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Ausgabe:

Dezember/2002

Spalte:

1348 f

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Nusstein, Bernhard

Titel/Untertitel:

"Ist nicht Kriegsdienst des Menschen Leben auf der Erde?" (Ijob 7,1). Der Beitrag von Predigtkritik und Predigtanalyse zu einem verantwortlicheren homiletischen Umgang mit der Leidfrage.

Verlag:

Würzburg: Echter 2001. 269 S. gr.8 = Studien zur Theologie und Praxis der Seelsorge 47. Kart. ¬ 19,90. ISBN 3-429-02398-X.

Rezensent:

Birgit Weyel

In dieser Würzburger katholisch-theologischen Dissertation nimmt sich Nusstein ein zentrales Thema homiletischer Praxis zum Gegenstand: die Theodizeefrage und wie sie in der Predigt in angemessener Weise kommuniziert werden kann. Wie der Untertitel des Buches anzeigt, soll es um einen "verantwortlicheren" Umgang mit der Leidfrage gehen, die - so N. - "der Prüf- und Stolperstein jeglichen Redens von Gott" (16) ist. "Wo die Gottesrede die menschliche Erfahrung des Leids verschweigt oder verharmlost, wird sie zynisch und belanglos" (ebd.). Bereits in seinen Vorbemerkungen deutet N. an, dass gerade darum die Predigt zur Theodizeefrage verbesserungsbedürftig ist, weil es offenbar vielen Predigern schwer falle, "die Aporie des Leids auszuhalten" (ebd.). N. geht somit von einem engen Zusammenhang von Inhalt und Interaktion in der Predigt aus, den er seiner Studie konsequent zu Grunde legt.

In einem ersten Kapitel (Die Leidfrage als Herausforderung für die christliche Predigt: 22-84) erschließt er sein Thema überblicksartig in biblisch-theologischer, systematisch-theologischer und schließlich praktisch-theologischer Hinsicht. Insbesondere dem Buch Hiob schenkt der Vf. große Aufmerksamkeit, weil es für einen "entscheidenden Paradigmenwechsel" stehe: "An die Stelle des fortwährenden Bemühens um die Deutung des Übels mittels lehrhafter, dogmatischer Systeme ... tritt eine praktische Theologie, die Leid nicht mehr theoretisch zu erklären versucht, sondern den Weg der existentiell-persönlichen Gebetsbegegnung mit Gott im Sinne eines Konflikt- und Krisengesprächs einschlägt." (37; Zitat O. Fuchs) In seinen systematisch-theologischen Überlegungen plädiert N. mit Karl-Josef Kuschel für "ein striktes Offenhalten der Theodizeefrage" (61) und beurteilt die Versuche, "Gott ... in einem Denksystem unterzubringen" (63) skeptisch, weil "im Angesicht des Leids nur eine vorsichtig tastende und stockende Rede dem Geheimnis und der Erfahrung der Menschen angemessen ist" (84).

Das zweite Kapitel (Predigtkritik und Predigtanalyse - Verfahren homiletischer Praxisreflexion: 85-131) bereitet methodisch die nachfolgenden Predigtanalysen vor. Bedeutung und Möglichkeiten einer vorwissenschaftlichen, spontanen Predigtkritik durch die Hörer, etwa im Predigtgespräch, als auch analytischer Verfahren, wie sie die Homiletik in den letzten Jahrzehnten entwickelt hat (Sprechakttheorie und Transaktionsanalyse), werden von N. ausführlich dargestellt. Auf der Basis dieser Verfahren werden die, von N. als "Forschungsdesign" (3. Kapitel, 132-142) bezeichneten, Fragehinsichten entworfen, mit denen er schließlich vier ausgewählte Predigten auswertet. Dieses 4. Kapitel (Predigtanalysen, 143-243) stellt den eigentlichen Forschungsbeitrag dar.

Allen vier Predigten, die Predigtsammlungen bzw. Predigthilfen entnommen sind, liegt Hiob 7,1-7 zu Grunde. Der enge Zusammenhang von Inhalt und Interaktion soll darin zum Tragen kommen, dass spontane, affektive Wirkungen der Predig-ten mit einer den Inhalten gewidmeten "theologisch-hermeneutischen Feinanalyse" (134 u. ö.) verbunden werden, um schließlich die verschiedenen Interaktionsebenen zu beschreiben, auf denen der Prediger mit seinen Hörern kommuniziert. Die Bewertung der vier Predigten, von denen N. zwei eher positiv und zwei eher negativ beurteilt, ist gerade darum sehr differenziert, weil Inhalts- und Interaktionsebene der Predigt gerade in ihrer Interdependenz in den Blick kommen (5. Kap.: Ertrag und Ausblick, 244-253). N. kommt zu dem Ergebnis, dass die Leidfrage dann angemessen in der Predigt zur Sprache kommt, wenn die Erfahrung des Leids nicht "zum Randproblem menschlicher Existenz" (244) depotenziert wird, indem der Erfahrung mit deklaratorischer Eindeutigkeit ein "einseitiges und apologetisches Gottesbild" (ebd.) entgegengesetzt wird. Nur ein "radikales Offenhalten der Theodizeefrage" (245) bei gleichzeitiger "klarer Option für leidende Menschen" (ebd.) könne, vorgetragen als offener Diskurs "in Augenhöhe" (ebd.), konstruktive Reflexions- und Veränderungsprozesse bei den Hörern auslösen.

N.s Studie ist konsequent praktisch-theologisch angelegt. Darin liegt ihre besondere Stärke. Die Predigt und ihre Praxis als Kommunikation mit den Hörern steht im Zentrum des homiletischen Nachdenkens. Die Art und Weise, wie in der Predigt mit den Erfahrungen der Menschen umgegangen wird, ob diese weder ignoriert noch marginalisiert werden, sondern, wie N. formuliert, die Predigt dazu verhilft, "diese Erfahrungen im Licht des Glaubens deuten und bewältigen" (252) zu können, entscheidet maßgeblich über ihr Gelingen. Den engen Zusammenhang von Predigtinhalten und kommunikativen Strategien des Predigers demonstriert N. anschaulich und eindrücklich. Seine Predigtanalysen sind sorgfältig, nachvollziehbar und zum Teil auch spannend zu lesen, obwohl die systematisch-theologische Option des Vf.s gegen die argumentative Rechtfertigung Gottes zu Gunsten der Klage des Menschen bereits früh deutlich wurde. N. rückt ein zentrales Thema der Predigt in den Blick, das möglicherweise eines der bedeutendsten Predigtthemen der Moderne ist, weil es - wie N. formuliert - "für die einen zum Fels des Atheismus, für die anderen zum Motor ihres theologischen Ringens" mit dieser Frage wird (50). Seinem Plädoyer gegen eindeutige dogmatische Antworten zu Gunsten der Dauerhaftigkeit des theologischen Ringens ist ebenso zuzustimmen, wie dem Hinweis auf die Potenziale der biblischen Texte.

Über den Ertrag zum Thema Leid in der Predigt hinaus bietet die Arbeit insbesondere im 2. Kapitel, aber auch in der Durchführung der Predigtanalysen einen guten Überblick über Möglichkeiten und Verfahren der Praxisreflexion in der homiletischen Ausbildung. Wer mit Predigtkritik im Rahmen von Ausbildung befasst ist, findet hier Anregungen, worauf zu achten ist, damit Predigtkritik tatsächlich ihre lehrreiche und für die Selbstreflexion des Predigers/der Predigerin unverzichtbare Funktion entfalten kann.