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Ausgabe:

Dezember/2002

Spalte:

1358–1360

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Pirner, Manfred L.

Titel/Untertitel:

Fernsehmythen und religiöse Bildung. Grundlegung einer medienerfahrungsorientierten Religionspädagogik am Beispiel fiktionaler Fernsehunterhaltung.

Verlag:

Frankfurt/M.: Gemeinschaftswerk der Evangelischen Publizistik 2001. 399 S. m. Abb. 8 = Beiträge zur Medienpädagogik, 7. Kart. ¬ 20,40. ISBN 3-932194-60-8.

Rezensent:

Thomas Klie

Die Aufmerksamkeit für religionshaltige Phänomene der Popkultur hat religionspädagogisch Tradition. Keine der an "Problemen", "Erfahrung" und "Symbolen" orientierten Didaktiken kam in den letzten 30 Jahren ohne mehr oder weniger ausführliche Rekurse auf die schillernde Welt medialer Religionspraxis aus. Neu sind jedoch - und damit ist bereits der methodische Ort von Manfred Pirners Bamberger Habilitationsschrift angedeutet - der Verzicht auf kulturpessimistische Lamenti und das Interesse daran, wie sich die "Sachen selbst" dem Subjekt vermitteln. Beide Vorgaben verhalten sich durchaus kritisch zu der panreligiösen Grundstimmung, der viele der neueren Untersuchungen zur "Religion in ..." ihr Erkenntnisinteresse verdanken. Es soll hier kein Nachweis über die Religiosität des TV-Publikums erbracht werden, sondern die enorme kulturelle Präsenz religionsanaloger Phänomene im Großmedium Fernsehen aufgezeigt und diskutiert werden.

Die mediale Mitwelt heutiger Jugendlicher ist in einem Ausmaß von "religiösen Symbolen und Dimensionen durchdrungen", das die theoretische Auseinandersetzung mit diesem Phänomen, gar die Rede von einer religiösen Mediensozialisation erforderlich macht. Am Beispiel von "Filmen, Filmreihen und Serien, in denen eine erfundene oder dramatisch bearbeitete Geschichte erzählt wird" (19), unterzieht der Autor die allgemeine These vom "Traditionsabbruch" einer grundlegenden Revision. Mitnichten führe die den Medien eigene Rationalität zu einem Bruch innerhalb christlicher Tradierungsprozesse, wohl aber habe sich mit der Erhöhung der Traditionsinstanzen ein neuer Modus ergeben, nach dem sich Religiöses öffentlichkeitswirksam transformiert. In der bislang nur unzureichenden Verknüpfung von entwicklungspsychologischen und sozialisationstheoretischen Perspektiven sieht der Vf. das Hauptmanko der religionspädagogischen Ansätze der 80er Jahre.

Gegenstand und Ziel der Untersuchung verlangen nach P. einen multiperspektivischen Zugriff, denn das Thema ist epistemisch im Schnittfeld von "Lebenswelt-", "Popularkultur-" und "Medienforschung" angesiedelt. Mit dieser Zuordnung verbindet sich jedoch nicht der Anspruch auf ein "umfassende[s] Konzept für alle Bereiche von Medienerfahrungen". Vielmehr soll "exemplarisch" aufgewiesen werden, vor welchen Herausforderungen die Didaktik der Religion angesichts ihrer medialen Repräsentationen gestellt wird (20). Der Religionspädagogik wächst damit - so die These - nicht nur ein "zusätzliches Lernfeld" zu, das didaktisch zu Akzentverschiebungen nötigt, es verändert sich zugleich auch der disziplinäre Verantwortungshorizont. Um den ganzen Bereich des nicht-intentionalen Lernens neu vermessen zu können, plädiert der Autor für eine stärkere Berücksichtigung religionswissenschaftlicher Fragestellungen. "[D]enn es vergrößert sich nicht nur die Vielfalt und die Gewichtigkeit nichtchristlicher Religionen in unserer zunehmend multikulturellen Gesellschaft, sondern auch die mannigfaltigen Formen von religiösen Suchbewegungen und experimenteller (Quasi-)Spiritualität im popularkulturellen Raum lassen sich erst mit einer religionswissenschaftlich perspektivierten und sensibilisierten Phänomenologie und Hermeneutik genauer erfassen" (22).

Diese Gesamtausrichtung spiegelt sich im Aufriss der Arbeit wider. Nach einer programmatischen Einführung (1.) und einer kritischen Bestandsaufnahme der religions- und medienpädagogischen Diskussion (2.) werden in den Kapiteln 3 bis 6 die Funktion und die Strukturen der Fernsehunterhaltung aus phänomenologisch-konstruktivistischer Sicht dargelegt. Der Erkenntnisfortschritt besteht hier vor allem in der Abweisung gängiger Abbildvorstellungen; das Fernsehen spiegelt keine außermediale Wirklichkeit, es konstituiert eine Wirklichkeit sui generis. Das 7. Kapitel ist der empirischen Wirkungs- und Rezeptionsforschung gewidmet, woran sich ein mythen- und ritualtheoretischer Gedankengang anschließt (8.). Im abschließenden 9. Abschnitt wird der religionspädagogische Ertrag auf insgesamt 45 Seiten formuliert, von denen allein 7 Seiten der Symboldidaktik Peter Biehls gewidmet sind.

