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Ausgabe:

Januar/2003

Spalte:

36–39

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Stemm, Sönke von

Titel/Untertitel:

Der betende Sünder vor Gott. Studien zu Vergebungsvorstellungen in urchristlichen und frühjüdischen Texten.

Verlag:

Leiden-Boston-Köln: Brill 1999. XV, 388 S. gr.8 = Arbeiten zur Geschichte des antiken Judentums und des Urchristentums, 45. Lw. ¬ 127,00. ISBN 90-04-11283-9.

Rezensent:

Wolfgang Kraus

Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich um die gekürzte Fassung einer an der Humboldt-Universität in Berlin eingereichten Dissertation. Das Ziel der Untersuchung besteht darin, "einen Beitrag zum Verständnis und zur Auslegung derjenigen urchristlichen Vorstellungen zu liefern, die bislang als Vergebungs-Vorstellungen bezeichnet werden können" (2). Dazu werden neben urchristlichen auch jüdische Texte untersucht, um "die erarbeiteten frühjüdischen Vorstellungen und Gedanken für die Auslegung der urchristlichen Texte fruchtbar zu machen" (53). "Die Vorstellungen des Urchristentums sollen aus ihrem historischen Kontext heraus beschrieben werden und vor dem Hintergrund vergleichbarer Konzeptionen zur Geltung kommen." (337) Das Stichwort "Vergebung" wird dabei als kategorisierender Oberbegriff (338) und nicht als Bezeichnung eines bestimmten einzigen, immer wiederkehrenden Vorganges verstanden. Vielmehr wird von folgender Definition für Vergebungsaussagen ausgegangen: "Es sollen erstens Verbalaussagen vorhanden sein, die ein Tun und Handeln Gottes bezeichnen. Zweitens sollen diese Verbalaussagen einen oder mehrere Sündentermini als Objekt der Handlung nennen bzw. einen oder mehrere Menschen als Personalobjekt beinhalten, von denen deutlich ist, daß sie Verfehlungen begangen haben. Auszuschließen sind drittens sämtliche Aussagen, die auf vernichtende und zerstörerische Handlungen und Vorgänge referieren" (16).

Die Textbasis wird auf Gebete und Reden eingegrenzt, insbesondere sollen "abgrenzbare Texteinheiten" untersucht werden (17). Als Auswahl der analysierten Texte ergibt sich folglich aus dem urchristlichen Bereich: Das Gebet des Zöllners, Lk 18,9-14, das Abschlussgebet im Ersten Klemensbrief, 1Clem 60, und das Vaterunser in der Mt-Fassung, Mt 6,9-13. Texte aus paulinischen und dt-paulinischen Briefen, sowie aus dem Hebräerbrief werden ausgeschlossen, weil diese "nicht unabhängig von den ausführlichen, systematischen Aussagen zur Sündenvergebung der entsprechenden Schriften" zu untersuchen wären (18). Aus dem frühjüdischen Bereich werden analysiert: Gebete und Monologe aus JosAs, das Gebet Manasses (ApostConst II 22,12-15), das Gebet Tobits (Tob 3,1-6), die Rede des Engels Raphael (Tob 12), das Gebet in PsSal 9 und das Gebet Asarjas (Dan 3,26-45).

Die Gliederung der Arbeit entspricht sachgemäß dem Thema: Nach einer Einführung, in der methodische Grundsatzentscheidungen fallen, die Fragestellung in den Gang der Forschung eingezeichnet und die Aufgabenstellung umrissen wird (1-53), folgen acht Kapitel, in denen jeweils ein Text bzw. eine Schrift analysiert wird (Gebete der Aseneth, 54-103; Gebet Manasses, 104-139; Gebet Tobits und Rede Raphaels, 140- 180; Psalm Salomos 9, 181-208; Gebet Asarjas, 209-243; Gebet des Zöllners, 244-280; Schlussgebet des 1Clem, 281-309; Vaterunser, 310-336). Das folgende Kapitel bietet eine Auswertung, wobei Wert gelegt wird auf das Verständnis der urchristlichen Vergebungsvorstellungen im Horizont frühjüdischer Vorstellungen (337-363). Stellenverzeichnis in Auswahl und Literaturverzeichnis schließen die Arbeit ab (364-388).

