Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Dezember/2002

Spalte:

1354–1356

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Zimmerling, Peter

Titel/Untertitel:

Die charismatischen Bewegungen. Theologie - Spiritualität - Anstöße zum Gespräch.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2001. 435 S. gr.8 = Kirche - Konfession - Religion, 42. Geb. ¬ 42,00. ISBN 3-525-56546-1.

Rezensent:

Holger Böckel

Nach O. Föller (1994), W. Hollenweger, Th. Kern (1997) und H. Böckel (1999) ist dies die fünfte umfangreiche neuere Untersuchung zur Charismatischen Bewegung in Deutschland. Ihrem Titel entsprechend versucht sie, einen möglichst umfangreichen Überblick und eine kritische Würdigung dieser Bewegung in praktisch-theologischer Perspektive zu liefern und bezieht sich dabei besonders auf Entwicklungen sowie Veröffentlichungen im deutschsprachigen Raum. Der Aufbau des Werkes ist wie seine innere Struktur überwiegend phänomenologisch geprägt. Dabei gehen Darstellung, Interpretation und Bewertung fließend ineinander über. Schon die "Standortbestimmung der charismatischen Bewegungen der Gegenwart" liefert zu Beginn neben der geschichtlichen Entwicklung Erörterungen zu "Ursachen und Hintergründen der Attraktivität charismatischer Bewegungen", welche in dieser Darstellung nur als mutmaßlich gelten können. Phänomenologisch schließen sich Kapitel zum Verständnis von "Geistestaufe", Geistesgaben, charismatischen Gottesdiensten und von charismatischer Spiritualität bzw. Seelsorge an. Die "Stellung zu Kirche und Welt" bildet den letzten dieser behandelten Aspekte. Ein kritisches Resümee schließt mit "pneumatologischen und ekklesiologischen Herausforderungen an Theologie und Kirche" das Werk ab.

Schon der Titel des Buches weist auf die umfangreiche und durchaus vielschichtige Thematik hin. Der Plural von charismatische Bewegungen soll diese Vielschichtigkeit wiedergeben (13). Diese Terminologie ist jedoch durchaus zu hinterfragen. Soziologisch gesehen sind Bewegungen stets komplexe Phänomene, denen eine gewisse innere Pluralität und Dynamik eigen ist. Es müsste also geklärt werden, warum zusätzlich noch von Bewegungen im Plural gesprochen wird, und darüber hinaus bedarf es einer Reflexion, worin denn der sachliche Bezugspunkt dieses in sich differenzierten Gegenstandes liegt. Beides lässt der Autor vermissen, will man nicht indirekt die zu Grunde gelegte phänomenologische Gliederung dafür heranziehen. So werden einerseits historisierende Selbstdarstellungen aus der Bewegung herangezogen (50 ff.), andererseits werden soziologische Modernitätstheorien wie die der Erlebnisgesellschaft (62) als Verstehenshorizont angeboten.

Der eklektisch-darstellende Charakter des Werkes zeugt vom steten Versuch, immerhin einen Überblick über ein komplexes Phänomen zu schaffen. Dies ist anhand der dargestellten phänomenologischen Gliederung teilweise gelungen. Nur wird dieses Vorgehen selbst kaum reflektiert. Dabei ist die stets vorhandene Wertung des Autors nicht klar abgegrenzt und wirkt nicht selten tendenziös oder auch den Lesefluss störend. Eine empirische Untersuchung ist in der Anlage des Werkes nicht vorgesehen. Sie hätte jedoch als Überprüfung mancher Thesen dienen können wie auch die Beachtung anderer, bereits vorliegender empirischer Befunde. Inhaltlich bietet das Werk einen aktuellen Überblick über Gestaltungsmerkmale innerhalb der charismatischen Bewegungen. Allerdings geht es dabei nicht über die vorliegenden Forschungsergebnisse hinaus. Es wirkt sich vielmehr defizitär aus, dass zwei wesentliche Voruntersuchungen größeren Umfangs keine Berücksichtigung finden: Die soziologische Habilitationsschrift von Th. Kern (Zeichen und Wunder), der die charismatische Szenekultur in Frankfurt ausführlich empirisch untersucht hat und gerade mit den vom Autor referierten Modernitätstheorien zu interpretieren versuchte, sowie die Dissertation von H. Böckel zur Kybernetik in der Bewegung, welche zu den phänomenologischen Grundthemen des Autors pastoraltheoretische Interpretationsparadigmen entwickelte und sie in einer kybernetischen Rahmentheorie bedachte. Es bleiben somit positivEinzelergebnisse hervorzuheben. Diese betreffen das herausgearbeitete partizipatorische Potenzial der Wiederentdeckung der charismatischen Dimension für die Gemeinde (127 ff.) und den Gottesdienst (230 ff.) sowie deren kritische Würdigung. Systematisch ist jedoch zu hinterfragen, ob die Charismen neben ihrem Schöpfungsbezug und ihrer doxologischen Ausrichtung primär der Heiligung zuzuordnen sind (189). Der Autor will hier eine soteriologische Bedeutung abwehren. Zu fragen ist, warum neben dieser möglichen Gefahr die ekklesiologische Dimension des Charismas nicht systematisch reflektiert wird.

Im Ergebnis bleibt als Herausforderung an Theologie und Kirche neben dem generellen Erfahrungsbezug pneumatischer Frömmigkeit und ihrer Phänomene wohl vor allem das Gottesdienstverständnis zu nennen. Hier hebt der Vf. hervor, dass an die Stelle der herkömmlichen christologischen Ausrichtung die epikletische Orientierung tritt, mithin die Konzentration auf das spontane Wirken des Geistes als Gegengewicht zur vorherrschenden Kategorie des Erinnerns. Das führe möglicherweise zu mehr Demokratisierung des Gottesdienstes (391), der von den Charismen und nicht vom Amtsträger her strukturiert werden könnte. Angesichts der Nachteile, die in der Überbetonung solcher Aspekte liegen, empfiehlt der Vf. die Integration charismatischer Gottesdienstelemente in den liturgisch geprägten traditionellen Gottesdienst (245). Ob und wie dies angesichts der syntaktischen Geschlossenheit des gesamten liturgischen Settings in diesen Gottesdiensten jedoch glaubhaft gelingen könnte, bleibt ungeklärt.

Neben diesen Einzelergebnissen bleibt das Werk entgegen seinem Anspruch hinter den Erwartungen zurück, die man mit dem Titel verbindet. Es ist in seinem phänomenologischen Grundton zumindest hinterfragbar. Wichtige Forschungsergebnisse bleiben leider unberücksichtigt.