Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Dezember/2002

Spalte:

1368–1371

Kategorie:

Interkulturelle Theologie, Missionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Heyden, Ulrich van der, u. Jürgen Becher [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Mission und Gewalt. Der Umgang christlicher Missionen mit Gewalt und die Ausbreitung des Christentums in Afrika und Asien in der Zeit von 1792 bis 1918/19.

Verlag:

Stuttgart: Steiner 2000. 557 S. gr.8 = Missionsgeschichtliches Archiv, 6. Geb. ¬ 81,00. ISBN 3-515-07624-7.

Rezensent:

Frank Usarski

Der hier besprochene Sammelband präsentiert die Ergebnisse eines gleichnamigen Symposiums, das im Februar 1999 in Berlin von der Berliner Gesellschaft für Missionsgeschichte, dem Lehrstuhl für Missionswissenschaft und dem Seminar für Afrikawissenschaften an der Humboldt-Universität ausgerichtet wurde. Das Thema erfährt eine gewissermaßen "negative" Rechtfertigung durch den Aufsatz von Frank Foerster, der in Form einer Fallstudie das gewaltlose, schließlich jedoch gescheiterte Missionskonzept von Christian Friedrich Spittler beschreibt. Der Umkehrfrage, inwieweit Gewalt, in welcher Form auch immer, eine typische Begleiterscheinung von langfristig angelegten Missionen ist, wird im Werk in vier Unterabteilungen nachgegangen. Zwei der Blöcke mit insgesamt 26 subsumierten Artikeln beziehen sich auf den afrikanischen Kontinent. Die restlichen Titel verteilen sich auf die einleitende Sektion "Christliche und islamische Ausbreitung vom frühen 18. Jahrhundert bis 1918/19" (8 Titel) und auf das Teilthema "Mission und Gewalt in Asien" (5 Titel).

Die Mehrheit der Aufsätze legt einen Gewaltbegriff zu Grunde, der - wie Sigvard von Sicard sozusagen repräsentativ für das Gesamtwerk formuliert (112) - auf politisch abgesicherter Autorität und struktureller Macht beruht, sich demnach also keineswegs auf den Terminus "Gewalttätigkeit" reduzieren lässt. Dass ein solches Verständnis dem im Titel umrissenen Untersuchungszeitraum tatsächlich adäquat ist, plausibilisiert der Beitrag von Gunther Pakendorf zum Thema "Mission als Gewalt. Die Missionsordnung im 19. Jahrhundert". Der Autor sieht im Übergang von feudalistisch-absolutistischen zu demokratischen Standards und in einer sich durchsetzenden bürgerlichen Vorstellung von Öffentlichkeit entscheidende Faktoren für einen Wandel des gesamtgesellschaftlich und damit auch für "Bekehrungsunternehmen" wirksamen Gewaltkonzepts. Dieses ist nicht mehr im Sinne von "unrechtmäßigem Vorgehen" oder gar "rücksichtslos angewandter physischer Kraft" unmittelbar evident, sondern manifestiert sich in subtileren Formen, die einer entsprechend aufwendigeren Analyse bedürfen.

Angesichts zunehmender Komplexitäten warnt allerdings Irving Hexham vor der missbräuchlichen Überinterpretation scheinbar evidenter Fakten. Der Titel des Beitrags "Violating Missionary Culture. The Tyranny of Theory and the Ethics of Historical Research" gibt dabei programmatisch den Argumentationsgang vor. Geschichte, so die metatheoretisch relevante Botschaft Hexhams, ist mehrdeutig. Sie wird von "grand theories", die christliche Missionsbestrebungen auf imperialistisch-kapitalistische Unternehmen verkürzen, nicht angemessen erfasst. Soll die missionsgeschichtliche Forschung nicht selber zu einem Akt intellektueller Gewalt werden, muss sie sich für perspektivisch variable Konzepte und Arbeitsweisen entscheiden, die die Daten in ihren tatsächlichen Ambivalenzen belassen.

Diese Mehrdeutigkeiten scheinen im besprochenen Gesamtwerk idealtypisch im Sinne von drei parallel verlaufenden thematischen Hauptlinien auf, auch wenn sich einige Aufsätze, so zum Beispiel der instruktive Beitrag von Andreas Feldtkeller über den "Vorbildcharakter" des Christentums für früh-islamische Gewaltkonzepte, dieser Systematik entziehen.

Der größte Teil der Beiträge macht bestimmte Missionsgesellschaften bzw. ihre Vertreter als Urheber oder wenigstens "Vollstrecker" von Gewalt (mit-)verantwortlich. Heuristisch wegweisend sind hier die Überlegungen von Werner Ustorf über die psychologischen Bedingungen, unter denen Missionare in der außer-europäischen, emotional belastenden Fremde gegenüber "Heiden" auftraten und trotz aller biblischer Selbstbeteuerungen immer wieder eine Bereitschaft zur Gewaltanwendung offenbarten. Mit Blick auf deren Manifestationen verweist Ernst Dammann in seinen autobiographisch angereicherten "Gedanken eines alten Missionars über Gewalt in der Mission in Schwarzafrika" unter anderem auf das Phänomen der "geistlichen Gewalt", d. h. auf die Tendenz, Nicht-Christen zu ideologischen "Gegnern" abzuwerten. Beispiele für eurozentristische Attitüden als zusätzliche Quellen religiöser Überlegenheitsgefühle finden sich unter anderem in den Reflexionen von Cuthbert K. Omari über die frühen Berliner Missionare in Tansania, im Beitrag von Vera Mielke über das Wirken von Missionarinnen in China oder in den Ausführungen von Adjai Paulin Oloukpona-Yinnon über die Bremer Missionare in Togo. Wie Michal Pesek am Beispiel von Deutsch-Ostafrika in den Jahren zwischen 1908 und 1914 veranschaulicht, waren Missionen und ihre Vertreter eingebunden in ein komplexes Wechselspiel von Interessen und temporären Allianzen, die zu Kompromissen nötigten, wenn man den Fortbestand der eigenen Arbeit politisch nicht gefährden wollte. Ebenfalls noch innerhalb des ersten Themenkomplexes angesiedelt sind drei Beiträge (Kathrin Roller, Ursula Trüper, Sara Pugach), die sich für die realitätsstiftende Macht der Sprache als Gewaltmittel und für das ihr zukommende legitimatorische Potential im Kontext von Missionsunternehmen interessieren.

