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Ausgabe:

Januar/2003

Spalte:

3–18

Kategorie:

Aufsätze

Autor/Hrsg.:

Hermisson, Hans-Jürgen

Titel/Untertitel:

Gott und das Leid.

Eine alttestamentliche Summe*

"Schafft das Unvollkommne weg, dann allein könnt ihr Gott demonstrieren ... Man kann das Böse leugnen, aber nicht den Schmerz; nur der Verstand kann Gott beweisen, das Gefühl empört sich dagegen. Merke dir es, Anaxagoras: warum leide ich? Das ist der Fels des Atheismus. Das leiseste Zucken des Schmerzes, und rege es sich nur in einem Atom, macht einen Riß in der Schöpfung von oben bis unten."1

Vielfältig hat das alte Israel von Gott und dem Leid geredet. Eine geradezu kanonische Weise für dieses Thema ist die Klage. Sie kann ähnlich klingen wie das Zitat aus Georg Büchners Schauspiel "Dantons Tod": Fels des Atheismus - in der Tat! Israels Klagepsalmen sind nicht weit davon entfernt: Gott schweigt, verbirgt sein Angesicht, er ist nicht da - das ist die entsetzliche Erfahrung der Leidenden.

Wer meint, "nach Auschwitz" habe das Alte Testament zu dieser Frage nichts mehr zu sagen, der weiß nichts von der Wirklichkeit des alten Israel. Israel war wie viele kleine Völker der Antike außerordentlich leidenserfahren. Die drei Geißeln Pest, Hunger und Schwert drohten zu allen Zeiten, die Kriegssitten des Alten Orients waren fürchterlich, Naturkatastrophen wie Erdbeben oder Heuschrecken und Dürre mit der darauf folgenden Hungersnot jedem vertraut.2 Es ist wohl wahr, dass jede Generation ihr eigenes Leidensparadigma hat. Für Israel summieren sich Leidenserfahrungen in den Katastrophen des Untergangs und des Exils, die Aufklärung schockiert das Erdbeben von Lissabon, unsere Zeit neben aktuellen Schreckensmeldungen die unsäglichen Leiden in deutschen Konzentrationslagern. Die Frage nach Gottes Da-Sein bleibt die gleiche - wo immer das Leiden übermächtig wird.

Die Antworten sind verschieden, waren das schon immer. Das hängt daran, wie die Frage gestellt wird - wenn überhaupt- und in welchem Zusammenhang. Die Klage der vom Leid Betroffenen hat hier ihr eigenes Recht und ist mit ihren impliziten oder expliziten Antworten gesondert zu besprechen. Wir beginnen mit Fragen und Antworten theologischer Reflexion im Alten Testament. Dass wir Reflexion nicht in systematischen Erörterungen, sondern in Erzählungen antreffen, gehört zur Eigenart des Alten Testaments.

1. Der systematische Ort der Frage

Drei Stichworte drängen sich unmittelbar auf: Schöpfung, Sünde, erstes Gebot. Das ist rasch zu erläutern:

Die Schöpfung ist "sehr gut", wie die Priesterschrift konstatiert, aber bald darauf ist die Erde verdorben, weil alles Fleisch seinen Wandel auf der Erde verdorben hat. Damit kommt zugleich das Stichwort "Sünde" ins Spiel: Menschliche Schuld begründet das erste weltweite Leidensverhängnis der Sintflut. Der Ursprung der Sünde wird indes nicht erklärt.

Das Thema Schöpfung und Leiden kommt noch ganz anders zur Sprache: in Psalmen, die Jahwe als Weltkönig preisen, dessen Macht die Welt aus dem drohenden Chaos heraushält. Das hymnische Lob reagiert auf den aktuell erfahrenen Machterweis des Schöpfers, der die Risse durch die Schöpfung heilt. Unheilserfahrung bleibt als dunkle Folie im Hintergrund, aber sie ist aufgehoben in die jetzt überwältigend wahrgenommene Heilsmacht Gottes.

Das Stichwort Sünde benennt zunächst einen weltweit wahrgenommenen Sachverhalt in seiner theologischen Perspektive. Das allgemeine Phänomen ist die Korrespondenz von Tat und Geschick, hier der bösen Tat, die die Welt des Täters zerstört und am Ende auf den Täter zurückfällt. Dieser universalen Einsicht hat sich die Weisheit angenommen und sich darum bemüht, Regeln für ein gedeihliches Leben im Einklang mit der Welt zu finden und davor zu warnen, diesen Einklang zu verfehlen. Es geht indes um eine ganz alltägliche und meist gar nicht reflektierte Erfahrung der "Echohaftigkeit" menschlicher Taten: "Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es heraus." "Welt" bedeutet hier nicht sogleich das Universum, sondern die gesellschaftliche und natürliche Welt des Einzelnen oder der Gemeinschaft. In theologischer Perspektive geht es um die Ordnungen der Welt, die der Schöpfer geschaffen hat und über denen er wacht: Sünde ist der Verstoß gegen die geschaffenen Ordnungen und damit gegen den Schöpfer selbst. Das ist nur ein Teilaspekt von "Sünde" nach dem Alten Testament, aber der Schuld-Unheil-Komplex ist auch einer säkularen Welt einsichtig und geläufig.

Das Stichwort erstes Gebot mag in diesem Zusammenhang überraschen. Ich denke jetzt nicht an die Übertretung des Gebots als Tatbestand, der in Israel die göttliche Strafe herausfordert, sondern an eine theologische Konsequenz aus diesem Grundsatz israelitischen Glaubens. Der Glaube an den einzigen Gott schließt jede andere göttliche Macht als Urheber des Leidens aus.

Geschieht ein Unheil in der Stadt, und Jahwe hat's nicht getan?

(Am 3,6)

So fragt der Prophet Amos und kann sich der Zustimmung seiner Hörer sicher sein. Das führt in Aporien und schwere Anfechtungen, die Israels Glaube aushalten muß. Jedoch der aufklärerischen Alternative3 angesichts des Leidens in der Welt: Entweder ist Gott gut und gerecht, dann ist er nicht allmächtig, oder er ist allmächtig, dann ist er nicht gut und gerecht widerspricht das Alte Testament ebenso leidenschaftlich wie dem eleganten Ausweg dualistischer Religionen, das Böse und das Unheil einem Gegenspieler Gottes anzulasten.4

Wir sind damit bei zwei Fragen, die die Menschheit zu allen Zeiten bewegt haben und die das Alte Testament zwar vielstimmig, aber im Effekt eindeutig beantwortet. Woher kommen Unheil und Leid und woher das Böse in der Welt?

2. Woher das Leid?

Die in eine Frage gekleidete Antwort des Amos haben wir gehört, und sie ist wahrlich keine Ausnahme im Alten Testament. Ein zweiter Spitzensatz lautet:

Ich bin Jahwe, und es ist keiner sonst,

der Licht bildet und Finsternis schafft,

der Heil wirkt und Unheil schafft:

Ich bin Jahwe, der dieses alles wirkt. (Jes 45,6 f.)

So proklamiert Jahwe als der einzige Gott seine Allkausalität durch den Exilspropheten Deuterojesaja. Der Satz des Amos bezog sich auf einen begrenzten Horizont und sprach nur vom Unheil, aber er meint dasselbe wie Deuterojesaja. Der verkündet nun Jahwes exklusive göttliche Wirksamkeit im Horizont einer viel größeren Welt - bis zu den fernsten Inseln und bis in kosmische Dimensionen.

