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Ausgabe:

Dezember/2002

Spalte:

1350–1352

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Schneider-Harpprecht, Christoph F. W.

Titel/Untertitel:

Interkulturelle Seelsorge.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2001. 386 S. 8 = Arbeiten zur Praktischen Theologie, 40. ¬ 46,00. ISBN 3-525-62367-4.

Rezensent:

Georg Lämmlin

Die Studie stellt die überarbeitete Fassung der Habilitationsschrift "Seelsorge und Beratung im interkulturellen Dialog" dar, mit der sich der Vf. an der Universität Leipzig 1999 habilitiert hat. Deutlicher als in der publizierten Fassung geht aus dem Titel der Habilitationsschrift hervor, dass hier Seelsorge und Beratung unterschieden und aufeinander bezogen werden. Dabei steht "Seelsorge" für die seelsorgliche Dimension in der Gemeinde-Kommunikation und "Beratung" für professionalisierte Formen seelsorglichen Handelns sowohl in pastoralen Zusammenhängen wie in (kirchlicher) Beratungsarbeit: Seelsorge wird verstanden "als befreiende Hilfe zu christlicher Lebensgestaltung durch die christliche Gemeinde für ihre Mitglieder und für die Außenstehenden, die sie suchen" (26), Beratung wird verstanden als "eine organisierte Form der Seelsorge, in der eigens dafür vorbereitete Gemeindeglieder durch das Gespräch und andere methodisch reflektierte Weisen der Kommunikation die Aufgabe befreiender Hilfe zur Lebensgestaltung wahrnehmen" (28). Mit dieser Schrift wertet der Vf. auf hohem theoretischen Niveau seine Erfahrungen in der Beratungsarbeit im soziokulturellen und sozioreligiösen Kontext Brasiliens in der Zeit seiner Tätigkeit an der ev.-luth. Hochschule in Sao Leopoldo und in eigener Beratungspraxis aus. Der Vf. war zur Zeit der Habilitation Geschäftsführer und kommissarischer Leiter des Seelsorgeinstituts an der Kirchlichen Hochschule Bethel und Seelsorger in den von Bodelschwinghschen Anstalten Bethel und ist seit 2001 Professor für Evangelische Theologie/ Seelsorge an der Fachhochschule Freiburg. Er ist ausgebildeter Psychodramaleiter und in psychoanalytischen und systemischen Formen von Familientherapien geschult.

In der Studie sollen - im Gespräch mit Ethnologie, Psychotherapieforschung, Psychologie und Soziologie - Elemente der Theorie und Praxis einer kulturell sensiblen Beratung und Seelsorge entwickelt werden. Dazu werden Erfahrungen aus der Familienberatung in Brasilien aufgegriffen und ausgewertet. Das Modell beansprucht darüber hinaus Relevanz für die interkulturelle Seelsorge und Beratung in westlichen Industrieländern. Der Kulturbegriff der "interpretierenden Anthropologie" (Clifford Geertz) wird mit dem Kognitions- und Kulturverständnis der "Theorie der lebenden Systeme" (Humberto Maturana) in Verbindung gebracht. Auf dieser Basis entwickelt der Vf. eine interkulturelle Hermeneutik und Kommunikationstheorie, mit der das Verhältnis von Evangelium und Kultur im ökumenischen Kontext strukturiert werden kann. Der Nutzen verschiedener Psychotherapie-Theorien und -Methoden für die interkulturelle Seelsorge wird geprüft, ein besonderer Schwerpunkt liegt auf dem Beitrag der Familientherapie und der narrativen Therapie.