P. orientiert seine theologische Hermeneutik des Fernsehens an den Begriffen "Mythos" und "Ritual"; er verwendet sie weitgehend synonym. Religiöse Qualität haben beide insofern, als sich in ihnen existenzielle Grundfragen zeigen und sie damit implizit auf letzte Wirklichkeiten verweisen (94). Wird in den Filmen auf die "potenzielle Religiosität" von Mythos bzw. Ritual ausdrücklich Bezug genommen, dann ist von einer "aktualisierten Religiosität" auszugehen.

Diese Differenzierung trägt "einem spielerisch-ästhetischen oder anderweitig distanzierten Umgang" mit religiöser Symbolik Rechnung. Zu fragen bleibt hier jedoch, ob man mit einem derart weiten kategorialen Rahmen dem konkreten Einzelfall noch gerecht zu werden vermag. Offen ist auch, wie hierbei die explizit mythen- und ritual-kritischen Aspekte einer christlichen Sinnsicht in Anschlag zu bringen sind, zumal die Kompatibilitätsprobleme zwischen einem religionswissenschaftlichen und einem theologischen Zugang an keiner Stelle diskutiert werden. Die Systemzwänge, die sich mit einem solchen konvergenztheoretischen Ansatz ergeben, neigen vielfach dazu, die Divergenzen zwischen den herangezogenen Theoriemodellen zu verschleifen. - So ist z. B. die semiotische Kulturtheorie von Geertz (78 f.) nicht ohne weiteres zur Deckung zu bringen mit der ontologisierenden Ritualtheorie von Turner (91ff.). Der allgemeine konstruktivistische Common sense, den P. als methodologische Grundlage für seine Arbeit reklamiert (37 ff.), ist wenig geeignet, das Verhältnis von Phänomenologie, Kommunikations- und Symboltheorie präzise zu bestimmen.

Eine solche Diskussion, wie sie z. B. im Kontext der semiotischen Religionsdidaktik geführt wird, würde aber auf der Diskursebene das methodische Instrumentarium kritisierbar halten. Zudem könnte sie auch auf der Unterrichtsebene dazu verhelfen, die Geltungsansprüche und Konstitutionsbedingungen von Fernsehmythen didaktisch fruchtbar zu machen. Welches Zeichensystem wann, unter welchen Umständen und für wen religiös konnotiert ist, ist ja gerade die Frage, der sich eine "medienerfahrungsorientierte Religionspädagogik" zu stellen hat. Um die hermeneutischen Aktivitäten des Subjekts im Kontakt mit einer medialen Fiktion überhaupt kommunizieren und - womöglich theologisch-christlich - qualifizieren zu können, bedarf es einer hohen Auflösungsschärfe. Ein Theoriezugriff, der sich an wichtigen Schaltstellen im Additiven verliert, führt aber nicht unbedingt zu den Wahrnehmungs- und Sprachgewinnen, wie sie der Autor intendiert.

Der besondere Reiz der Untersuchung besteht in der Konzentration auf das Leitmedium der pluralen Kommunikationskultur und auf die für dieses Medium typischen filmischen Fiktionen. Es ist hier vor allem die Ballung von Anspielungen, Zitaten und Strukturanalogien aus dem Bereich religiöser Vorstellungen und Praktiken, die hermeneutisch wie didaktisch lohnend sind. Mit großem Sachverstand greift P. auf die breite anglo-amerikanische Diskussion zurück; dies zählt keineswegs zu den Standards religionspädagogischer Konzepte. Auf allen Ebenen der Untersuchung wird der Anschluss an medienpädagogische und kulturtheoretische Fragestellungen gesucht. Funktional und erhellend ist hier vor allem die "Theologie der Unterhaltung" (284 ff.). Dass in diesem Zusammenhang auch rezeptionsanalytische Studien zusammengefasst und diskutiert werden (193 ff.), erhöht den pädagogischen Wert der Überlegungen. Auf die religionspädagogische Gretchenfrage allerdings, wie Jugendliche religionshaltige Medien wahrnehmen und welchen Einfluss dies auf ihre religiöse Entwicklung hat, bleibt P., wie übrigens auch alle anderen seriösen Arbeiten zum Thema, eine Antwort schuldig. Angezeigt wird hier mit Recht ein "extremes Forschungsdefizit".

Religionspädagogisches Fazit: Die "außeralltäglichen Medienerfahrungen" ermöglichen kreative "Zu- und Übergänge zu christlichen Glaubenserfahrungen und -deutungen" (321). Die Verständigung über die mythisch-rituellen Elemente der TV-Kultur birgt ein großes religiös bildendes "Veränderungs- und Anregungspotential" (324).