Israels Gott erschafft Unheil und Finsternis: Die unerhörte Aussage hat dem Alten Testament schon die Kritik des Gnostikers Marcion eingetragen. Dieser Gott ist nur der Demiurg, der die Welt schlecht, ja böse geschaffen hat, der neutestamentliche Gott der Liebe aber befreit die Seelen aus der bösen Welt.5 Das ist wieder die elegante dualistische Lösung, die mit dem ersten Gebot ausgeschlossen ist. Deuterojesajas Proklamation ist eine notwendige Summe des Jahweglaubens. Sie war auch keine theologische Theorie; sie musste gelebt sein - wie bei Hiob, der im tiefsten Unheil sagen kann - noch sagen kann:

Haben wir das Gute von Gott empfangen

und sollten das Schlechte nicht (von ihm) empfangen? (Hiob 2,10)

Das ist derselbe Hiob, der bald darauf in die heftigsten Klagen und Anklagen Gottes ausbrechen kann und der jedenfalls die Quelle seines Unheils nirgends anders sucht als bei Gott.

Jahwe, der Heil und Unheil schafft: Das scheint einfach, solange es um eigenes Heil und das Unheil der Feinde geht. Ein Musterfall sind Israels Erzählungen von Exodus und Rettung am Meer. Wer sie ernst nimmt und nicht bloß auf die verblassten Vokabeln "Befreiung" und "Exodus" bringt, muss auch die Kehrseite sehen. Da waren die ägyptischen Verfolger mit Pferd und Wagen im Meer umgekommen: Jahwe hatte Pharao verstockt, dass er sein Heer den Israeliten nachjagen ließ, Jahwe warf es ins Meer, so jubelt der Hymnus. Dabei muss man es hier bewenden lassen. Denn jeder Gedanke an das Leiden der anderen wäre dem von seiner Rettung erzählenden Israel fremd. Mitgefühl mit den untergegangenen Verfolgern wird man im Alten Testament kaum antreffen. Der vielgepriesene Exodusgott zählt nicht die Leichen am anderen Ufer, und wenn die jubelnden Anhänger dieses Gottes es tun, dann ad majorem Dei gloriam. Meist ist das heute nicht anders.

Kann man sich damit beruhigen? Nachdenklich muss schon die Einsicht machen, wie rasch Verfolger und Verfolgte die Rollen tauschen. Bei Amos war von Israels Unheil die Rede, und das steht auch bei Deuterojesaja im Hintergrund. Ist Gott grausam, wenn er Israel durch fremde Heere vernichtet? Jerusalems Untergang 587 war ein entsetzliches Ende. Sollte man den Ursprung des Leidens nicht eher bei den bösen Feinden als bei Gott suchen?

Der Jahweglaube hat diesen Ausweg im Entscheidenden nicht gewählt. Gott selbst führt die Feinde gegen sein Volk, das war die Botschaft der großen Propheten. Israel hat gewusst, dass ihm auch in seinen Katastrophen sein Gott begegnet, niemand sonst: so wie Hiob das beispielhaft formulierte und davon auch in Klage und Anklage Gottes nicht abging. Hiob ist da wahrhaftig keine Ausnahme. Eine andere, theologisch unvollkommene und doch tief durchdachte Erzählung muss man dazu anführen. David hat gesündigt, nun darf er wählen zwischen drei Strafen: drei Jahre Hungersnot, drei Monate Flucht vor den Feinden, drei Tage die Pest im Lande. Und David sagt:

Mir ist sehr angst - aber wir wollen lieber in die Hand Jahwes fallen,

denn seine Barmherzigkeit ist groß! In die Hand der Menschen aber

möchte ich nicht fallen. So schickte Jahwe die Pest ... (2Sam 24,14 f.)

Das theologisch Unvollkommene daran wiegt leicht: Musste man nicht mit Amos alles Unheil aus Jahwes Hand nehmen? Aber hier wird akzentuiert, was solch theologischer Spitzensatz bedeutet. Lieber nicht in die Hände der Menschen fallen, sondern immer in die Hand Jahwes, "denn seine Barmherzigkeit ist groß". Darin ist Gottes Gericht nicht aufgehoben und geleugnet, aber es ist eingeklammert in seine Barmherzigkeit.

Eigene Katastrophen gehören zum Kontext der Frage nach dem Leiden der Feinde. Eigene Rettung aber kann als ihre Kehrseite Vernichtung der Feinde haben. Zu einer durch Gewalttat verdorbenen Erde gehören Situationen, in denen nur der Tod der Verfolger Rettung der Verfolgten bewirkt. Das Alte Testament kennt andere, humanere Modelle: eine schöne Elisa-Geschichte, in der Gott auf Bitten des Propheten die Feinde mit Blindheit schlägt, so dass sie die Stadt Samaria nicht angreifen, sondern blind hineingeführt werden, und als ihnen drinnen die Augen geöffnet werden, da lässt sie der König auf Geheiß des Propheten nicht erschlagen, sondern zu einem Festmahl laden und dann heimziehen - und so wurde Friede (2Kön 6). Ich frage Sie jetzt nicht, welche von beiden Geschichten realistischer ist, das Schilfmeerwunder oder jenes Wunder von Samaria. Das kann sehr verschieden aussehen, und man muss mit dem Alten Testament begreifen, dass Gott Richter und Retter ist. Mehr noch: dass er gerade als Richter Retter ist, denn richten heißt im Alten Testament, die Dinge in Ordnung zu bringen. Die Welt richten bedeutet, sie heilzumachen: Deshalb jubelt die Welt über Gottes Gericht (Ps 96). Gottes Gerechtigkeit ist ihrem Wesen nach Heilserweis, nicht strafende Gerechtigkeit,6 aber die Heilung der durch menschlichen Frevel verdorbenen Erde hat eine dunkle Kehrseite. Dass Gott auch tötet und (nicht nur) lebendig macht, das ist für alttestamentlichen Glauben keine Anfechtung. Es ist aber nicht sein letztes Wort.

3. Woher das Böse?

Die zweite Frage hat das Alte Testament auf keinen Fall so beantwortet: Dass die Sünde und das Böse von Gott kämen, ist ausgeschlossen. Es gibt nur scheinbare Ausnahmen, so die von Gott gewirkte Verstockung: Pharao beim Exodus ist ein Beispiel, das Gottesvolk in Jes 6 ein anderes, aber Verstockung ist schon ein Akt im göttlichen Gericht über menschlichen Frevel. Es bleibt dabei:

Gott sah an alles, was er geschaffen hatte, und siehe, es war sehr gut.

(Gen 1,31)

Von Gott her ist auch der Mensch sehr gut geschaffen.

Danach kommt im priesterschriftlichen Bericht unvermittelt das Phänomen Gewalttat auf, smj, bei Menschen und Tieren. An Gott liegt es nicht. Die Sünde bleibt in der Verantwortung des Menschen, der seine schöpfungsgemäße Bestimmung überschreitet. Der Widerspruch wird nicht erklärt.

Das ist in der jahwistischen Erzählung von Paradies und Sündenfall nicht anders. Wohl gibt es da als "Mittelglied" die Schlange, die "listiger war als alle Tiere des Feldes" - aber die gehört zu Jahwes Geschöpfen, und ihre Verführerrolle ist, wie Odil Hannes Steck so eindrücklich gezeigt hat,7 am Ende nur dichterische Gestaltung eines zu allen Zeiten wiederkehrenden Vorgangs im Menschen: Es sind die Erwägungen, die der Mensch anstellt, wo er einem Verbot begegnet, das ihn zur Übertretung reizt. Wieder ist die Herleitung der Sünde von Gott ausgeschlossen, und so bleibt die Frage nach dem Ursprung des Bösen unbeantwortet - es sei denn mit dem Hinweis: Es ist der Mensch - der aber ist von Jahwe nicht so geschaffen. Eine andere Antwort ist ausgeschlossen, wo es neben Jahwe keine antagonistische göttliche Macht geben kann.

