenen Beispiele) und Namensregister sind für so eine Arbeit in einer Zeit, in der Bücher zumeist nicht mehr gelesen, sondern verwertet werden, unverzichtbar.

Fussnoten:

1) Vgl. dazu aktuell: A. Lindemann, Zur "Religion" des Urchristentums, Theologische Rundschau 67, 2002, 238-261.