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Ausgabe:

Dezember/2002

Spalte:

1361–1364

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Roggenkamp-Kaufmann, Antje

Titel/Untertitel:

Religionspädagogik als "Praktische Theologie". Zur Entstehung der Religionspädagogik in Kaiserreich und Weimarer Republik.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2001. XXIII, 798 S. gr.8 = Arbeiten zur Praktischen Theologie, 20. Geb. ¬ 50,00. ISBN 3-374-01855-6.

Rezensent:

Rainer Lachmann

Als voluminöses Werk von 798 Seiten, einschließlich ca. 3700 Anmerkungen und hundertseitigen Anhängen, bereichert diese Göttinger Habilitationsschrift von Antje Roggenkamp-Kaufmann die Geschichte der Religionspädagogik um ein - oder genauer gesagt: um XVI wissenschaftliche Kapitel. Dabei besticht diese "Arbeit zur Praktischen Theologie" nicht nur durch das ansehnliche und solide Layout der Reihe und den enormen Fleiß, den die Autorin nicht zuletzt an die Quellenarbeit gewandt hat, sondern vor allem durch die Wahl und Bearbeitung einer Thematik und eines Themenbereichs, die so von der historischen Religionspädagogik noch nicht erforscht worden sind. R.-K. untersucht nämlich die "Vereinslandschaft in Kaiserreich und Weimarer Republik" und fragt nach den Konferenzen und Vereinen der "akademisch gebildeten Religionslehrer" an höheren Schulen. Dabei beschränkt sich die Studie regional auf Preußen und seinen Einzugs- und Einflussbereich, während die süddeutschen Länder weitgehend ausgeklammert bleiben, da es in ihnen die sog. "Religionsoberlehrer", die im Mittelpunkt der Untersuchung von R.-K. stehen, nicht gibt. Zwar bei der Anlage und dem Anliegen der Arbeit unvermeidlich, forschungsmäßig aber gravierender ist die einseitige Konzentration auf die Lehrer an höheren Schulen, welche die Volksschullehrer und ihren Religionsunterricht nicht zu behandeln erlaubt. Um nicht selbst wieder der an der bisherigen Forschung monierten Einseitigkeit zu verfallen, müsste die Autorin eigentlich im Blick auf die von ihr vertretene These auch die "Religionspädagogik" auf Seiten der Volksschullehrer berücksichtigen, die sich im Berichtszeitraum, auch was ihre wissenschaftliche Ausbildung betraf, zunehmender gesellschaftlicher Anerkennung und Aufwertung erfreuen. Hier heißt es für die historische Religionspädagogik, die "Doppelsicht" zu lernen und das in wechselseitige Korrektur und kritische Ergänzung zu bringen, was vorliegende Studie in imponierender und gründlicher Einseitigkeit für die Religionsoberlehrer herausgearbeitet hat. Als kleine Ergänzungslektüre sei auf die im Erscheinen begriffene Dissertation von Heidi Schönfeld zu Religionsbüchern im bayerischen Religionsunterricht des 19. Jh.s (Jena 2002) verwiesen, die mit Bayern, den Volksschullehrern und den Religionsbüchern all das verhandelt, was R.-K.s Habilitation ausklammern musste.