Das wird bis in die späteste Zeit festgehalten, obwohl es immer wieder zum schweren Problem geworden ist. Man vergleiche noch die Esra-Apokalypse, in der der Seher zwar klagt, dass es für den Menschen besser wäre, nicht entstanden zu sein, als mit dem bösen Herzen ausgestattet zu sein (4. Esr 4,12; 7,116; 3,20-22) - aber er sagt nicht, dass Gott das böse Herz geschaffen habe. - Im Alten Testament gibt es Aussagen, die dem zu widersprechen scheinen: Jes 63,17; 64,4-6; auch Ez 20,25-26. Aber das sind keine Schöpfungsaussagen, sondern wieder extreme Gerichtsaussagen, die gerade auf dem Gedanken des Zusammenhangs von Tun und Geschick basieren: Im Zorn über die menschliche Sünde lässt Gott den Menschen schuldig werden und so umkommen.

Vom Teufel ist im Alten Testament also eigentlich nichts zu sagen. Die wenigen Texte, in denen vom s'a-t.a-n die Rede ist,8 haben mit der späteren dualistischen Vorstellung wenig oder nichts gemein. Jene Personifikation des Bösen ist für das Alte Testament da ausgeschlossen, wo sie zu einer eigenständigen Macht neben Jahwe wird. Sie könnte freilich einer auch im Jahweglauben legitimen Einsicht entsprechen: der Einsicht in die Transsubjektivität des Bösen - die erst da aufkommen kann, wo der Einzelne zum Thema theologischen Denkens wird. Da ginge es um äußere Zwänge, denen sich der Einzelne nicht oder nur mühsam entziehen kann: um den Druck geschichtlich-gesellschaftlich-kultureller Konstellationen, schließlich um das Wesen des Menschen. Damit bliebe "der Böse" noch immer Personifikation eines menschlichen Phänomens, freilich eines, das die Kompetenz des Einzelnen weit überschreitet.9 - Es ist letzten Endes das Phänomen, das in der Dogmatik als Erbsünde erscheint: Gemeint ist ja die Totalität und Allgemeinheit und Unentrinnbarkeit der Sünde.

Fazit: Auf die Frage nach dem letzten Ursprung der Sünde und des Bösen gibt das Alte Testament keine Antwort. Christliche Dogmatik spricht, soweit sie nicht auf die dualistischen Züge des Neuen Testaments und seiner Umwelt rekurriert, von Gottes Zulassung des Bösen oder von der dem Menschen verliehenen Handlungsfreiheit, die der Mensch unter dem Gesetz der Erbsünde verlor. Das sind Interpretationen alttestamentlicher Sachverhalte, über die das Alte Testament nicht weiter reflektiert. Die Freiheit des Menschen - oder sollte man eher sagen: seine Unfreiheit? - zeigt schon die jahwistische Paradiesgeschichte in der dem Menschen so überaus nahe liegenden Entscheidung gegen das eine göttliche Verbot. Dass "das Dichten und Trachten des Menschenherzens böse ist von Jugend an", begründet die Sintflut und wird im göttlichen Entschluss, nie wieder eine Sintflut kommen zu lassen, ausdrücklich bestätigt (Gen 6,5/8,21). Die Prophetie kommt zum gleichen Ergebnis, zuerst im Blick auf das eigene Volk, aber als Exempel für den Menschen überhaupt, wie besonders deutlich einige Jeremiatexte (Jer 13,23; 17,1.9 f.) zeigen. Das non posse non peccare hat also der Sache nach nicht erst die Dogmatik und auch nicht erst Paulus erfunden. Es gehört zum Wesen des Menschen, den Gott doch wie alle seine Werke gut geschaffen hat.

4. "Leiden" in den Psalmen10

Das Phänomen "Leiden" gehört noch aus einem anderen Grund in den Zusammenhang der Schöpfungsaussagen. Hier ist vor allem von den Klagen des Einzelnen zu sprechen, weil darin Leiden in einer Dichte wie nirgends sonst zur Sprache kommt. Eine Fülle von Leidenserfahrungen erscheint in diesen Texten, nicht nur in dem Sinne, dass hier verschiedene Leiden gehäuft werden, sondern mehr noch in der gedichteten Kraft der Sprache.

Diese Psalmen sind unmöglich ohne ihr Gegenstück, die Lobpsalmen, vor allem die Lobpsalmen der Gemeinde, die Hymnen. Die Klage wäre sonst nur der verzweifelte Schrei ins Leere; aber sie bezieht sich auf den Gott, der in den Hymnen gepriesen wird. Jetzt ist Gott "nicht da": Diese Vorgabe unterscheidet die Erfahrung göttlicher Abwesenheit beim Psalmbeter von der so ähnlichen Erfahrung des Atheisten. Gott muss gelobt werden, damit der Mensch klagen kann. Die Hymnen sind vorausgesetzt; besonders schön zeigt das Ps 22:



2 Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen,

bist ferne meiner Hilfe, den Worten meiner Klage!

3 Mein Gott, ich rufe zu dir am Tage, aber du antwortest nicht,

und des Nachts, und finde keine Ruhe.

4 Du aber thronst als Heiliger,

du Lobpreis Israels.

5 Auf dich vertrauten unsere Väter,

vertrauten und du rettetest sie.

6 Zu dir schrien sie und kamen in Sicherheit,

auf dich vertrauten sie und wurden nicht zuschanden.

Unter den Lobgesängen Israels sind die Schöpfungshymnen nur ein herausragendes Beispiel: Es geht immer um den Lobpreis des heilschaffenden Gottes, der seine Gemeinde und die Welt im Heil erhält. In Hymnen antwortet die Gemeinde auf das, was sie als ganze normalerweise von ihrem Gott her erfährt und ihm verdankt. Es gibt Ausnahmesituationen, die die ganze Gemeinschaft betreffen - und es gab sie, wie gesagt, oft genug: Feinde und Erntekatastrophen und Erdbeben und Seuchen -, doch dafür kannte der Kult das Institut der Volksklage oder der Königsklage. Wieder ist selbstverständlich: Das Unheil kommt zuletzt von Jahwe her - auch wenn Feinde oder Heuschrecken auf der Szene erschienen sind. Für die Hymnen steht die Erde durch Jahwes Schöpfungstat inmitten der chaotischen Wasser für immer fest, und doch erfährt die Gemeinde im Unheil, dass die Erde wankt und "Risse durch die Schöpfung" gehen, die nur Jahwe heilen kann (Ps 60,4).

Aber nun die Einzelnen: Ihr Leiden ist ja nichts Seltenes, und ihre Klagen sind für unsere Frage besonders instruktiv. Zunächst: Wer vom Unheil betroffen ist, ist aus der Gemeinschaft derer, die Jahwe ob des empfangenen Heils preisen, geradezu herausgefallen. Er ist in den Bereich des Chaotischen geraten: versinkt in tiefem Schlamm, Wasser gehen über sein Leben (z.B. Ps 69,2 f.15 f.), er ist schon im Totenreich. Das Chaos als lebensbedrohende Gewalt, nun über dem Leben des Einzelnen: Diese Texte entsprechen der Jerusalemer Konzeption der Welt als "Schöpfung", die Jahwes Macht aus den chaotischen Wassern heraushält. Der Abgrund, in den der Leidende versinkt, ist der Bereich der Gottesferne, des Schweigens Gottes; darum die dringenden Bitten um Zuwendung.

