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Ausgabe:

Januar/2003

Spalte:

31–33

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Agus, Aharon R. E.

Titel/Untertitel:

Das Judentum in seiner Entstehung. Grundzüge rabbinisch-biblischer Religiosität.

Verlag:

Stuttgart-Berlin-Köln: Kohlhammer 2001. 260 S. m. 1 Abb. gr.8 = Judentum und Christentum, 4. Kart. ¬ 20,40. ISBN 3-17-016422-8.

Rezensent:

Michael Tilly

Die vorliegende Arbeit des Ordinarius für Talmud und Rabbinische Literatur an der Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg erhebt den Anspruch, einem breiteren Leserkreis die Auffassung des Autors hinsichtlich des Wesens des rabbinischen Judentums und seiner geistigen Strukturen zu vermitteln (11). Als hermeneutische Voraussetzung seiner Untersuchung der biblischen und rabbinischen Quellen weist der Vf. auf die Notwendigkeit hin, an die Stelle der bloßen methodischen Erforschung von Artefakten mit dem Ziel der Rekonstruktion der jüdischen Religion und ihrer chronologischen Entwicklung die ideengeschichtliche Wahrnehmung der lebendigen und schöpferischen "Religiosität" treten zu lassen, die ihrerseits in die halachischen und haggadischen Schultraditionen mündete und deren Beschreibung als "historische verisimilitude" (27) jede konkrete begriffliche Bestimmung transzendiere.

Im 1. Kap. "Biblische Wurzeln rabbinischer Religiosität" betont A. zunächst den Charakter der rabbinischen Verständnistraditionen der Bibel "nicht als eine bloße Übernahme, sondern zugleich [als] eine kritische Aneignung und Weiterentwicklung der biblischen Texte" (35). Auf der Basis einer vergleichenden Interpretation von Dtn 26, Jer 28, Dtn 32, Neh 9 und Mi 7 gelangt er zu einer weiteren Voraussetzung seiner Untersuchung, nämlich der "engen Verbindung zwischen dem Entstehungsschema der rabbinischen Religiosität und einem spezifischen Verständnis der Sünde" (54). Die Analyse verschiedener Textpassagen des Buches Ezechiel, das er durchweg als einheitliches Werk behandelt, führt ihn zu der Überzeugung, der Prophet akzentuiere die - für die spätere rabbinische Tradition grundlegende - individuelle und gegenwartsbezogene Dimension der Beziehung von Gott und Mensch (62). Das 2. Kap. "Chanukka: Die Reinterpretation des Tempellichts" beginnt mit einer Skizze des Hellenisierungsprozesses im antiken Judentum, den er als "kulturellen Entfremdungsprozeß" begreift (83). Aus den Nachrichten des 1. Makkabäerbuches (das seines Erachtens die Geschichte der makkabäischen Erhebung abbildet) und den in der sog. Fastenrolle (Megillat Taanit) erhaltenen Traditionen aus der Zeit des Zweiten Tempels schließt A., dass die beispielhafte Bedeutung und die Interpretation des Tempelweihfestes auf die Konstitution des rabbinischen Judentums lange Zeit vor der Tempelzerstörung im Jahre 70 n. Chr. hindeuten (87). Das 3. Kap. "Die torah und die hermeneutische Gemeinde" fragt nach den komplexen Entstehungsbedingungen der theoretischen Entfaltung und der - ereignishaften - praktischen Applikation der (individuellen und gegenwartsbezogenen) Tora in den ersten rabbinischen Gemeinschaften: "Das rabbinische Judentum beschreibt somit eine Gemeinde, welche sich um dieses Ereignis herauszubilden vermag" (100). Im 4. Kap. "Die chawerim: Ältere Formen des rabbinischen Judentums" präzisiert A. diesen Gedanken und skizziert die - durch die Tempelzerstörung ausgelöste - Umwandlung der als "Gegenbewegung zur etablierten Tempel-Religiosität" (110) zu charakterisierenden, tendenziell partikularistischen kleinen rabbinischen Bewegung in eine pluralistische und integrative Gemeinschaft Gleichgesinnter unter Betonung der identitätstiftenden und erfahrungstrukturierenden Funktion der Gebote: "Das rabbinische Judentum verwirklichte sich als eine Verallgemeinerung der halachot, welche im Prozeß der Kristallisation der religiösen Selbstbestimmung der chawerim ihren Ursprung fand" (124).

Kap. 5 "Theologie, Autorität und Wahrheit im frühen rabbinischen Judentum" befasst sich zunächst mit der prinzipiell pluralistischen Natur halachischer Entscheidungen und Systeme, dargestellt an der Konstitution der Gemeinde (140- 142) und der Frage nach den Kriterien der jüdischen Identität (145-150).

