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Ausgabe:

Dezember/2002

Spalte:

1356–1358

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Ochel, Joachim [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Bildung in evangelischer Verantwortung auf dem Hintergrund des Bildungsverständnisses von F. D. E. Schleiermacher. Eine Studie des Theologischen Ausschusses der Evangelischen Kirche der Union.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2001. 207 S. gr.8. Geb. ¬ 25,00. ISBN 3-525-56199-7.

Rezensent:

Martina Kumlehn

"Schleiermacher kommt wieder" - diese Prognose, die Henning Schröer mit Blick auf die theoretische Fundierung der evangelischen Religionspädagogik 1984 gewagt hat, findet ihre Bestätigung in dem Projekt der EKU, "Perspektiven für eine neu anstehende Bildungsdiskussion" (8) im Rückgriff auf Schleiermachers enzyklopädisches, sowohl theologisch als auch anthropologisch ausgewiesenes Bildungsverständnis zu entwerfen. Die vorliegende Studie dokumentiert das bilanzierend-programmatische Votum des Theologischen Ausschusses sowie die Beiträge, die den Beratungs- und Diskussionsprozess angeregt und geprägt haben. Entgegen der Anordnung des Buches werden im Folgenden zunächst die vielschichtig argumentierenden Beiträge vorgestellt, um die Struktur, die Schlüsselbegriffe und Impulse des Votums vor ihrem diskursiven Hintergrund transparent werden zu lassen.

In seinem einführenden Vortrag "Gegenwartsfragen zur Bildungstheorie in evangelischer Verantwortung" skizziert Henning Schröer den Problemhorizont, vor dem Schleiermachers Ansatz kritisch zu rezipieren sei. Angesichts der Renaissance des Bildungsbegriffs benennt er vier Kernprobleme, die eine gegenwartsrelevante Bildungsdiskussion berücksichtigen müsse: 1. die Spannung von Ausbildung und Allgemeinbildung bzw. Bildung und Wissen; 2. den Einfluss ökonomischer Interessen; 3. die Anforderungen der Mediengesellschaft; 4. Fundamentalanthropologische Begründungskontexte, in die die Theologie ihre Vorstellung von der "Menschwerdung des Menschen" einspeisen soll (66), um zu einer humanen Zielbestimmung von Bildung beizutragen. Denn wenn wir "in der Lehre Jesu sind anstatt sie zu haben, dann hat das Bildungskonsequenzen im Blick auf das damit wahrzunehmende Gottes- und Menschenbild" (70). Aus theologischer Perspektive gehören für S. das Verhältnis zur Ästhetik (vgl. dazu auch seinen zweiten Beitrag "Zur ästhetischen Dimension von Schleiermachers Bildungsbegriff" [177-184]), liturgische Bildung im weitesten Sinne und die angemessene Wahrnehmung der Kultur zu den zentralen Feldern eines evangelisch verantworteten Bildungsauftrages. Angesichts dieser gegenwärtigen Herausforderungen sei "Schleiermacher neu zu lesen und ... sogar besser zu verstehen, als er sich in seiner Zeit verstehen konnte." (77)

In drei exegetischen Beiträgen wird nach dem biblischen Verständnis der menschlichen Bildungsvoraussetzungen bzw. den Grenzen menschlicher Bildungsbemühungen gefragt. In betont kritischer Abgrenzung vonSchleiermachers reservierter Haltung gegenüber dem Alten Testament stellt Frank Crüsemann in seinem Vortrag "Die Bildung des Menschengeschlechts" die wesentlichen Einsichten alttestamentlicher Theologie zum Thema Bildung und Erziehung zusammen. Besonders akzentuiert werden die "Gottebenbildlichkeit als character indelebilis", die Bedeutung der Weisheit und ihre Impulse für gelingendes Leben, die Spezifika jüdischen Lernens in Auseinandersetzung mit der Schuld der Väter sowie die Erkenntnis von gut und böse bzw. die Bedeutung von Recht und Ethik.