Das Chaos erscheint als ein Unheilsraum, der Macht über den Leidenden beansprucht, und doch unterstreichen diese Psalmen mit Nachdruck den alttestamentlichen Grundsatz, dass alles Unheil von Jahwe her kommt, und sie machen ihn überhaupt erst möglich. Mögen reale Feinde den Beter verfolgen oder mit verbrecherischen Machenschaften bedrohen - im entscheidenden läuft die Klage immer auf den Satz hinaus: Warum du, Gott? Hier hat der Topos von der göttlichen Zulassung des Bösen seinen sachlichen Grund. Er dient aber nicht zur Erklärung oder zur Entlastung Gottes. Die Klage, die Gott als den letzten Urheber des Unheils benennt, gründet vielmehr in der Gewissheit, dass allein er auch das Unheil wenden kann - so wie es in Davids Satz hieß: Wir wollen lieber in die Hand Jahwes fallen, denn seine Barmherzigkeit ist groß! Das bedeutet: Der Satz von Gott als Urheber allen Unheils ist im Modus der Klage "wahr" und muss in dieser Relation bleiben. Als davon losgelöste dogmatische Aussage wäre er ganz unmöglich, wie an dem Leidensparadigma "Auschwitz" und an anderen und neueren Verbrechen leicht zu verdeutlichen wäre. In der Erfahrung und der Klage unzähliger Betroffener: "Warum lässt du uns das geschehen?" hat er seinen theologischen Grund. Denn Gott hat den Beter "aus der Welt herausfallen" lassen, ist fern, "verbirgt sein Angesicht" vor ihm.

In dieser Situation wird das Glied der Gemeinschaft dezidiert zum Einzelnen.11 Es ist das Leiden, die Ausnahmesituation, die ihn aus der Gemeinde aussondert.

Ein Wort über die konkreten Anlässe dazwischen: Das sind vor allem schwere Krankheiten, daneben anscheinend gerichtliche Verfolgung (Anklage). Doch erscheint besonders das Letztere oft als metaphorische Rede, die eine Realität des Leidenden anderer Art bezeichnet. Man hat sich gewundert über die ungewöhnlich häufige Erwähnung von Feinden in den Klagen der Einzelnen und hat vielerlei Erklärungen dafür gesucht; etwa: Die Feinde seien Zauberer; oder es handle sich um ursprüngliche Königspsalmen etc. Tatsächlich liegt in der Regel etwas anderes vor.12 Die Klage über die Feinde beschreibt auch die Situation dessen, der sich aus der Gemeinschaft ausgesondert weiß: Die Gemeinschaft wird dem Leidenden zur feindlichen Umwelt. Das kann, muss aber keine objektiven Gründe im Verhalten der Gruppe haben. Wohl legt das Unheilsgeschick den Schuldverdacht nahe: Wer da leidet, ist von Jahwe geschlagen, der wird es möglicherweise verschuldet haben. Der Leidende befindet sich in einer potentiellen, manchmal auch wirklichen Anklagesituation; oder er kann seine Lage so empfinden. Hierher gehören die Unschuldsbeteuerungen des Klagenden: Er ist gerecht, sein Leiden ist nicht verdient, Jahwe möge ihn, den treuen Knecht, erretten (Ps 7; 17 u. ö.).

In anderen Psalmen legt der Beter gerade ein Schuldbekenntnis ab und weist damit selbst den Zusammenhang von Schuld und Leiden auf.13 Auch dafür gab es ein kultisches Institut, wie denn überhaupt vorauszusetzen ist, dass die Texte in aller Regel nicht die Ergüsse einer frommen Seele auf dem Schmerzenslager sind, sondern dass sie eingefügt waren in ein Klageritual, bei dem ein Priester oder ein anderer Kultfunktionär zu amtieren und zu sprechen hatte, das aber wahrscheinlich nicht am Tempel stattfand.14 Der Topos der Klage von der Ferne Gottes mag also auch ganz real als Ferne vom Kultort erfahren worden sein- so ausdrücklich Ps 42,5. Aber es war zugleich die Realität des erfahrenen Chaos (Ps 42,8!), jener Wahrnehmung, "aus der Welt herausgefallen" zu sein.

In diesem Zusammenhang noch etwas zu den Psalmtexten. Ich sagte: In ihnen spricht sich der Einzelne als dezidiert Einzelner, als Isolierter (so seine "subjektive" Empfindung) aus; Leiden macht entsetzlich einsam. Das ist indes nur eine Seite der Sache. Indem er einen Text spricht (oder eher: ein Text für ihn gesprochen wird), der schon der Text vieler Leidender vor ihm war, gerät er objektiv in die Gemeinschaft der Leidenden vor ihm und nach ihm. Das "subjektive" Empfinden der Isolation ist im Text bereits objektiviert, ist zum Regelfall geworden, der denn auch auf einen Regelablauf, auf Wiederherstellung hoffen lässt. Das muss nicht heißen, dass der Leidende sich als Glied der großen Leidensgemeinschaft empfunden hat (wer will das wissen - vielleicht eher das Gefühl: "Das hat schon oft geholfen"). Nur: Jene große Gemeinschaft ist präsent in einer durch vielfachen Gebrauch und unzählige Erfahrungen zurechtgeschliffenen Sprache, die den Leidenden tragen kann - bis in unsere Tage.

Es verhält sich also so: Aus der Gemeinschaft ist der Leidende herausgefallen, und doch stellt die Gemeinschaft das Klageinstitut bereit, mit dem er - wenn denn Jahwe seine Klage hört, ihm ein Heilsorakel gibt und ihn errettet - wieder eingegliedert wird in die Gemeinschaft, in ihr Lob einstimmt und seine im Leiden zugemutete Individualität verliert. Das zeigt sich bis in die Sprachgestalt der Danklieder des Einzelnen - man vergleiche Ps 30, der in den Versen 5-6 einen kleinen Hymnus - das Lob der Gemeinde! - enthält:

5 Singet Jahwe, ihr seine Frommen,

und preist seinen heiligen Namen!

6 Denn einen Augenblick in seinem Zorn, lebenslang in seinem

Wohlgefallen,

am Abend kehrt Weinen ein, aber am Morgen Jubel. (Ps 30,5 f.)

5. Von Schuld und Unschuld

"Schuld und Strafe" sind ein relativ einfaches Erklärungsschema. Dass die Wirklichkeit so einfach nicht ist, lehren nicht erst konkrete, höchst komplizierte Schuldtatbestände unserer Tage, sondern schon ein Blick auf die Welt des Alten Testaments. Anklage und Unheilsankündigung der vorexilischen Propheten gelten einem ganzen Volk, das Unheil als Strafe Jahwes trifft die Gesamtgemeinschaft, obwohl doch nicht alle gleichermaßen schuldig sind. Doch wird die Gemeinschaft als Einheit verstanden, die durch die in ihr geschehenden Verbrechen insgesamt zerrüttet ist. Das Problem erscheint im Alten Testament da, wo das Individuum zum Thema wird. Dass das Schuld-Strafe-Schema hier nicht ausreicht, ist klar. Darum ist uns auch die Deutung eines bestimmten Unheils als göttlicher Strafe verwehrt. Doch soll man angesichts des Leidens nicht vorschnell protestieren. "Hiob", der Gerechte, ist eine Idealkonstruktion, nicht "Jedermann". Die Verstrickung von eigener Schuld und Unheil ist keine spezifisch religiöse Einsicht; man kann sie verdrängen, aber nicht bestreiten, sie ist auch der säkularen Welt vertraut. Ich muss das jetzt nicht näher erläutern.