Die Untersuchung befasst sich in gründlicher Quellenarbeit und Zeitschriftenanalyse mit der "Entstehung" oder genauer: der "Institutionalisierung" der Religionspädagogik und versucht darüber, "die Religionspädagogik in ihren Beziehungen zur (Praktischen) Theologie neu zu bestimmen" (VII). Das deutet bereits eingangs hin auf das die Arbeit leitende und durchgängig begleitende Verständnis von Religionspädagogik, das primär durch die Beziehung zur Theologie und ihre theologischen Richtungen konstituiert ist. Nach der Studie erklärt sich das vor allem aus dem Selbstverständnis der Religionsoberlehrer, in deren Konferenzen "den innertheologischen Auseinandersetzungen ... eine besondere didaktische Bedeutung" zukommt (365). Entsprechend beansprucht Teil "C. Zur Entstehung der Religionspädagogik aus der Diskussion theologischer Grundprobleme" mit über 250 Seiten auch den meisten Platz für sich und handelt in den Kapiteln IX.-XII. - überwiegend unter Nachzeichnung einschlägiger Aufsätze aus der Zeitschrift für den evangelischen Religionsunterricht (ZevRU) - vom Umgang mit dem AT und NT, der Kirchengeschichte und der "Katechetik", endend mit Äußerungen "Zur Entstehung der Religionspädagogik aus der Religionsdidaktik" (Kap. XIII). In den bisweilen recht spannenden, bisweilen aber auch langatmigen Ausführungen dieses Teils fällt auf, dass den genuinen Vertretern und Werken katechetischer und religionspädagogischer Wissenschaft in Kaiserreich und Weimarer Republik, wenn überhaupt, nur marginale Bedeutung zukommt. Das zeigt sich u. a. im Kapitel über die "Katechetik", wo man z. B. die großen Namen der Katechetik wie etwa Christian Palmer, Carl Immanuel Nitzsch oder C. A. Gerhard v. Zezschwitz vergeblich sucht; und das zeigt sich ebenso an den liberalen Religionspädagogen wie Richard Kabisch, Otto Baumgarten und vor allem Friedrich Niebergall, deren religionspädagogische Werke und Konzepte nach vorliegender Arbeit offenbar für die Religionsoberlehrer nicht übermäßig diskussionswürdig waren. Das wäre wissenschaftstheoretisch tatsächlich ein höchst bemerkenswerter Befund und würde die bisher zu einem Großteil biographisch an großen Einzelpersönlichkeiten der Katechetik und Religionspädagogik orientierte religionspädagogische Wissenschaftsgeschichte fragwürdig relativieren. Ihr Anteil an der Entstehung der Religionspädagogik würde zumindest in einem neuen Licht erscheinen.

Unbezweifelbares Verdienst der Studie von R.-K. ist es, die "historische Genese der Disziplin Religionspädagogik" "gewissermaßen von unten" in den Forschungsblick zu nehmen. Dazu beschäftigt sie sich im Teil A. akribisch mit der "Institutionalisierung der Disziplin Religionspädagogik" durch die provinzialen Religionslehrerkonferenzen und den Deutschen Religionslehrerverband, der 1914 gegründet wurde und bis 1933 Bestand hatte. Aus der gründlichen Aufarbeitung dieser Konferenz- und Verbandsgeschichte akademisch ausgebildeter evangelischer Religionslehrer und -lehrerinnen, die als wesentlicher Kern und neuer, weiterführender Forschungsbeitrag der Habilitation angesehen werden kann, erwuchs denn auch die bereits angesprochene These der Arbeit, wonach "aus der Diskussion theologischer Grundprobleme" auf Konferenz- und Verbandsebene "Modelle und Lösungen" entwickelt worden seien, "die gleichsam zwischen der theologischen Wissenschaft als solcher und dem Religionsunterricht der Schule als eine Art vorgeschalteter Reflexion zu stehen" kamen (365) und dergestalt als "theologische Vermittlungsprozesse" entscheidend zur Entstehung der Religionspädagogik aus der Religionslehrerschaft selbst beigetragen haben. Also "nicht direkt aus einer spezifischen Theologie" - auch nicht aus der liberalen Theologie, wie es nach R.-K. die bislang übliche Meinung sei (14.694) - hat sich die Religionspädagogik entwickelt, sondern aus dem "komplexen Gesprächszusammenhang" und der gemeinsamen Vermittlungsarbeit der Religionslehrerverbände in Kaiserreich und Weimarer Republik (682 f.). Im Blick auf die erforschten Religionsoberlehrer leuchtet diese These durchaus ein, zumal sie entgegen einer reinen Abbildtheorie die didaktische Kategorie der Vermittlung angemessen in Rechnung stellt. Ein Blick auf die Religionslehrer der Volksschule hätte allerdings auch zeigen können, dass diese Vermittlungsarbeit auch gegenüber der Pädagogik zu leisten wäre, wobei sich die Religionsdidaktik dann auch als Vermittlungswissenschaft zwischen theologischen und pädagogischen Ansprüchen erweisen würde, deren Anfänge bereits in der neologischen Religionspädagogik der Aufklärung festzumachen sind.