Breiten Raum nimmt sodann die Frage nach der Geschichte und nach dem Kompetenzbereich des "großen Sanhedrin" ein. A. weist auf dessen "legendenhaften Charakter" hin (171) und betont zudem das Fehlen eines ständigen Gerichtshofes in Palästina in tannaitischer Zeit (175), wobei er allerdings anmerkt, dass die "unterschiedlichen Realverhältnisse" in Babylonien die Entstehung einer "vorwiegend autoritativ begründeten" (177) hierarchischen Strukturierung der dortigen Gemeindeorganisation begünstigten. Im 6. Kap. "Hillel, beth Shamai und beth Hillel - Pluralität und Pluralismus in rabbinischer Religiosität" entwickelt der Vf. anhand einer Reihe von Aussagen, die von der rabbinischen Tradition auf das letzte der sog. "Paare" der Rabbinen zurückgeführt werden, und anhand zahlreicher kontroverser Schultraditionen, die sich auf die beiden berufen, sein Verständnis jeder (ethisch motivierten und hermeneutisch begründeten) Auslegung und Anwendung der Tora als prinzipiell "offen": "Eine Gemeinde trifft demnach auf der Grundlage einer konkreten historischen Situation eine bestimmte Entscheidung. In einer anderen Gemeinde und einem veränderten Kontext kann diese Entscheidung hingegen ganz anders ausfallen" (199). Das 7. Kap. "Zur Reinterpretation der Tempel-Religiosität", in dessen Mittelpunkt Pesiqta de-Rav Kahana steht, ein Homilienmidrasch für die gottesdienstlichen Lesungen der Festtage und besonderen Sabbate, fokussiert die kritische Interpretation der symbolischen Bedeutung des Jerusalemer Tempels durch die Rabbinen und die Übertragung seiner Bedeutungsfunktionen aus dem spatialen Bereich des Kultes in den personalen Bereich der Religiosität (217). Das abschließende 8. Kap. "Die Nichtörtlichkeit des rabbinischen Judentums - eine neue Anthropologie" stellt den Versuch dar, die im bisherigen Verlauf der Untersuchung herausgearbeiteten konstitutiven Strukturmomente der jüdischen "Religio- sität" darzustellen. Die bereits im Sündenfall präfigurierte und in der Tempelzerstörung erfahrene Loslösung der Gegenwart Gottes von einem empirisch fassbaren Ort begründe das Entstehen einer "inneren Örtlichkeit" des religiösen Individuums (243), die ihrerseits ihren Ausdruck in den Traditionen und Institutionen der Rabbinen finde, d. h. in einer "Religiosität der Nichtörtlichkeit" (246, Anm. 35). Die Untersuchung endet mit einem Verzeichnis der Abkürzungen, der Primärtexte, Sachen und Namen. Ein Stellenregister und eine Auflistung der vom Autor herangezogenen Sekundärliteratur fehlen.

Die vorliegende Arbeit kann als ein anregender Beitrag zum Fachgespräch zwischen religionsgeschichtlicher und philosophischer Forschung gelten. Der implizite Rekurs auf die fundamentalontologische Konzeption M. Heideggers in "Sein und Zeit", insbesondere die wiederholte Bezugnahme auf den Begriff des "In-der-Welt-Seins" als Grundverfassung des Daseins, trägt zu einem vertieften Verständnis des rabbinischen Denkens bei. Leider nimmt A. an keiner Stelle seiner Arbeit ausdrücklich auf Heideggers Abhandlung Bezug (auch auf der im Register angeführten Seite taucht dessen Name nicht auf), was das Verständnis der Gedankenführung zuweilen erschwert. Als richtig und wichtig festzuhalten sind die Ablehnung einer Dichotomie von halachischen und haggadischen Bestandteilen der rabbinischen Überlieferung (19) sowie die Hinweise auf den kreativen Charakter der Auslegungstraditionen (35) und auf die hohe Bedeutung der Tempelzerstörung für die aufstrebende Laiengelehrsamkeit (87). Zutreffend betont A. den fiktionalen Charakter zahlreicher Züge der Darstellung von Nesi'ut und Sanhedrin in der Traditionsliteratur (153 f.). Von hoher Bedeutung sind auch die Erkenntnisse, dass die Halacha wesenhaft pluralistisch ist (185.199 f.) und dass Zusammenstellungen von legitimen Auslegungsregeln wie die sieben Middot Hillels Ausdruck von Partikularinteressen innerhalb der rabbinischen Bewegung sind (193 f., Anm. 21).

Problematisch ist hingegen die mitunter ahistorische Behandlung der Quellen, z. B. die Datierung von Ex 20 und Dtn 26 in die Zeit "vor der Auserwählung Jerusalems als der Ort des Tempels" [sic!] (36.142). Überholt ist die von A. akzentuierte Betonung des Gegensatzes zwischen Judentum und Hellenismus in der Antike (78). Auch die Bezeichnung der biblischen Psalmen schlechthin als "Tempel-Liturgie" (109 f.) ist unzutreffend. Während sprachliche und sachliche Fehler wie "dichotonomisch" (18), "Hagiographia" (94), "Kor 5,11" (113, Anm. 16) und "Zeit Jesu von Nazareth's" (189) außerhalb des vom Autor beanspruchten Kompetenzbereichs liegen, verwundern Ausdrücke wie "Respona-Literatur" (101; vgl. 109: "Response-Literatur") und "mischnot" (115).

Insgesamt legt A. mit der vorliegenden Arbeit, die auf die Auseinandersetzung mit neueren religionshistorischen Beiträgen (z. B. Hengel, Sanders, Saldarini, Hezser) nahezu vollständig verzichtet, keine weitere Geschichte des rabbinischen Judentums in der Antike vor, sondern einen ebenso eigenständigen wie eigenwilligen Versuch der Annäherung an dessen ontologische und hermeneutische Voraussetzungen.