Unschuldiges Leiden dagegen ist zwar kein theoretisches, wohl aber ein praktisches Problem in den Psalmen der Klagenden, die sich vor Jahwe gegen die Anschuldigungen der "Feinde" verteidigen (z. B. Ps 17; 35; 109). Da kann schon das Glück der Gottlosen thematisch werden: Die Feinde sind gottlos, sind im Glück (z. B. Ps 10) - auch das ist hier noch existentiell und nur insoweit objektiviert, als es die Texte sind.

Zum dichterisch-theologischen Thema wird das Leiden des Unschuldigen bekanntlich im Hiobbuch. Seine "große Lösung" bekommt es in den Gottesreden. Das ist im Sinn des Dichters nicht die einzige Antwort. Die Reden der drei Freunde sind nicht umsonst und nicht als Karikatur herkömmlicher Frömmigkeit verfasst. Es fällt zum Beispiel auf, dass die "gültige" Antwort der Gottesreden bei den Freunden teilweise vorweggenommen wird. Wir entnehmen ihnen einige Hinweise, wie man sich in Israel mit der uralten Menschheitsfrage nach Sinn und Grund des Leidens auseinandergesetzt hat.

Und das sind wahrlich keine Theorien über das "Vergeltungsdogma"! So sucht der erste Freund Hiob sehr behutsam zu trösten:

Ist nicht deine Gottesfurcht dein Vertrauen

und deine Hoffnung dein vollkommener Wandel?

Denk doch nach: Wer ging je unschuldig zugrunde ...? (Hiob 4,6 f.)

Da wird also dem Hiob Unschuld attestiert. Nur ist es nicht so, dass der Ausgleich zwischen Tat und Geschick immer gleich zustande käme. Die Erfahrung lehrt: Man muss dem Leiden mit Geduld begegnen, Vertrauen haben, Hoffnung bewahren: Ist das so töricht, dass jeder über die Freunde herziehen könnte?

Ein anderer Versuch:

Glücklich der Mann, den Gott zurechtweist;

verachte nicht die Zucht des Allmächtigen! (Hiob 5,17)

- denn Jahwe heilt auch wieder, stellt wieder her. Das Motiv "Leiden als Zuchtmittel" ist der Weisheit geläufig; sie versteht es analog zur Züchtigung in der Erziehung.15 Die antiken Erziehungsmethoden sind obsolet geworden, das analoge Modell aber kann man in unsere Erfahrungswelt übersetzen, z. B. weil Leiden, Entzug, Frustrationen, Einsicht in die Grenzen des Daseins zum Reifeprozess des Menschen gehören.

Ein letzter Erklärungsversuch16 dieses Freundes geht über das Normalmaß der Weisheit hinaus und endet in einer Aporie. Er redet von der Übermacht Gottes und von seinem unendlichen Abstand zum Menschen, so auch von seinem Zorneshandeln, das die Vergänglichkeit und das allgemeine Todesgeschick des Menschen begründet. Das entspricht der Vergänglichkeitsklage des 90. Psalms, für den die übliche Rechnung von Schuld und Strafe längst nicht mehr aufgeht, weil Gott die verborgene, unerkannte Sünde des Menschen ins Visier nimmt. Und so heißt es hier:

Ist ein Mensch vor Gott gerecht,

ist vor seinem Schöpfer rein ein Mann?

Sieh, seinen Dienern traut er nicht,

seinen Engeln hält er Irrtum vor -

wieviel mehr die Bewohner der Hütte von Lehm ... (Hiob 4,17-19)

"Vor Gott ist niemand gerecht." Man kann wohl schuldlos sein, aber man kann sich vor Gott nicht darauf berufen - denn der Mensch ist vergänglich, hinfällig, überaus kurzlebig: eine Eintagsfliege, die nichts durchzusetzen hat, die so oder so bald das allgemeine Los trifft. Göttlicher Zorn, menschliche Vergänglichkeit: Hiob hat das Motiv in seinen Klagen und Anklagen Gottes vielfach aufgenommen. "Zorn Gottes" wäre für sich genommen eine trostlose Erklärung. Er ist aber nur eine Teilwahrheit von Gott, die geradezu paradox zu ergänzen ist; darum folgt der Rat:

Ich aber würde mich an Gott wenden,

meine Angelegenheit vor Gott bringen (Hiob 5,8)

- der überall im Weltgang seine Gerechtigkeit (= Heilstat) erweist. Von diesem dem Menschen nur partiell durchschaubaren, oft verborgenen Erweis schöpferischer Heilung der Welt sprechen auch die Gottesreden am Schluss des Hiobdialogs.

Das muss hier genügen.17 So gewiss die Frage nach dem Leiden theoretisch zuletzt nicht zu beantworten ist, so nötig sind die vorläufigen Versuche. Ein Menschenleben braucht viele Antworten, nicht immer nur die eine und letzte: Das wäre unmenschlich! Nur dass die letzte Antwort die vorläufigen möglich und erträglich macht.

Auch für den Verfasser des Hiobdialogs wird Leiden durch seine endliche Aufhebung bewältigt, und so hat er die ältere Rahmenerzählung mit der Wiederherstellung Hiobs übernommen,18 weil das zu einer befriedigenden Lösung hinzugehört. Im übrigen kann nur ein Kleinbürger die bürgerliche Wiederherstellung Hiobs als kleinbürgerliche Lösung verschreien. Wer jemals auch nur ein geringes Maß von "Hiobs" Leiden erfahren hat, weiß, was solche Wiederherstellung bedeutet. Man darf sie nur nicht als die einzige Antwort auf das Leiden gelten lassen, weil bei Hiob bereits ein größerer Spielraum gewonnen wird, der über die weltliche Existenz hinaus tragen kann. Das Ergebnis seines Ringens mit Gott kann Hiob einmal so formulieren:

Ich weiß, mein Löser ist am Leben,

als letzter wird er auf dem Staube stehen;

und nachdem meine Haut so geschunden ist,

werde ich ohne mein Fleisch Gott schauen,

ihn, den ich selber mir erschaue,

den meine Augen sehen, nicht als Feind. (Hiob 19,25-27)

Der textlich schwierige Passus spricht von der Erwartung einer Gottesbegegnung, die durch die Vernichtung des eigenen Lebens nicht verhindert werden kann und in der Gott für ihn eintritt.19

Solche letzten Lösungen sind kein Anlass zu Weltverachtung und Weltflucht - das wäre ganz unalttestamentlich. Noch die Legende von den drei Männern im Feuerofen, Dan 3, formuliert das ganz klar:

Unser Gott, dem wir dienen, vermag uns zu retten; aus dem brennenden Feuerofen und aus deiner Hand, o König, wird er uns retten.

(Dan 3,17)

Das ist die weltliche Erwartung. Sie ist noch nicht alles, denn der Text fährt fort:

Wenn aber nicht ...

- was dann? Das ist doch unser Problem! Nun, hören Sie:

Wenn aber nicht, so sollst du, König, wissen, daß wir deinen Göttern nicht dienen und das goldene Bild, das du aufgestellt hast, nicht

verehren werden.

Wieder das erste Gebot; es bedeutet mehr als Leiden, als der Märtyrertod. Es wird hier nicht formuliert, was es für jene Märtyrer bedeutet, die nicht - nicht weltlich - gerettet wurden. Aber es ist für solche aufgeschrieben. Und 100 Jahre später, in 2Makk 7, kann die Erwartung der Märtyrer ausdrücklich artikuliert werden: Gott erbarmt sich seiner Knechte - das heißt nun: Er wird sie zum Leben auferwecken.