Dass in dem religionsdidaktischen Prozess der Vermittlung der Gruppe der praktizierenden und reflektierenden Religionslehrerinnen und -lehrer ein bisher so noch nicht gesehener hoher Anteil an engagierter Mitarbeit zukommt, hat R.-K. eindrücklich und ausführlich am "preußischen Institut des Religionsoberlehrers" deutlich gemacht, dem die Kapitel II und III (66-153) gewidmet sind. Dieser preußische Oberlehrer, der sich in seinem charakteristischen "Profil" ab Beginn der 1870er Jahre herausbildet, braucht - ob nun Philologe mit mehreren Fächern oder am Lehrerberuf interessierter Pfarrer - in jedem Fall die staatliche Prüfung. Das lässt ihn bald das negative Image des sog. "Schiffbruchtheologen" (69 f.) loswerden und macht ihn zusehends zum angesehenen "Bildungsbürger" und eigentlichen Träger der Konferenzen und Religionslehrerverbände, deren Entstehung R.-K. im I. Kapitel (19-65) genau beschreibt. Was die politischen, kirchenpolitischen und theologischen Einstellungen anlangt, so meint R.-K. auf Grund ihrer Analysen feststellen zu können, dass hier auf Seiten der Religionsoberlehrer eine relativ große Durchlässigkeit herrscht, die jeder "Versäulungsthese" widerspricht und es gerade auch in theologischer Hinsicht verbietet, "von einer theologischen Abschließung der verschiedenen Richtungen auszugehen" (106 f. 121). Zur Institutionalisierung von pädagogischen Aktivitäten in der Ausbildung der Religionsoberlehrer kommt es zwar im Kaiserreich nur bedingt, doch lässt sich eine (religions-)pädagogische Sensibilisierung und ein Zuwachs an didaktischer Kompetenz und Beachtung in Prüfungen, religionsunterrichtlicher Praxis und Beaufsichtigung nicht leugnen, was nach Meinung von R.-K. "langfristig auch zu einer Aufwertung der wissenschaftlichen und (religions-)pädagogischen Tätigkeit der Religionsoberlehrer im Sinne einer Autonomisierung des Experten gegenüber dem Laien" geführt habe (121) und Anhalt geben könne für die These, "daß der Beruf des Religionspädagogen (an der Universität? R. L.) aus demjenigen des Religionsoberlehrers hervorgeht" (107).

Die Berufung des Religionsoberlehrers Hermann Schuster auf eine Professur für Religionspädagogik an der Göttinger Universität zum Wintersemester 1924/25 könnte hier als Beleg angeführt werden. Davon unbenommen ist sie auf jeden Fall "eine einschneidende Zäsur in der Geschichte des Religionsoberlehrerinstituts" und "eine wesentliche Etappe auf dem Weg zur Institutionalisierung der Religionspädagogik als (praktisch-) theologischer Disziplin" (121). In mehr als einer Hinsicht kann dabei Hermann Schuster (1874-1965) nachgerade als religionspädagogische Inkarnation und typischer Vertreter für die religionspädagogische Entwicklung stehen, die R.-K. auf 700 Seiten nachzeichnet: Religionsoberlehrer, Funktionär und Leiter des Religionslehrerverbandes, Herausgeber der ZevRU, Universitätsprofessor. Eine Biographie dieser umtriebigen und umgetriebenen Persönlichkeit in religionspädagogischer Perspektive ist längst überfällig, und wer wäre da wohl geeigneter als die Autorin vorliegender Untersuchung, die es sich und den Lesern um Vieles leichter gemacht hätte - dieser ketzerische Gedanke sei dem Rez. erlaubt und verziehen -, wenn sie all das, was sie erforscht hat, auf Hermann Schuster konzentriert bzw. an seiner großen Gestalt exemplifiziert hätte.