Bei seinen Analysen beginnt von Stemm jeweils mit einer Einführung in den Kontext und mit Einleitungsfragen. Den größten Raum nehmen präzise - und bisweilen subtile - Wort- und Wortfelduntersuchungen ein.

Folgende Ergebnisse kann v. St. herausarbeiten: In JosAs liegen drei unterschiedliche Vorstellungen von Vergebung vor, das Nicht-Anrechnen von Sünde bzw. das Nicht-Strafen, die Beilegung des Zorns, weil das Ziel Gottes mit den Menschen stets ein heilvolles ist, und die - hellenistische - Vorstellung der Berücksichtigung der Tatumstände (102). Zentraler Text im Hintergrund für die Vorstellung, dass Gottes Barmherzigkeit den Zorn überwiegt, ist Ex 34,6 f. Aussagen über Vergebung sind in JosAs "in erster Linie Bekenntnisse zum Gott Israels und Beschreibungen seines Handelns: Die Rede von der Vergebung ist Rede von Gott" (103).

Im Gebet Manasses geht es vor allem um Strafverschonung. Gott wird nach einem Sündenbekenntnis gebeten, sich selbst als Theos metanoon zu erweisen. Es geht also um Gottes Metanoia, die sich darin zeigt, dass Gott von seinen Strafhandlungen zurücktritt und sie nicht bis zum Ende durchführt (137). Gottes Barmherzigkeit wird als Metanoia Gottes expliziert (139). Wiederum steht Ex 34,6 f. im Hintergrund.

Im Buch Tobit wird eine Beseitigung der Konsequenzen des Verfehlungshandelns durch gute Taten erwartet. Durch Taten der Barmherzigkeit werden Verfehlungstaten aufgewogen (180). Tob 12,9 scheint ein Beleg für eine Vergebungsaussage vorzuliegen, in der Gott nicht handelndes Subjekt ist. Hiernach können die Menschen Einfluss nehmen auf den Umgang Gottes mit den Verfehlungen der Menschen (179.339).

Auch in PsSal 9 spielt die Vorstellung, dass Gott Maß um Maß mit den Menschen umgeht, eine entscheidende Rolle. Die Hoffnung richtet sich darauf, dass nur die wirklichen Sünder, nicht aber die Gerechten und Frommen, die sich verfehlt haben, dem vernichtenden Gericht anheim fallen (208.339). Strafe wird damit als Reinigung bzw. Neuausrichtung verstanden. Gottes Schläge führen die sich verfehlenden Frommen nicht zur Vernichtung, sondern zur Läuterung. Strafe bedeutet Erziehung. Der Rekurs auf den Bund stellt die Möglichkeit zu barmherzigem Handeln her. - Ebenso ist im Gebet Asarjas der Bund Gottes mit seinem Volk Anlass zur Gewährung von Vergebung. Die bußfertige Ausrichtung des Menschen, die in ein Bekenntnis der Verfehlungen umgesetzt wird, lässt das Bußgebet wie ein Opfer erscheinen (242). Gottes strafende Gerechtigkeit ist dem Bund Gottes mit seinem Volk untergeordnet. Die Betenden bringen ihre Bekenntnisse wie Opfer dar und erwarten damit eine Unterbrechung des Strafhandelns (243). Bußleistung und Bundesgedanke finden sich hier verbunden (340).