6. Der Tod und letzte Antworten des Alten Testaments

Dass es die Lösung durch Wiederherstellung nicht in jedem Fall gab, dass zugleich bewusst wurde, dass die Frage nach Schuld nicht zureicht, das hält das Problem lebendig. Die kultische Lösung, das Klageritual, versagte ja am Ende vor dem Tod - nicht dem noch vorläufigen ("schon im Totenreich"), aber vor dem endgültigen. Hier blieb ein Unterschied zwischen Tod und Tod; hier war eine letzte Grenze, über die es nach traditionellem und lange festgehaltenem Verständnis Israels keine Rückkehr gab. "Die Toten loben Gott nicht" - nun, auch die in Krankheit "Toten" nicht, aber sie können noch in den Lebensbereich vor Jahwe zurückgeholt werden.

Zunächst geht es hier immer um den vorzeitigen Tod - der Tod im schönen Alter, alt und lebenssatt, wird, wie es scheint, erst allmählich zum Problem. Mindestens berichten die Quellen nichts davon, und das heißt soviel, dass solch ein Problem - falls es das bei den Sterbenden doch gab - nicht ins öffentliche Bewusstsein drang. Dass der Tod gerade unter dem Aspekt der Frage nach einer fortdauernden Gemeinschaft mit Jahwe problematisch wurde und dass das Problem von daher eine Lösung fand, zeigt eine Reihe von Psalmen, am bekanntesten der 73. Psalm.20

Doch ist noch einmal zu unterstreichen, dass auch der Tod nicht als eine gottfeindliche Macht zu verstehen war. Er wurde je länger je mehr zum Feind des Menschen, aber er blieb in Jahwes Gewalt. Der Weise Jesus Sirach schreibt noch im 2. Jh. v. Chr.:

Gutes und Schlimmes, Leben und Tod,

Armut und Reichtum - vom Herrn kommen sie. (JesSir 11,14)

Das ist nichts anderes als der schon zitierte Satz des Hiob der Rahmen-Erzählung:

Haben wir das Gute von Gott empfangen

und sollten das Böse nicht (nämlich: von ihm!) empfangen?

(Hiob 2,10)

Der Tod keine gottfeindliche Macht, sondern in Jahwes Verfügung: Es bleibt auch in dieser letzten Frage bei dem Gottesprädikat "Jahwe, der Heil bildet und Unheil schafft" - wie Deuterojesaja das verkündete.

Dem ist jetzt etwas hinzuzufügen. Das war bei Deuterojesaja nicht bloß ein zeitloser theologischer Grundsatz. Das war eine Gottesprädikation, die mit Jahwes eschatologischem Handeln zusammenfiel: er allein, für die ganze Welt, alle Völker zuständig, Heil und Unheil schaffend - jetzt aber gerade im Begriff, das große Heilswerk an der ganzen Welt zu vollenden. Er war zu verkünden als der einzige Gott, der sein universales Vermögen, Heil und Unheil umfassend, jetzt und fortan zum Heil der Welt einsetzt, und das nicht mehr vorläufig, überholbar, partiell, sondern endgültig und universal. Dazu gehört, dass dieser Gott bei Deuterojesaja nicht bloß als der einzige proklamiert und erwiesen wird - das wäre eine nichtssagende Theorie! -, sondern als der einzige Rettergott; fast stereotyp. Deuterojesajas "Monotheismus" - und bei ihm könnte man tatsächlich davon reden, weil er die Wirksamkeit und damit die Existenz anderer Götter bestreitet (denn wer nichts bewirkt, ist kein Gott) - Deuterojesajas Monotheismus also ist eminent praktisch und muss es von dem Begriff Gottes her sein: weil er als Gott wirkt, anders wäre er nicht Gott,21 und nun eben zu einem endgültigen Heil der Welt. Von diesem eschatologischen Heilswerk Jahwes her löst sich allein das theologische und zugleich das praktische Problem des Leidens und des Bösen in der Welt. Damit wird auch vergangenes Leiden verwandelt, obsolet und aufgehoben. Bei Deuterojesaja ist das wie bei anderen Propheten eine Lösung, die für menschliche Betätigung nur geringen Raum lässt.

Der Tod ist bei Deuterojesaja noch kein aktuelles Problem. Ein später Nachfolger des Propheten streift es, wo er die neue Welt zu schildern versucht. Der Passus setzt mit einer großen Geste ein:

Siehe, ich schaffe einen neuen Himmel und eine neue Erde

(Jes 65,17).

Neuschöpfung ist allerdings die letzte Antwort auf die Leidensfrage, und das kann nur eine universale Antwort sein. Wo aber das Neue konkret vorgestellt werden soll, wird der Horizont ganz klein - Jerusalem und seine Bewohner:

Nicht mehr hört man darin

Weinen und Wehklage,

nicht mehr gibt's dort

einen Säugling nur weniger Tage

und einen Greis, der seine Zeit nicht erfüllte,

sondern als Knabe stirbt man mit hundert Jahren ...

(Jes 65,19b-20aba.)

Ein langes, erfülltes und gesegnetes, noch kein ewiges Leben kennzeichnet die neue Welt: Das genügt hier für ein Ende des Leidens.

Nur wenige Texte blicken darüber hinaus. Doch gehört die Auferweckung der Toten, verstanden als ein Gottesprädikat, in eine Summe alttestamentlicher Theologie. In Ezechiels Vision des riesigen Gebeinfelds, das durch Jahwes lebenschaffenden Geist lebendig wird, geht es noch um das Volk. Gleichwohl ist in solchem Text - unabhängig von den Hoffnungen für den Einzelnen - ein Machtbereich des Schöpfergottes wahrgenommen, der im Grundsatz dem Jahweglauben längst selbstverständlich sein musste: Jahwe schafft Leben, macht lebendig. Dass solche Macht Jahwes noch nicht im Blick auf den Einzelnen und sein künftiges Geschick, sein Ende (Tod), reflektiert war, sondern nur im Blick auf seinen Anfang (Geburt), ist dadurch bedingt, dass die Frage nach der Dauer des Einzelnen sich nicht oder nicht nachdrücklich gestellt hat. Eine Machtfrage konnte es für den Jahweglauben grundsätzlich nicht sein: Das ist durch das erste Gebot ausgeschlossen. Oder um es anschaulich mit der antiken Mythologie zu sagen: Einen Hüter und Herrn des Totenreiches und der Unterwelt konnte es neben Jahwe nicht geben.

Es gab natürlich in älterer Zeit keine abstrakten Aussagen von der Macht Jahwes, die Toten aufzuerwecken. Wenn aber in der Spätzeit und am Rande des Alten Testaments von der Auferweckung der Toten die Rede ist, dann ist das keine Randerscheinung, die man vernachlässigen, der gegenüber man sich auf das "eigentliche" Alte Testament zurückziehen könnte - weil einem die Auferweckung der Toten nicht schmeckt, nicht ins moderne Bewusstsein passt oder wie einigen Athenern von Apg 17 zum Gespött dient. Mit der Auferweckung der Toten wird ein für den Jahweglauben zentraler Satz ausgelegt: Jahwes Einzigkeit und Schöpfermacht. Israel konnte nur fragen, ob Jahwe dazu bereit war.

Die Hoffnung auf die Auferweckung der Toten ist im Zusammenhang des ungelösten Leidensproblems aufgekommen: Da war immer ein Rest, der nicht aufging - war es in Sonderheit da, wo Juden als Märtyrer starben, weil sie am Jahweglauben festhielten. Für die Märtyrer ist diese Erwartung in 2Makk 7 gewiss.

Im 2. Jh. findet sich auch die "doppelte" Auferstehungserwartung:

Viele von denen, die schlafen im Erdenstaube, werden erwachen,

die einen zum ewigen Leben, die andern ... zu ewigem Abscheu.