Gegenüber seiner Dissertation zum "Trost in der Seelsorge" (Stuttgart 1989), in der theologische Aussagen (biblischer, reformatorischer und systematisch-theologischer Provenienz) auf vor- wiegend psychoanalytisch rekonstruierte Konfliktlagen, insbesondere auf das (inner-psychische) Leid- und Schulderleben, bezogen wurden, wird hier der Theoriebezug um Kulturanthropologie, Ethnopsychoanalyse und das Modell struktureller Familientherapie stark erweitert. Der Fokus liegt auf dem Kulturbegriff, d. h. in der Sache wird der Blick vom individuellen Erleben auf soziale und symbolische Interaktion und Struktur verlagert. Dabei steht der familiäre Zusammenhang im Mittelpunkt. Das Konzept der "Narrativität" bildet das Leitmedium bzw. die "Leitmetapher" (127 ff.) für eine Integration struktureller, kultureller, familiärer und sozialer Kontexte und theologischer Symbolisierungen. Dabei greift der Vf. einerseits das story-Konzept von Dietrich Ritschl (135) und andererseits rezeptionsästhetische Überlegungen zum prinzipiellen Unverständnis und zur Konstitution von Bedeutung im Lesen (138 ff.) auf, die mit Bezugnahmen auf den radikalen Konstruktivismus (Maturana/Varela) untermauert werden sollen (45 ff.).

Der konstruktivistisch, semiotisch (C. Geertz) und ethnopsychoanalytisch aufgeladene Kulturbegriff ermöglicht ein für kulturelle und kontextuelle Differenzen oder anders: für Fremdheit sensibilisiertes Verständnis von Seelsorge bzw. symbolisch vermittelter Kommunikation und Interaktion. In einem "ökologischen Modell kulturell sensibler Seelsorge" entwickelt der Vf. im brasilianischen Kontext eine verallgemeinerungsfähige Perspektive für eine auf "Empowerment im Zusammenhang der postmodernen Individualisierungstendenz" ausgerichtete Seelsorge (290 ff.).

In diesem aufgeladenen Kulturbegriff operiert der Vf. zunächst mit Tillichs Kulturtheologie (141) und Niebuhrs Typologisierung des Verhältnisses von Christus und Kultur (143 f.) und greift dann ökumenische Aspekte einer Theologie der "Inkulturation" und des interkulturellen Dialogs auf (dabei wird auch Sundermeiers Hermeneutik des Fremden herangezogen [148 f.]). Das Konzept der Narrativität, das die "Geschichten des Evangeliums ... als Ferment der Neuinterpretation und Umgestaltung" (150) zur Wirkung bringen soll, wird auf diese Weise hermeneutisch fundiert. Die theologische Fundierung hat ihren Kern in der Annahme, dass "Erzählung als eine Grundform der Überlieferung des Evangeliums ... neben anderen literarischen Formen wie Lob, Bekenntnisformel, Spruch und Gebet" (132) gelten kann. Die Zusammengehörigkeit von Form und Inhalt wird durch eine Gleichnistheorie begründet, wonach durch die Erzählstruktur der Evangelien eine "befreiende Geschichte" präsentiert wird, "die die konventionelle Ordnung der sozialen und kulturellen Welt durchbricht und Gottes Reich einer neuen Praxis menschlicher Beziehungen in Verbindung bringt" (ebd.).