Nach der Beschreibung der "Religionsoberlehrer im Spannungsfeld von Religionslehrerkonferenzen, Staat und Kirche" in den verschiedenen Phasen des Kaiserreichs verhandelt R.-K. im IV. Kapitel die "Institutionalisierung der Religionspädagogik in der Weimarer Republik", was besonders da an "aktueller" Spannung gewinnt, wo es im Referenzrahmen von Art. 149 WRV um die rechte Auslegung und Gestaltung der religionsunterrichtlichen Rahmenbedingungen geht. In didaktisch curricularer Hinsicht finden diese Ausführungen zur Weimarer Republik im VIII. Kapitel des Teils B ihre Fortsetzung, wo über die Religionsunterrichtslehrpläne und Richtlinien für den Religionsunterricht in der Weimarer Republik gehandelt wird. Ihm voran geht in Kapitel V die Beschäftigung mit Fragen und Problemen, mit denen sich die Religionslehrerkonferenzen in der Kaiserzeit auseinandersetzten: Schulandachten, Verhältnis von schulischem Religions- und kirchlichem Konfirmandenunterricht, Reifeprüfung, Unterrichtsmedien - alles Fragen, die auch heute noch religionspädagogisches Interesse für sich beanspruchen können. Leider werden sie für die Zeit der Weimarer Republik nicht weiterverfolgt, was auch für das etwas knapp geratene VI. Kapitel "Zur Rezeption pädagogisch-psychologischer Ansätze im Kaiserreich" gilt. Angemessen ausführlich werden demgegenüber die evangelischen Religionslehrpläne von 1892, 1901 und vor allem von 1917 beschrieben und bedacht, wobei zum Lehrplan von 1917 dankenswerterweise acht Gutachten und Stellungnahmen u. a. von Hans Richert und Hermann Schuster im Anhang dokumentiert werden.

Die Studie schließt als Teil D mit zwei interessanten Kapiteln zur religionspädagogischen Entwicklung in Weltkrieg und Weimarer Republik und endet fast programmatisch mit dem kurzen Kapitel XVI "Zur Entstehung der Religionspädagogik als Praktische Theologie". Mit ihm wird scheinbar - gegen den Eindruck der Ausführungen und Ergebnisse der vorangegangenen 600 Seiten - dem Titel des Buches "Religionspädagogik als Praktische Theologie" endlich Genüge getan. Die Einholung der "ekklesiologischen Dimension" wirkt deshalb auch eher wie ein (praktisch-)theologisches Desiderat oder Postulat, das allerdings selbst durch die Berufung auf Hermann Schuster nur wenig Überzeugungskraft besitzt. Stattdessen hätte es hier der Arbeit in Abwehr historistischer Vorwürfe gut angestanden, wenn sie - wie im Vorwort angedeutet - den "in der Studie entwickelten religionspädagogischen Ansatz auch für aktuelle Fragestellungen fruchtbar" gemacht hätte. Im letzten Absatz deuten sich in dieser Beziehung "Ansätze für eine Religionspädagogik des 21. Jahrhunderts" an, die es verdient hätten, eingehender diskutiert zu werden. Das gilt auch und vor allem für R.-K.s Grundthese zur "Entstehung der Religionspädagogik in Kaiserreich und Weimarer Republik", die für den Bereich der preußischen Religionsoberlehrer und ihre Konferenzen und Vereine durch R.-K. erschöpfend erforscht worden ist. Hier hat die Habilitation nicht nur wichtiges Neuland "beackert", sondern auch historisch fundierten Anstoß gegeben, um andere religionspädagogische Entstehungstheorien neu zu bedenken und angesichts des je sie leitenden Verständnisses von Religionspädagogik ihrer diskussionswürdigen Aktualität gewahr zu werden. Nicht zuletzt darin liegt das bleibende Verdienst dieser monumentalen, mit entsagungsvollem Fleiß und engagiertem Verstand geschriebenen Untersuchung, die eine letzte wissenschaftliche Krönung erfährt durch den materialreichen Anhang von Dokumentationen, Quellen- und Literaturverzeichnis sowie abschließendem Personen- und Ortsregister. Zusammen mit dem sehr differenzierten Inhaltsverzeichnis erlauben diese Register die Benutzung des Werkes auch als Handbuch, das als Information zu bestimmten Fragen und Problemen gleichsam eklektisch herangezogen werden kann.