Einen zweiten Horizont haben Autoren im Auge, die Missionsgesellschaften und ihre Mitglieder selber als Opfer von Gewaltmaßnahmen beschreiben. Als geradezu paradigmatisch für diesen Themenkomplex kann der Aufsatz von Ulrich van der Heyden über materielle Schäden und ideelle Folgewirkungen gelten, die die unfreiwillig in den Burenkrieg involvierten deutschen Missionsgesellschaften zwischen 1899 und 1902 zu beklagen hatten.

Vergleichbare Aspekte finden sich auch im Artikel von Richard Pierard über protestantische Missionare, die zur Zeit des Ersten Weltkrieges in Indien aktiv wurden und dabei dem tiefen Misstrauen britischer Autoritäten und deren Interventionen ausgesetzt waren. Als ein weiteres Beispiel sei wenigstens noch die Lokalstudie von Ejal Jakob Eisler über den Beginn, die Widrigkeiten und die Errungenschaften protestantischer Mission im palästinensischen Nablus genannt. Wie der Autor exemplarisch verdeutlicht, wird ein missionarischer Erfolg oder wenigstens ein konstruktives Klima für Missionsunternehmen oft entscheidend von den Fähigkeiten und dem strategischen Geschick einzelner missionarischer Persönlichkeiten mitbestimmt. Andererseits bleibt lokal begrenzte Mission immer eingebunden in allgemeinere Entwicklungen. So kam es zur Zeit des Krimkrieges in Nablus schließlich zu aggressiven Übergriffen auf christliche Missionare, weil diese von den Einheimischen als Repräsentanten der militanten europäischen Kultur wahrgenommen wurden.

Einem dritten Autorenkreis geht es vor allem um den Nachweis missionarischer Aktivitäten, die zu einer Relativierung oder Abmilderung unterdrückerischer Maßnahmen Dritter geführt haben.

Christoff Martin Pauw etwa erinnert in seinem Beitrag über "Mission and Violence in Malawi" daran, dass Vertreter der Dutch Reformed Church zur Zeit des Übergangs zur britischen Kolonialverwaltung auf Grund ihrer vorgängig guten Beziehungen zu den Stammesleitungen zu Fürsprechern einheimischer Belange wurden, dabei aber den Behörden zunehmend suspekt erschienen. In eine ähnliche Richtung zielt der Artikel von Kari Miettinen über die an der Kolonialadministration vorbeiführenden Beziehungen, die die finnischen Missionare mit verschiedenen Untergruppen des in Nord-Namibia ansässigen Ovambo-Volks unterhielten. Allerdings gilt auch für die gewaltminimierende Rolle christlicher Missionen, dass das Ausmaß und die Persistenz entsprechender Aktivitäten häufig individuell, gewissermaßen unterhalb der "offiziellen" Haltung betroffener Missionsgesellschaften verantwortet wurden. Für diesen Sachverhalt steht unter anderem die von Andrea Schultze verfasste Fallstudie über Heinrich Kallenberg, der in den 70er Jahren des 19. Jh.s im Dienste der Berliner Mission in Südafrika wirkte, sich mit seinem Engagement für die Rechte der einheimischen Bevölkerung gegen die Kolonialbehörden stellte, dann aber selbst in seinem "Brüderkreis" in Isolation geriet und 1882 schließlich aus dem Missionsdienst entlassen wurde.

Zusammenfassend gilt, dass von dem Werk in erster Linie der missionswissenschaftliche Fachrezipient profitiert. Ob ein darüber hinausgehendes Publikum antizipiert wurde, ist eher zweifelhaft. Dem dichten, in zum Teil hochspezifische empirische Kontexte eingebundenen Material wurde lediglich ein zweiseitiges Geleitwort von Johannes Althausen im Namen der Berliner Gesellschaft für Missionsgeschichte sowie ein ebenfalls nur sehr kurzes Vorwort der Herausgeber vorangestellt.

Einen die Gesamtlektüre leitenden problemorientierten Aufriss sucht der weniger vorinformierte Leser jedoch vergeblich. Am Rande wäre noch kritisch nachzufragen, ob der eine oder andere Aufsatz nicht besser in einem anderen Fachorgan platziert worden wäre. Das gilt etwa für den Beitrag von Klaus Hock, der selber einräumt, dass seine Ausführungen zur islamischen Tradition der Gewalt im Zentralsudan aus dem Gesamtrahmen fallen, vor allem aber für den Artikel von Alex Carmel über die Palästinareise von Kaiser Wilhelm II. Zudem ist den Herausgebern versehentlich Richard Pierards Aufsatz "The Preservation of orfaned German Protestant Missionary Works in India during World War I" in eine der Afrika-Sektionen "gerutscht". Diese marginalen Hinweise lassen jedoch das Gesamturteil unberührt, dass der Sammelband ein Werk auf hohem inhaltlichen und rhetorischen Niveau repräsentiert, das der missionswissenschaftlichen Forschung über den Zusammenhang von Mission und Gewalt zur Ehre gereicht.