(Dan 12,2)

Der doppelte Zweck hat auch eine paränetische Funktion, aber man kann fragen, ob diese lehrhafte Aussage über den positiven und negativen Ausgleich im Jenseits, so konsequent er gedacht ist, ein theologischer Gewinn ist.

Die Hoffnung auf eine Überwindung des Todesgeschicks ruht indes auf einer viel breiteren Basis. Schon die Jesaja-Apokalypse, wohl im 3. Jh., weiß:

Deine Toten werden leben ... werden auferstehen. (Jes 26,19)

Vernichten wird er den Tod auf ewig, abwischen ... die Tränen von jedem Antlitz. (Jes 25,8)

Schließlich ist daran zu erinnern, dass eine letzte Grenze bereits in der Gewissheit einer den Tod überdauernden Gottesgemeinschaft (Ps 73) oder in Hiobs Erwartung einer Rechtfertigung durch Gott im Tod (Hiob 19,25-27) überschritten ist.

7. Von einem neuen Weg Gottes zur Überwindung des Leidens

Die Auferstehungserwartung mit doppeltem Ziel nimmt auf einer anderen Ebene nur ein altes und lange selbstverständliches Motiv auf, wenn sie nun auf die ewig neue Vernichtung der Feinde im Jenseits hofft. So ist zuletzt noch einmal vom Leiden der "anderen" zu reden, der Verfolger, mit deren Untergang das Leiden des eigenen Volkes endet - die Konstellation ist ja besonders aktuell. Vernichtung der Feinde ist aber nicht das letzte Wort. Das Alte Testament weiß von einem anderen Weg Gottes, der im Neuen Testament bedeutsam wird. Die verschiedenen Antworten des Alten Testaments auf die Leidensfrage sind damit nicht überholt, aber sie sind ergänzungsbedürftig und bekommen einen neuen Sinn im Rahmen der einen Antwort, die im Alten Testament von ferne anklingt: dass Gott selbst leidet, um die Welt heil zu machen. Ich kann das hier nur noch andeuten. Gottes Leiden an dem Unheil, das er über sein Volk verhängt, trifft man zuerst in Hoseas (vgl. Hos 11) und Jeremias Botschaft an. Das Mitleiden Gottes nimmt Gestalt an im Leiden des Propheten, der für das Unheil einstehen muss: Der Bote vertritt seinen Auftraggeber. Im vierten Gottesknechtslied, Jes 53, wird das zum grundlegenden Modell göttlichen Heilshandelns: Durch Leiden und Tod des Boten und das göttliche Wunder seines neuen Lebens kommen Israel und die Welt zur Erkenntnis, und so wird Gottes Herrschaft begründet und die Welt heil.22

Das Ereignis, in dem Gott selbst leidet, und nicht die Rettung Israels am Schilfmeer, begründet christlichen Glauben. Von daher wird das Wunder der Rettung am Schilfmeer noch einmal neu wahrgenommen. In solcher Wahrnehmung Gottes wird unsere Wahrnehmung der Welt verändert, indem wir nun Anteil nehmen können an Gottes Trauer über die Welt und an seinem Erbarmen.

Ein Riss durch die Schöpfung? In der Tat, das war dem alten Israel wohl bewusst, aber der "Fels des Atheismus" war ihm nur die traurige Alternative der Toren. Der Jahweglaube hat das Unheil von Jahwe angenommen, weil er das Heil von ihm erwartet. Warum es Leiden in der Welt gibt, darauf hat er vorläufige Antworten, aber darüber hinaus hat er es als Gottes Geheimnis respektiert, zuletzt in der Gewissheit, dass die Frage dort beantwortet wird, wo das Leiden in einer neuen Schöpfung endet und "alle Risse durch die Welten heilen"23.

Summary

Within the Old Testament suffering must be treated within the theological context of creation, human sinfulness, and the First Commandment. The origin of evil and sinfulness in the very good order of creation is not explained, but any dualistic solution is excluded by the First Commandment: In the end every evil originates in YHWH who make[s] peace and create[s] evil (Isaiah 45:7). The statement of YHWH being also originator of evil is based on the lament that at the same time expects restoration by YHWH; it has its truth in the mode of lament and cannot be dissolved from it or taught as an isolated theorem. Sin, on the other hand, is entirely a matter of human responsibility. In line with the First Commandment the Old Testament excludes the devil as an anti-divine power. It recognizes, however, the experience of trans-subjective evil that goes beyond the individual and yet remains a human phenomenon. Suffering as the result of one's own or another's guilt is not a theological issue yet, but it is adumbrated in the laments that include declarations of innocence or confessions of guilt before YHWH. The Book of Job treats innocent suffering as inexplicable but not as meaningless. The problem of individual suffering can be solved within this life through individual restoration, and beyond that in fellowship with God surviving death. The suffering world expects YHWH's eschatological act of salvation in a new creation and in the final victory of life over death through a life-giving God. In the late texts of the Old Testament the idea of the awakening from the dead is used to interpret the central message of YHWH's uniqueness and creative power.

Fussnoten:

* Vorgetragen bei der Akademischen Gedenkfeier der Theologischen Fakultät der Universität Zürich für Odil Hannes Steck am 6. April 2002. Die Form des Vortrags ist beibehalten, der Text durch einige Ergänzungen und Anmerkungen erweitert. Der Titel knüpft an eine Studie des Alttestamentlers Hans Schmidt zum gleichen Thema an: Hans Schmidt, Gott und das Leid im Alten Testament, Vorträge der theologischen Konferenz zu Gießen 42, Gießen 1926. Der Titel ist seitdem mehrfach, auch in anderen theologischen Disziplinen, wieder aufgenommen worden, z. B. bei Hans Küng, Gott und das Leid, Theologische Meditationen 18, Einsiedeln 1967.

1) Georg Büchner, Dantons Tod, 3. Akt, in: G. Büchner, Werke und Briefe. Neue, durchgesehene Ausgabe, hrsg. von F. Bergemann, Frankfurt a. M.: Insel 131979, 53.

2) Eine eindrückliche Schilderung der im Alten Testament überlieferten Leidenserfahrungen Israels gibt H. Schmidt, a. a. O., 1 ff.

3) Sie ist in dieser oder jener Form bereits der antiken Skepsis geläufig, vgl. das Epikur-Zitat bei Lactantius, de ira dei 13,19: "deus, inquit, aut uult tollere mala et non potest, aut potest et non uult aut neque uult neque potest, aut et uult et potest. si uult et non potest, inbecillis est, quod in deum non cadit. si potest et non uult, inuidus, quod aeque alienum a deo. si neque uult neque potest, et inuidus et inbecillis est, ideo nec deus. si et uult et potest, quod solum deo conuenit, unde ergo sunt mala? aut cur illa non tollit?" (zitiert nach H. Usener (ed.), Epicurea, 1887, Nachdruck Stuttgart 1966, 253). Die Fragestellung ist banal und verbreitet; unausgesprochen steht sie z. B. im Hintergrund des Zweifels an Jahwes Heilswillen und Heilsmacht bei den Hörern Deuterojesajas. Die spezielle Anfechtung von Leidenden ist bei Epikur nur verallgemeinert und zum skeptischen Argument geworden; die Existenz Gottes oder der Götter will auch er nicht leugnen, wohl aber ihre Beziehung zur Welt.