Das Gebet des Zöllners, Lk 18,13, innerhalb des Gleichnisses vom Pharisäer und Zöllner (Lk 18,9-14) ist Beispiel für urchristliches Gebet um Vergebung. Lk hebt hier Gottes Umgang mit den Verfehlungen der Menschen auf eine grundsätzliche Ebene (280). Die Barmherzigkeit Gottes gilt dem, der sich an Gott wendet und Sünde bekennt (341.342). Ob es sich hierbei um ein oder gar das Spezifikum urchristlicher Vergebungsvorstellung handelt (341), kann m. E. auf Grund des beigezogenen Vergleichsmaterials nicht allgemein gesagt werden. Dazu müssten weitere Texte verglichen werden.

Nach 1Clem 60 gehören die Vergebungsbitten in den Rahmen der Schöpfungstheologie (292 ff.). Vergebung geschieht durch den Schöpfergott, der Menschen wieder in die Schöpfungsordnung eingliedert. Gottes Vergebung zielt dabei letztlich auf die Herstellung von Eintracht und Frieden im zwischenmenschlichen Bereich (299 ff.). Erstaunlich bleibt in 1Clem, dass die Vergebung nicht explizit, sondern nur indirekt auf Jesu Tod und Auferstehung gegründet wird (309). - In Mt 6,12 werden göttliches und menschliches Vergebungshandeln in eine Relation gesetzt (323 ff.). Dabei geht es nicht um eine Bedingung, sondern um einen Vergleich (324 ff.344), wie sich auch aus dem Schalksknechtgleichnis erschließen lässt (332 ff.).

Von exegetischen Einzelheiten abgesehen, bei denen man gegebenenfalls auch anderer Meinung sein kann, möchte ich einen grundsätzlichen Punkt nennen, der mir weiterer Nachfrage würdig erscheint bzw. noch nicht völlig zufriedenstellend gelöst ist:

Die Einzelauslegungen v. St.s sind im Wesentlichen klar und nachvollziehbar, erhellend und weiterführend. Jedoch erscheint mir die Auswahl der untersuchten Texte fragwürdig. Die Ausscheidung von Texten aus den neutestamentlichen Briefen mit der Begründung, hier wären die übrigen Aussagen der jeweiligen Schriften zum Thema Sündenvergebung mit zu berücksichtigen (18), hat mich nicht überzeugt. Diese Begründung gälte m. E. auch für Mt und Lk. Insbesondere bei der Analyse des Zöllnergebetes fällt auf, dass keinerlei Bezug hergestellt wird etwa zum Gleichnis vom verlorenen Sohn, wo doch gerade dieser Text die lukanischen Akzente deutlich hätte hervortreten lassen können. Jak 5,15 f. wird nicht berücksichtigt, weil es sich "bei diesem reflektierenden Text nicht um ein wörtlich wiedergegebenes Gebet" handelt (18, Anm. 43). Zum Verständnis der Bandbreite innerhalb des NT hätte Jak 5,15 f. durchaus etwas beizutragen.

Gleiches gilt für die Auswahl der jüdischen Texte: Dass Bar 1,15 ff. nur im Vorübergehen (221) gestreift und 3Makk 2,2-20 ausgelassen werden, lässt sich m. E. nur pragmatisch aus Raumgründen rechtfertigen. Lässt es sich wirklich rechtfertigen? Sicherlich müssen Philon und Josephus hinsichtlich der bei ihnen vorhandenen Vergebungsvorstellungen eigene Untersuchungen gewidmet werden. Aber kann man sie ganz übergehen?

