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Ausgabe:

Januar/2003

Spalte:

17–19

Kategorie:

Allgemeines

Autor/Hrsg.:

[Faivre, Antoine]

Titel/Untertitel:

E'sotérisme, gnoses & imaginaire symbolique. Mélanges offerts à Antoine Faivre. Edité par R. Caron, J. Godwin, W. J. Hanegraaff et J.-L. Vieillard-Baron.

Verlag:

Leuven: Peeters 2001. XII, 948 S. m. Abb., 1 Porträt. gr.8 = Gnostica, 3. Kart. ¬ 70,00. ISBN 90-429-0955-2.

Rezensent:

Helmut Zander

Die Geschichte des christlichen Lehrhauses, seiner Spiritualität und seiner Gruppen wird durch die Erforschung der "Esoterik" augenblicklich umgeschrieben. Die Konsequenzen lassen sich momentan schwer absehen: Die verstreuten Forschungen sind noch selten zu Überblicksdarstellungen verdichtet, die Definition und damit die Grenzen des Forschungsfeldes noch unscharf und die Anschlussstellen zur Theologie noch diffus bestimmt (Letzteres auch auf Grund des mäßigen Interesses von Theologen an historischen Fragen der Esoterik).

In dieser Situation kommt ein Band gerade recht, der die Breite aktueller Forschungen dokumentiert: die Festschrift für Antoine Faivre, der zwischen 1979 und 2002 den Lehrstuhl für die Histoire des courants ésotériques et mystiques dans l'Europe moderne et contemporaine an der Sorbonne innehatte, dem bis 1999 einzigen Lehrstuhl seiner Art; seitdem existiert in Amsterdam ein vergleichbarer Lehrstuhl für Wouter Hanegraaff. In Deutschland sind dieser Festschrift zwei exzellente Bände zur Seite zu stellen (Aufklärung und Esoterik, hrsg. von M. Neugebauer-Wölk, 1999; Hermetismus in der Frühen Neuzeit, hrsg. von A.-Ch. Trepp/H. Lehmann, 2001), die das inzwischen erreichte hohe Niveau der Forschung in Deutschland dokumentieren - nachdem über Jahrzehnte nur wenige der internationalen Forschung ebenbürtige Arbeiten entstanden waren.

Die Festschrift für Faivre versammelt in 61 Aufsätzen auf annähernd 1000 Seiten Beiträge aus fast allen Bereichen der gegenwärtigen Esoterik-Forschung. Die Schwerpunkte liegen auf der Alchemie, der romantischen Naturphilosophie, der Freimaurerei, aber es finden sich auch Artikel zu Bewegungen des 19. und 20. Jh.s sowie zu theoretischen Fragen. Während konzeptionell ein geschlossener Band realisiert wurde, ist die Qualität der Artikel durchwachsen; neben Berichten auf einem hohen investigativen Niveau stehen Artikel, die offenbar den illustren Kreis der Freunde und Schüler F.s präsent machen sollten.

Ich greife aus den anregenden Artikeln einige (längst nicht alle!) heraus:

- Die Kontinuität der frühneuzeitlichen "Hermetik" ins 21.Jh. wird bis heute von Seiten interessierter "Esoteriker" behauptet. Für Wissenschaftshistoriker hingegen besaß die These eines Bruchs, beispielsweise zwischen Alchemie und Chemie oder Astrologie und Astronomie eine hohe Plausibilität. Diese kontradiktorischen Wahrnehmungen werden in Artikeln zur Geschichte esoterischer Strömungen zwischen dem 18. und 20.Jh. auf ihre historische Standfestigkeit überprüft. So machen A. G. Debus und R. Caron deutlich, dass es in diesem Zeitraum in der französischen Alchemie eine Tradition hermetischen Denkens gab, allerdings unter massiver Transformation von Inhalten und sozialen Funktionen. Dies sind Pilotstudien für einen Traditionsbegriff, dem sowohl das kryptoevolutive Forschrittsverständnis, das die Esoterik als "nichtmodernes" Phänomen lange marginalisiert hat, als auch die Emphase "wissenschaftlicher Revolutionen" genommen sind.

- Die inzwischen gut belegte Diffusion der "randständigen" Esoterik in die hegemoniale Kultur nötigt, die traditionelle Abdrängung der Esoterik in eine Außenseiterrolle zu überdenken. Wenn W. Hanegraaff zeigt, wie Thomas Mann das Gralsmotiv dem Zauberberg einverwandelt oder Christopher McIntosh die Präsenz freimaurerischer Vorstellungen in der Gartenarchitektur nachweist (allerdings unter fast völliger Vernachlässigung der deutschsprachigen Forschung), wird klar, dass die Opposition von "Esoterik" und "Exoterik" kulturhistorisch obsolet ist.

- Für die Theologie ist der Artikel von M. Neugebauer-Wölk von zentraler Bedeutung. In einem Artikel zur Rezeption des Corpus Hermeticum versucht sie in einem prickelnden Wissenschaftskrimi nachzuweisen, dass F. Patrizi in der Übersetzung der hermetischen Schriften den Bruch mit christlichen Traditionen und die Schöpfung einer neuen Religion beanspruchte. Ob Patrizi als "Neuheide" oder christlicher Reformator zu deuten ist und welcher Religions- und Christentumsbegriff dabei im Hintergrund steht, muss noch diskutiert werden, aber für die Pluralisierungsgeschichte der europäischen Religionstradition ist damit eine nicht zu unterschätzende Spur ausgelegt.

Das größte Manko des Bandes ist das Fehlen einer Einleitung, die die Artikel in die augenblickliche Forschungslandschaft situiert und die Kriterien der Zusammenstellung der Aufsätze expliziert. In der vorliegenden Form leistet der Band dem traditionellen Vorurteil Vorschub, dass alles, was seltsam und in der Enzyklopädie der Wissenschaften schwer unterzubringen ist, unter "Esoterik" eine Heimat findet. Die fünfte Rubrik, in der Aufsätze zu Theoriefragen versammelt sind, füllt diese Lücke nicht und ist ohnehin der schwächste Teil des Bandes. Zu der konzeptionellen Rahmendebatte hätte auch eine kritische Auseinandersetzung mit Konzepten und Begriffen der Esoterikforschung gehört. Die aber unterbleibt vielleicht auch, weil sie eine kritische Auseinandersetzung mit der von F. vorgelegten Definition bedeutet hätte. Dessen Vorschlag (notwendige Merkmale der Esoterik seien ein System von Korrespondenzen, die Vorstellung einer lebenden Natur, Erkenntnis durch Imagination und Meditation, Erfahrung der Transmutation) besitzt große Verdienste, weil er damit ein diffuses Feld wissenschaftlich operationalisiert hat. Die Fortschreibung dieses der frühen Neuzeit verdankten Konzeptes hinsichtlich esoterischer Bewegungen des 19. und 20. Jh.s steht aber noch aus. Den Anregungen von F.s umfangreichem und beeindruckendem Lebenswerk, von dem auch der Rez. nur mit Hochachtung spricht, wäre damit vielleicht die angemessene Reverenz erwiesen.