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Ausgabe:

Dezember/2002

Spalte:

1352–1354

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Weber, Joachim

Titel/Untertitel:

Diakonie in Freiheit? Eine Kritik diakonischen Selbstverständnisses.

Verlag:

Bochum: SWI Verlag 2001. 290 S. 8. Kart. ¬ 20,00. ISBN 3-925895-70-1.

Rezensent:

Arnd Götzelmann

Der noch in den 1980er Jahren beklagte Mangel an diakoniewissenschaftlicher Literatur ist mittlerweile einer geradezu unüberschaubaren Fülle von Titeln gewichen, die sich meist aus theologischer Sicht, seit den 1990er Jahren verstärkt auch in ökonomischer und multidisziplinärer Perspektive, mit dem weiten Feld diakonischer Grundlegungs- und Praxisfragen befassen. Fast in jeder Publikation tauchen die diakonischen Leitbegriffe Dienst, Dienstgemeinschaft, Barmherzigkeit, Solidarität, Glaube, Liebe, Nächstenliebe und gute Werke, z. T. in recht unkritischer Wiedergabe traditioneller Wendungen auf. Sie bilden die Basis diakoniewissenschaftlicher Theoriebildung, die zu oft weit reichenden Folgen für die Praxis diakonischen Handelns, wie z. B. diakonischen Arbeitsrechts, führt. Wer diese begrifflichen Grundlegungen der Diakonie kritisiert und neu füllt, bietet Sprengstoff für die ganze Diakonie in Theorie und Praxis. Eben dieser findet sich in dem Band von Joachim Weber, der als Teil einer an der Universität Köln im Frühjahr 2000 angenommenen philosophischen Dissertation im Selbstverlag des Sozialwissenschaftlichen Instituts der EKD erschienen ist.

Die Publikation beansprucht, eine "Kritik diakonischen Selbstverständnisses" zu bieten und setzt dazu plakativ bei der "hoch problematisch[en]" Ökonomisierung diakonischer Institutionen ein. "Diejenigen, die vom wirtschaftlichen Wettbewerb ... herausselektiert wurden, ... finden sich auf einmal in einem zügellos werdenden Wettbewerb der Hilfeinstitutionen wieder, in denen Klienten zu Kunden werden, in denen die Effizienzsteigerung ganze Hilfebereiche oder Klassen von Hilfebedürftigen aussortiert. ... Hilfebeziehungen ... werden ... dabei vollständig versachlicht." (9) Schon mit diesem Einstieg in seine Studie erweist sich der Vf. als gegenüber den neuen Entwicklungen der Diakonie wie - im weiteren Verlauf des Bandes - auch gegenüber ihren theologischen Traditionen kritischer und unabhängiger Geist.

Der perspektivische Standpunkt und Zugang der Untersuchung liegt bei den philosophisch-soziologischen Politiktheorien Hanna Arendts, deren Zentralbegriff der "Handlungsfreiheit" mit den Grundaxiomen der "Gebürtlichkeit" - d. h. eines radikal neuen Anfangs - und "Einmaligkeit" des Menschen, der "Initiativität und Pluralität" sowie der "Sichtbarkeit" und Öffentlichkeit sozialer Handlungspraxis korrespondiert. W. arbeitet ebenso die "modale" Differenzierung von "Arbeiten, Herstellen und Handeln" in Arendts Ansatz heraus wie die "sektorale Unterscheidung zwischen privatem, öffentlichem und gesellschaftlichem Raum" (16), die für das Hilfehandeln relevant werden. Auf dieser Basis vollzieht die Studie methodisch eine kritische Reflexion des Phänomens "helfenden Handelns und deren protestantisch-kirchliche[r] Deutung als diakonische Praxis" (24). Sie ist entstanden "in engem Bezug zur sozialpädagogischen Praxis" der beruflichen Erfahrungen des Vf.s in der "ambulanten Arbeit mit Behinderten" (7). Sie will keine biblische oder systematisch-theologische Grundlegung diakonischer Praxis bieten, sondern das Phänomen diakonischen Handelns im Licht der theologischen Tradition aus der spezifischen Perspektive von Arendts Ansatz reflektieren. Dabei stellt der Vf. einige der Konzepte Hanna Arendts dar und zeigt ein hohes theologisches Reflexionsniveau, das unterstützt wurde durch Experten wie den emeritierten Heidelberger Theologen und Religionssoziologen Kristian Hungar.

Die vier Kapitel des Bandes ventilieren entsprechend die Paradigmen 1. des Dienens und der Dienstgemeinschaft, 2. der Barmherzigkeit und Solidarität, 3. der Liebe und Brüderlichkeit sowie 4. der guten Werke und Rechtfertigung aus Glauben. W. fasst darin jeweils die diakonisch-theologischen Traditionen zusammen, stellt manch interessante binnentheologische und diakoniewissenschaftliche Kritik dar und bereichert das Ganze aus seiner von Hanna Arendt her gewonnenen Perspektive.

Ein Grundthema der Untersuchung ist dabei das der "Dienstgemeinschaft", die der Vf. im Kontext des "Dritten Wegs" als "großangelegte Verschleierungstaktik" (63) und als "weiter entfernt von Partizipation als andere Institutionen" (75) u. a. wegen einer unwirksamen Mitarbeitervertretung empfindet. Die Momente sozialer Gleichheit in den Gehaltsstrukturen, partizipativer Gleichheit in den Initiativrechten bei diakonischen Arbeitnehmern und -gebern und geregelter Handlungsfreiheit bei allen Beteiligten diakonischer Praxis hält der Vf. für deutlich unterbestimmt. "Die mehrfache Gefährdung der Freiheit im Kontext des Helfens, die in der wissenschaftlichen Blindheit gegenüber dem freiheitlichen Modus des Handelns kulminiert, kennzeichnet ... auch die diakonische Praxis. Dies wird am deutlichsten sichtbar im diakonischen Modell der Dienstgemeinschaft ..." (252). Arendts "Rätekonzept" (92) freiheitlicher Selbstverwaltung oder das Vorbild der Selbsthilfebewegung hält Weber hingegen für weiterführend.

Der Wert dieser Untersuchung liegt in ihren unabhängigen und innovativen Fragen im Blick auf die theologischen Fundamentalbegriffe diakonischen Handelns und in ihren kritischen Hinweisen auf mangelnde Freiheitskonzepte diakonischer Praxis. Die theologische Systematisierung der Thematik erscheint dabei freilich transparenter als die Darstellung der Konzepte Hanna Arendts. Das mag daran liegen, dass die für die diakonische Fragestellung des Buches relevanten Äußerungen Arendts aus weit verstreuten Publikationen zusammengetragen werden mussten, die sie zu sehr unterschiedlichen Anlässen und Themen verfasst hatte. Zu größerer Transparenz und Orientierung hätte auch beigetragen, die Literaturverweise in Fußnoten am Seitenende greifbar zu haben und sie nicht erst in den Endnoten eines jeden Kapitels suchen zu müssen.

Nach der Lektüre dieses Buches sieht man sich im Blick auf die Bedeutung der Theologie für die Diakonie vor die Frage gestellt: Sind angesichts der weithin legitimatorischen Funktion theologisch orientierter Diakoniewissenschaft für die etablierte Diakonie im deutschen Wohlfahrtsstaat solche philosophischen, soziologischen, politikwissenschaftlichen u. a. Grundsatzkritiken diakonischer Fundamentalfragen zu einer notwendigen Art von "Fremdprophetie" für die Diakonie und ihre theologische Reflexion geworden?