Andreas Lindemann arbeitet in seinem Beitrag "Das Neue Testament und das Bildungsproblem" heraus, dass es darauf ankomme, "unabhängig vom Vorkommen einer bestimmten Terminologie Indizien für das geistige Phänomen" (102) zu finden. Versteht man Bildung als "Weg eigenständiger kritischer Aneignung überkommener Traditionen und des verantwortlichen Umgangs mit ihr" (112), dann lassen sich Bildungsvorgänge dieser Art im Neuen Testament selbst nachvollziehen. Dazu gehören die verschiedenen Weisen, die neue Botschaft zu den alttestamentlichen Traditionen in Beziehung zu setzen, die Transformationen der Jesusüberlieferung in den Evangelien sowie die argumentativen Strategien in der paulinischen Heidenmission.

Gisela Kittel und Wolfgang Schrage erläutern exkursartig die paulinische Chiffre vom Hineingebildetwerden in das Bild Christi als Vorbild des mystischen Bildungsbegriffes Meister Eckharts. Hervorgehoben wird der eminent kritische Impuls dieser christologisch-soteriologischen Pointierung der Bildungsthematik, in deren Perspektive das Bewusstsein wachgehalten werde, dass alle individuellen und gesellschaftlichen Bildungsanstrengungen fragmentarisch bleiben und menschliche Bildungsideale scheitern können.

Von zentraler Bedeutung für das Anliegen der Studie ist Hermann Fischers Aufsatz "Schleiermachers Theorie der Bildung". Nachdem er kurz Schleiermachers eigene praktisch-pädagogischen Erfahrungen, sein bildungspolitisches Engagement und seine diesbezüglich programmatischen Äußerungen vorgestellt hat, wendet sich F. den systematischen Aspekten des Schleiermacherschen Bildungsverständnisses zu. Er arbeitet die polare Struktur aller Bildungsprozesse heraus, die sich für Schleiermacher z. B. in der Spannung von Rezeptivität und Spontaneität, von Insichbleiben und Aussichheraustreten, von Individuellem und Allgemeinem bzw. von Abhängigkeit und Freiheit ereignen (vgl. 133) und markiert vor allem im Rückgang auf die Reden die religiöse Fundierung dieser dynamischen Strukturen. In Korrelation zur religiösen Grunderfahrung des "Affiziertsein[s] vom Unendlichen" (135), das alle Gegensätze aus sich entlässt, skizziert er den elementaren Vollzug religiöser Bildung als Anregung und Förderung des "Sinnes für das Unendliche". Im Kontext der Philosophischen Ethik entfaltet F., wie sich Schleiermachers frühes Interesse an Selbstbildung in freier Interaktion und Kommunikation "auf die großen institutionellen Gemeinschaften wie Staat und Geselligkeit, Wissenschaft und Kirche" (139 f.) beziehen lässt. Von den gesellschafts- und kulturtheoretischen Erwägungen führt argumentativ stringent der Weg zu Schleiermachers Überlegungen zum Verhältnis von Erziehung und Bildung, wie es sich in seinen pädagogischen Vorlesungen findet.

Weniger an den Einzelschriften orientiert, dafür aber in konsequenter systematischer Abstraktion und Zuspitzung rekonstruiert Eilert Herms Schleiermachers "kategoriales Verständnis von Bildung" (151) nach seinem komplexen Gehalt und kritischen Sinn. "Das Bilden des geistigen Lebens ist ein selbstbewußt-freies, zielstrebiges und verantwortungsfähiges, und sein Gebildetwerden muß daher auch das Gebildetwerden dieses seines Selbstbewußtseins ..., das Gebildetwerden seines Inneren" (157) mit umfassen. Nachdrücklich betont H., dass individuelle Selbstbildung im Sinne Schleiermachers stets auch als "ein Beitrag zum Gebildetwerden der Qualität der sozialen Verhältnisse" (154) verstanden werden muss, die dann ihrerseits wieder einen verbesserten "Möglichkeitsraum für die Bildung der Einzelnen" (163) bieten. Das Spezifikum des kategorialen Bildungsverständnisses liegt aber schließlich darin, dass in ihm die ursprüngliche christliche Daseinsgewissheit festgehalten ist, die von einer "geistgewirkten Verfassung alles Gebildetwerdens" ausgeht und im Geist Christi das eigentliche Telos aller Bildungsprozesse sieht (vgl. 169 f.). In diesem Sinne hat das Christentum die Bildungsgeschichte fortzuschreiben und öffentlich zu gestalten.