Es werden nur griechische Texte herangezogen, keine aus dem hebräisch/aramäischen Bereich, obwohl es von der zeitlichen Eingrenzung her doch auch hier Texte gegeben hätte (etwa das Schemone Esre oder Avinu Malkenu), die sowohl als Beispiele für jüdische Vergebungsvorstellungen als auch für das Verständnis des neutestamentlichen Umfeldes wichtig gewesen wären. Begründet wird die Auslassung damit, dass "eine größtmögliche formale Vergleichbarkeit der jüdischen und der urchristlichen Vergebungsaussagen" ermöglicht und innerhalb der sprachlichen Grenzen der urchristlichen Schriften verblieben werden soll (19). Andererseits werden Übersetzungstexte herangezogen, weil "allein gewährleistet sein muss, dass der zu untersuchende griechische Text Ausdruck für das religiöse und kulturelle Milieu ist, in dem das älteste Christentum seinen Ursprung hat" (19). Lässt sich diese Begründung wirklich so aufrecht erhalten? Sind die ausgewählten Texte repräsentativ für das Milieu, in dem das Urchristentum seine Ursprünge hat? Wo endet die willkürliche und beginnt die sachlich begründete Auswahl? Die untersuchten Vergleichstexte können daher in der Tat nur "einen gewissen Horizont an Vorstellungen sichtbar werden lassen, vor dem die urchristlichen Texte angemessen ausgelegt und interpretiert werden können" (19, Hervorhebung W. K.).

Auch in anderer Hinsicht schlägt sich die Auswahl der Textbelege ungünstig nieder: S. 359 f. wird das Verhältnis von Vergebung und Sühnekult bzw. Vergebung außerhalb des Kultes angesprochen. Kritik an Sung wird geübt, der den Sitz im Leben der Sündenvergebung im Sühnekult sehe, wie auch an Broer, der den Stellenwert des Sühnekultes zu hoch ansetze (360). Nach v. St. belegen die herangezogenen Gebetstexte, dass nicht sämtliche Vergebungsvorstellungen in Beziehung zum Sühnopferkult stehen (360). Das mag stimmen oder nicht. Viel wichtiger wäre es zu prüfen, warum eine Beziehung möglicherweise fehlt. Dass urchristliche Gebete keinen Bezug auf den Opferkult nehmen, scheint nach urchristlichem Verständnis von Jesu Tod und Auferstehung nicht verwunderlich. Für Texte aus der jüdischen Diaspora mag das auch nicht verwundern. Wie Opfersprache im Diasporajudentum metaphorisiert wurde, lässt sich etwa an 4Makk nachvollziehen. Aber das gleiche Phänomen begegnet zum Stichwort Sündenvergebung interessanterweise auch in Qumran: z. B. 11QtgJob 38,2. Die Frage lautet, warum das so ist. Vermutlich deshalb, weil der Tempelkultus entweder als obsolet oder als ineffizient oder als zu weit entfernt empfunden wurde. Damit aber ist die Frage, ob die Vergebungsvorstellungen ihren ursprünglichen Sitz im Leben im Sühnekult haben, differenzierter zu stellen und auch zu beantworten.

Die konkreten Einzelanalysen, die v. St. darbietet, werden durch die genannten Probleme grundsätzlich in ihrem Wert nicht geschmälert. Zu einer umfassenden Erkenntnis von Vergebungsvorstellungen oder zur begründeten Feststellung einer - möglicherweise vorhandenen oder nicht vorhandenen - differentia specifica reicht seine Auswahl nicht aus. Hierzu müsste das Spektrum erweitert werden.

Der Wert der Arbeit beruht vor allem darin, zur Horizonterweiterung hinsichtlich frühjüdischer und urchristlicher Vergebungsvorstellungen beigetragen zu haben und dabei auch - sonst häufig vernachlässigte - wichtige Texte des Griechisch sprechenden Judentums ins Bewusstsein gehoben zu haben. Besonders hervorzuheben sind die lexikographischen Untersuchungen wie auch die Tatsache, dass das Augenmerk auf dem Inhalt der Vergebungsvorstellungen und nicht auf etwaigen thematischen Rahmenbedingungen liegt. Ganz wichtig scheint mir auch die Tatsache, dass v. St. die Texte selbst hat zu Wort kommen lassen und nicht versucht hat - wie in früheren Phasen der Forschung -, sie zu instrumentalisieren.