Mit diesem metaphorisch gesteuerten Konzept der Narrativität wird eine theologische Leitdifferenz erzeugt, die über die hermeneutische Differenz im interkulturellen Verstehen prinzipiell hinausgeht. Die interkulturelle Differenz macht sich allerdings darin geltend, dass die Erzählstruktur von kultureller Kontextualisierung nicht zu trennen ist (144 ff.). Die Leitdifferenz des Evangeliums gegenüber der Kultur wird zunächst innerkontextuell wirksam, etwa in Form einer kritischen Kulturtheologie. Diese kann allerdings selbst auch nur in einem Kulturzusammenhang zur Geltung gebracht werden, so dass die Leitdifferenz nicht externalisiert und im interkulturellen Zusammenhang nur über das Modell einer "Reziprozität der Perspektiven" (145) kommuniziert werden kann, das sich als "Verstehen des Fremden" im Sinne von Sundermeiers praktischer Hermeneutik versteht (148). Auf diese Weise verarbeitet der Vf. die kulturelle Differenzerfahrung, die seine Erfahrungen in der Beratungsarbeit in einem fremden Kontext prägt und die er auch als Problem kirchlicher Beratungspraxis in der multikulturellen Gesellschaft ansetzt, durch strukturelle, kulturanthropologische und konstruktivistische Überlegungen. Das Ziel von Seelsorge und Beratung in diesem Kontext kann in allgemeiner Weise als "Empowerment" (229 ff.) bestimmt werden, wodurch auch dem mit Foucault reflektierten Problem der "Pastoralmacht" (316 ff.) begegnet werden soll. Das Wechselspiel zwischen "story" und soziokulturellem Kontext wird als "Ökologisches Modell kulturell sensibler Seelsorge und Beratung" (241) auf die Perspektiven Natur, Gesellschaft, Gemeinde, Familie und Individuum bezogen, in denen die Leitdifferenz von Evangelium und Kultur zu Geltung kommen kann. Die Beratungsarbeit wird als eine psychoanalytisch informierte, auf systemische und kommunikationsstrukturelle Aspekte fokussierte Vorgehensweise entworfen, in der die gesprächspsychotherapeutische (C. Rogers) Orientierung eher beiläufig (151 f., vgl. 23ff.) abgewiesen wird. Hervorheben möchte ich, dass ausdrücklich die Perspektive von Geschlechterrolle und Geschlechteridentität im cross culture-Vergleich thematisiert wird (321 ff.) und dass der Vf. Ansätze zu einer lebenszyklisch orientierten kirchlichen Praxis entwickelt, die über Seelsorge und Beratung im engeren Sinne hinaus auch auf Unterricht, Gottesdienst und Diakonie bezogen sind (286 f.).

Für erweiterungsbedürftig halte ich die theologische Grundlegung des Konzepts durch "ein trinitarisches Gottesverständnis und die im Symbol der Fleischwerdung des Wortes Gottes in Jesus Christus ausgesagte Verbindung von göttlicher und menschlicher Wirklichkeit" (31). Systemtheoretisch gesprochen bildet die seelsorgliche Kommunikation mit der Bezugnahme auf den dreieinigen Gott eine systembegründende Differenz ab, die nicht in inner-systemische Differenzierungen überführt werden kann, sondern als solche zumindest mit-kommuniziert werden muss. Deshalb lassen sich theologische Begründungsfiguren und funktionale Interventionen auch unter dem Begriff "befreiende Hilfe zur christlichen Lebensgestaltung" nicht ineinander auflösen, wenn nicht die fundamentale Unterscheidung von Gesetz und Evangelium in der Seelsorge aufgehoben werden soll. Hier partizipiert die Studie des Vf.s freilich an einer Problematik, die den poimenischen Diskurs insgesamt kennzeichnet.

Mit dieser Arbeit wird eine profunde Reflexion von praktischer Erfahrung vorgelegt, in der die kulturelle Kontextuali- tät kirchlicher Seelsorge und Beratungsarbeit auf Grund des "fremdkulturellen" Erfahrungshintergrundes in besonderer Weise aufgehellt wird. Der kirchliche und gemeindliche Kontext von Seelsorge wird nicht gegen eine spezifische Institutionalisierung von Beratungsarbeit ausgespielt. Es wird ein weitgespannter Dialog mit aktuellen sozialwissenschaftlichen und kulturanthropologischen Theorien geführt. Die Unterscheidung und Zuordnung von Seelsorge und Beratung scheint mir wegweisend für die Reformulierung eines poimenischen Konzeptes im gegenwärtigen Kontext zu sein. Das Beratungskonzept ist eindeutig im pastoralpsychologischen Diskurs der Seelsorgebewegung verankert, öffnet ihn aber in Richtung auf die neueren Perspektiven der Alltagsseelsorge (242 f.) und der Gemeindeseelsorge im Sinne des mutuum colloquium (247 f.). Die psychoanalytische Orientierung in der Seelsorgebewegung wird hier zu Gunsten von ziel- und lösungsorientierten Interventionstechniken abgeblendet, auf der Basis systemtheoretischer Überlegungen und vor dem befreiungstheologischen Hintergrund wird Seelsorge stärker politisch wahrgenommen. Die Verknüpfung von Fallbeispielen und Theorie macht das Buch gut lesbar.