In konstruktiv-kritischer Auseinandersetzung mit Schleiermachers Subjektivitätstheorie unterzieht der Philosoph Dieter Henrich in seinem Beitrag "Menschsein - Bildung - Erkenntnis" Schleiermachers "Gedanken zur Begründung der Universität" einer Relecture. Entsprechend H.s Neuakzentuierung, dass das ursprüngliche Selbstbewusstsein in dem Prozess verharren müsse, "der von der ihm wesentlichen Frage nach seinem Woher ausgeht" (202), soll die Universität einen wesentlichen Beitrag zu solcher Art grundlegender Selbstverständigung leisten.

Insbesondere die Beiträge von Schröer, Fischer und Herms haben deutliche Spuren in dem Votum des theologischen Ausschusses hinterlassen. Ausgehend von der These, dass Schleiermachers Bildungstheorie in "ihrem Bewußtsein für ein theologisch angemessenes Verständnis von Wirklichkeit ... bis zur Gegenwart den meisten theologischen und kirchlichen Äußerungen zur Sache überlegen geblieben" (14) sei und deshalb "in zukunftsträchtiger Weise bildend wirken" (17) könne, wird Schleiermacher in Auseinandersetzung mit dem gegenwärtigen pädagogischen Diskurs um eine Repristination des Bildungsbegriffes auf seine fundamental-anthropologische Sicht "der Tiefenbedingung wahrer Menschenbildung" (25) hin befragt. In diesem Sinne wird sein Konzept der Selbstbildung bzw. der "inneren Bildung" hervorgehoben, demzufolge der Mensch "als auf das Ganze angelegtes, religiöses Wesen" zu begreifen sei. Zugleich wird in Schleiermachers Perspektive der "Lebenszusammenhang des Individuums mit der Kulturwelt" (30) betont und die dialektische Bestimmung von Bildung und Erziehung im Spannungsfeld von "Entwicklung der Eigentümlichkeit" und der "Tüchtigkeit für die großen sittlichen Gemeinschaften" skizziert.

Trotz der Aufnahme der Kritik an Schleiermachers Vorstellung einer letztlich harmonischen Entfaltung des Menschen, die theologisch gesprochen das Phänomen Sünde nicht ernst genug nehme, und der erkannten Notwendigkeit, Schleiermachers Zuordnung der gesellschaftlichen Systeme im Bildungsprozess neu bestimmen zu müssen, wird seine bleibende Aktualität vor allem in folgenden Impulsen gesehen: Bildung nicht auf den "(technisch vermittelten) Umgang mit Wissensvorräten und Lerninhalten" (37) zu reduzieren; den uneingeschränkten Primat des Ökonomischen kritisch zu betrachten; "die Bildungskompetenz des Elternhauses und der Familie, der sozialen Kleingruppe, des Freundeskreises zu erfassen und gezielt zu stärken" (39); den "zu Unrecht diffamierten Begriff der Innerlichkeit" (40) zu rehabilitieren sowie die Bildung von Identitätsgewissheit zu fördern (vgl. 55). Auch wenn es m. E. nicht glücklich ist, die von Herms inspirierten Formulierungen bezüglich der "Bildung des inneren Menschen" bzw. der Förderung eines "innengeleiteten Lebens" im Begriff der "Innerlichkeit" zusammenzufassen, der doch sehr viele negative Konnotationen wachruft, die gar nicht im Sinne Schleiermachers lagen, bleibt dieser Aspekt der fundamentalanthropologischen und theologischen Grundierung des Bildungsthemas die zentrale Herausforderung in der gegenwärtigen Debatte. Deutlicher als in den Konkretionen geschehen, hätte jedoch - nicht zuletzt im Sinne der Anregungen Schröers - der Beitrag von Schleiermachers Bildungstheorie zur Wahrnehmung und Gestaltung des kulturellen Gesamtgeschehens über die Bereiche "Bildung und Gemeinde" und "Kirche und Schule" hinaus aufgezeigt werden können.