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Ausgabe:

Oktober/1998

Spalte:

1041 f

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Wild, Frank

Titel/Untertitel:

Askese und asketische Erziehung als pädagogisches Problem. Zur Theorie und Praxis der frühen Landerziehungsheimbewegung in Deutschland zwischen 1898 und 1933.

Verlag:

Frankfurt-Berlin-Bern-New York-Paris-Wien: Lang 1997. XV, 471 S. gr.8 = Europäische Hochschulschriften Reihe XI: Pädagogik, 729. Kart. DM 118,-. ISBN 3-631-32049-3.

Rezensent:

Christian Grethlein

Die in Gießen von M. Schulz betreute Dissertation will den von E. E. Meissner zur Interpretation des Zusammenhangs der pädagogischen Bemühungen von Hermann Lietz eingeführten Begriff der "asketischen Erziehung" als sinnvolle Deutungskategorie für die Landerziehungsheimbewegung insgesamt erweisen. Damit faßt sie ein wichtiges Kapitel eines möglichen Zusammenhangs zwischen Pädagogik und Theologie in den Blick und verdient religionspädagogische Aufmerksamkeit.

Der Vf. geht in drei bzw. vier Schritten vor. In einem ersten Abschnitt klärt er die "Aufgabenstellung der Untersuchung" (1-58). Im zweiten - dem inhaltlich und umfangsmäßig zentralen - Teil der Abhandlung versucht er, "Die Bedeutung asketischer Erziehung am Beispiel ausgewählter Heimmodelle" (59-352) zu erweisen. Abschließend zieht er in zwei kürzeren Kapiteln ein Resümee hieraus: "Das Motiv der asketischen Erziehung als erziehungsphilosophisches und zweckrationales Fundament der Erziehungsmodelle in den Landerziehungsheimen" (353-404) und "Asketische Erziehung - Movens der frühen Landerziehungsheimbewegung" (405-422).

Leider deutet sich schon im ersten Teil die Problematik der Untersuchung an, und zwar in doppelter Hinsicht. Zum einen wird bei den Bemühungen des Vf.s um Begriffsklärung deutlich, daß ihm zentrale theologische und kirchengeschichtliche Begriffe nur ungefähr, z. T. lediglich in der (wiederum nur verkürzt wiedergegebenen) Interpretation durch Max Weber (und Ernst Troeltsch) geläufig sind. Ausdrücke wie "Prozeß der Calvinisierung des Luthertums" (26) oder - dem Rez. letztlich unverständliche - Aussagen wie "Asketische Erziehung ist ... der Synkretismus von außer- und innerweltlicher Askese, die Verbindung von Mönch und Bürger in der Person des Heimerziehers" verbergen eher Probleme als daß sie zur Klärung von Traditionszusammenhängen beitrügen. Zum anderen gibt der Verf. als Forschungsdesign den "Status einer geisteswissenschaftlichen Vergleichsstudie, die biographische und sozialwissenschaftliche Fakten nur am Rande behandelt und im wesentlichen ,deutend’, nicht Daten ,erhebend’, vorgehen möchte" (16), an. Leider verwechselt er aber immer wieder in seiner Darstellung der einzelnen Konzepte offensichtlich "deutend" mit "bewertend". Nicht immer ist bei seinen Ausführungen klar, was Befund und was Urteil des Vf.s sind.

Die Stärke der Arbeit liegt in dem interessanten, im 2. Teil ausgebreiteten Material zu verschiedenen Landerziehungsheim-Konzeptionen. Im näheren werden vorgestellt: Lietz und Andreesen; Wyneken; Geheeb; Luserke; Kramer und Lehmann; Uffrecht; Nelson und Specht. Am Beginn steht jeweils eine kurze Biographie. Sodann wird die "Erziehungsphilosophie" rekonstruiert; darauf folgt die Darstellung der "organisatorischen Zweckrationalität" der jeweiligen Landschulheime. Eine kurze Zusammenfassung rundet die Einzeldarstellungen ab.

Bei Lietz, dem - gemeinsam mit seinem Nachfolger Andreesen - der umfangreichste Abschnitt gewidmet ist, kann der Vf. seine Askese-These durch direkten Rückgriff auf Äußerungen dieses Reformpädagogen belegen. Allerdings bleibt das auf Lietz ebenfalls angewendete Attribut "pietistisch", dann noch in Verbindung mit "urchristlich", "ökumenisch" und "mythisch", unklar. Gute Veranschaulichung bieten die als Anhang beigegebenen Tagespläne der Lietzschen Heime und ihrer Aufnahmebedingungen.

Doch schon bei Wyneken bleibt die Zuweisung zur "Askese"-Erziehung angesichts der vom Verf. in immer neuen Wiederholungen scharf kritisierten und zurückgewiesenen "Erotisierung" zumindest zweifelhaft. Die das Thema eigentlich nicht betreffenden methodischen Verdienste Wynekens werden breit dargestellt. - Bei Geheeb, vor allem als Gründer der Odenwaldschule bekannt, tritt eine mögliche Beziehung zur "Askese" als pädagogischem Programm noch weiter zurück. Seine Bedeutung für die Einführung der Koedukation, aber auch sein bis in die heutige gymnasiale Oberstufe hineinreichendes "Kurs- und Blocksystem" sind ungleich wichtiger. - Kramer und Lehmann, die beide aus der Herrenhuter Brüdergemeine stammen, bieten mehr Anhaltspunkte für die These des Vf.s Religionspädagogisches Interesse verdienen hier besonders die Hinweise auf die Versammlungen der Schulgemeinde in der "Hohen Halle" (268-271). - Auch beim Sozialisten Uffrecht und den leninistischen Erziehern Nelson und Specht finden sich Züge mit asketischer Tendenz. Besonders bei letzteren sind aber religiöse Impulse nur schwer nachweisbar.

Die schon für den Eingangsteil genannte Problematik, daß Begriffe aus Theologie und Kirchengeschichte unscharf verwendet werden, prägt auch die beiden Schlußabschnitte. Begriffe wie "lutherisch gedämpfte calvinistische Überzeugung" (353), "der pietistische Gedanke, eine führende Persönlichkeit mit der Durchsetzung des göttlichen Auftrags zu betrauen" (363), "calvinistischer Heiliger" (374) "kryptopietistische Neubesinnung" bedürften der theologischen (Auf-)Klärung.

Leserinnen und Leser, die sich für die Landerziehungsheim-Bewegung in ihren Anfängen interessieren, erhalten reichlich Informationen und Interpretationsvorschläge zu teilweise wenig bekannten Pädagogen. Enttäuscht werden aber - durch den Begriff "Askese" gelockt - am Verhältnis von Theologie und Pädagogik Interessierte. Für eine hier weiterführende Untersuchung fehlt(e) dem Vf. offensichtlich das theologische Rüstzeug.