4) H. Schmidt, a. a. O., 7 f., führt einige Belege für Dämonen und böse Geister als Urheber des Leidens im Alten Testament auf. Die Belege sind z. T. zweifelhaft, z. T. nur durch Textkorrektur zu gewinnen, aber es ist nicht zu bezweifeln, dass es solche Dämonenfurcht im alten Israel gegeben hat. Nur gehört das nicht in eine Theologie des Alten Testaments. H. Schmidt bemerkt selbst, dass solcher Dämonenglaube "tief unter der Oberfläche der alttestamentlichen Religion" liege und die "Dämonen" im Alten Testament meist im Auftrag Jahwes handeln (8). Theologischer Maßstab für das Alte Testament ist das erste Gebot, dessen heute umstrittenes Alter dafür keine Rolle spielt.

5) Zu Jes 45,7 vgl. Marcions Polemik bei Tertullian, Adv. Marcionem I,2, in: A. von Harnack, Marcion, Leipzig 21924, Nachdr. Berlin 1960, Beilage V: Die Antithesen Marcions, 271*.

6) Vgl. G. von Rad, Theologie des Alten Testaments, Bd. I München 41962, 382 ff.389.

7) O. H. Steck, Die Paradieserzählung (1970), wieder abgedruckt in: Ders., Wahrnehmungen Gottes im Alten Testament. Gesammelte Studien, TB 70, 1982, 9-116, 90 f.

8) Sach 3,1 f.; Hiob 1; 2; 1Chron 21,1; vgl. noch Num 22,22 f. für den Engel Jahwes (mal'ak jhwh). Texte, in denen satan einen menschlichen Widersacher bezeichnet, kommen hier natürlich nicht in Betracht.

9) Wenn zu Beginn von den unsäglichen Leiden in deutschen Konzentrationslagern als Leidensparadigma unserer Zeit die Rede war, so ist damit ja auch die andere Seite der Sache präsent: der Schock über die unsäglichen Verbrechen von Menschen, für die "das Böse" habituell und alltäglich geworden ist.

10) Vgl. O. H. Steck, Friedensvorstellungen im alten Jerusalem, ThSt 111, 1972.

11) Vgl. O. H. Steck, Friedensvorstellungen, 36 Anm. 84.

12) Vgl. dazu O. Keel, Feinde und Gottesleugner (1969).

13) Z. B. Ps 25; 32; schon rückblickend Ps 51.

14) Ein nützlicher Versuch, ein solches Ritual zu eruieren und zu beschreiben, findet sich bei E. Gerstenberger, Der bittende Mensch, WMANT 51, Neukirchen-Vluyn 1980 - allerdings mit manchen problematischen soziologischen Konstruktionen belastet. Dass es für solche Fälle Rituale gab, mit denen dem Kranken geholfen wurde, sollte man erst verstehen, ehe man es als antike Absonderlichkeit abtut. Es geht dabei um die Frage, was bestimmte Gesten in geprägten Situationen bedeuten - man nennt das heute "nonverbale Kommunikation" -: Darauf ist man wieder aufmerksam geworden und nicht so schnell bereit, von bloßen Äußerlichkeiten zu reden. Oder man denke - ein verwandtes Thema! - an den weithin ritualisierten Ablauf von Beerdigungen (nicht nur die eigentliche Grabfeier, sondern auch alles Drumherum!) und was das - positiv! - bedeutet.

15) Wir haben dieselbe Auskunft noch im Hebräerbrief, 12,5 f. - mit einem alttestamentlichen Zitat aus den Proverbien (Prov 3,11 f.), und auch Paulus setzt den Gedanken in 1Kor 11,32 selbstverständlich voraus: Leiden dient der Erziehung. Daran ist schwierig, dass der Vater oder Lehrer, der seinen Sohn oder Schüler züchtigt, heute gar nicht mehr selbstverständlich, sondern anstößig ist. Man kann also Leiden nicht - partiell - mit solchem Vergleich erklären - er trägt nicht mehr. Aber das betrifft die Veranschaulichung, nicht unbedingt die gemeinte Sache.

16) Im Verlauf der Rede schließt er an den ersten Trostversuch an (Hiob 4,6 f., s. o.), in dem ja der Faktor "Zeit", die Distanz zwischen Handeln und Geschick, nicht erklärt wird. So muss es einen Grund dafür geben, dass der Fromme überhaupt leiden muss.

17) Zu der vorausgesetzten Deutung des Hiobbuches vgl. H.-J. Hermisson, Notizen zu Hiob (1989), in: Ders., Studien zu Prophetie und Weisheit, FAT 23, Tübingen 1998, 286-299.

18) Dass die Prosaerzählung älter ist und zuerst für sich existierte, ist heute nicht einmal mehr so sicher; für möglich hält man auch den gleichen Verfasser von Rahmen und Dialog, vgl. K. Schmid, Der Hiobprolog und das Hiobproblem, in: M. Oeming/K. Schmid, Hiobs Weg. Stationen von Menschen im Leid, Biblisch-theologische Studien 45, Neukirchen-Vluyn 2001, 9-34.

19) An Auferweckung des toten Hiob ist gewiss nicht zu denken, aber an das Paradox, dass ihm zumindest "im Tode" zuteil wird, was ihm im Leben versagt blieb. Dabei ist zu beachten, dass "Tod" ein viel weiträumigeres Phänomen ist: Nach altisraelitischem Verständnis befindet sich Hiob bereits "im Tod". Letzten Endes baut die Diskussion darüber, ob die Lösung hier "vor oder nach dem medizinisch feststellbaren Tod Hiobs" erwartet wird, eine dem Text unangemessene Alternative auf. Wesentlich ist: Hiob wird "Gott schauen" - das steht ganz offensichtlich als Ausdruck für Heilserfahrung, und zwar "ohne Haut und Fleisch": also im äußersten Unheil, im Tod. Diese Paradoxie bleibt bestehen, und gerade damit ist erwiesen, dass Hiob h.inna-m "umsonst, ohne Lohn" gottesfürchtig ist und Gott die "Wette gewonnen" hat (1,9; 2,4-6). - Vgl. noch Hiob 16,18- 21.

20) Ps 73 hat eine doppelte Lösung: Hinsichtlich der Gottlosen im Glück ihr plötzliches Ende - das ist noch weisheitlich-konventionell, im Blick auf das eigene Geschick die Gewissheit einer den Tod überdauernden Gottesgemeinschaft. Darin berührt sich die Erwartung des Psalmisten mit der Hiobs in Hiob 19,25-27. - Vgl. H. Gese, Die Frage nach dem Lebenssinn: Hiob und die Folgen (1982), in: Ders., Alttestamentliche Studien, Tübingen 1991, 170-188, 181 f.; G. von Rad, "Gerechtigkeit" und "Leben" in der Kultsprache der Psalmen (1950), in: Ders., Ges. Studien zum Alten Testament, TB 8, München 21961, 225-247, 243-245.

21) Man vergleiche dagegen die nichts bewirkenden "Götter" Epikurs (s. o. Anm. 4)!

22) Zur Begründung der Auslegung s. H.-J. Hermisson, Das vierte Gottesknechtslied im deuterojesajanischen Kontext (1996), in: Ders., Studien (s. Anm. 17), 220-240.

23) Die Wendung schließt an ein Gedicht Oskar Loerkes an, in dem es vom "selbstgefundnen Klang", dem Dichterwort, heißt: "Der Riß in meinem Leben heilt daran/und manche Risse durch die Welten heilen ..." Loerke knüpft wohl seinerseits, hier wie andernorts, an alttestamentliche Sprache an, vgl. Ps 60,4. Vgl. O. Loerke, Dichter, in: Ders., Gedichte, ausgewählt von Günter Eich, Bibliothek Suhrkamp 114, Frankfurt a. M. 1963, 52.