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Ausgabe:

Dezember/2002

Spalte:

1342–1345

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Schweitzer, Albert

Titel/Untertitel:

1) Die Weltanschauung der Ehrfurcht vor dem Leben. Kulturphilosophie III: Teil 1/2 und 3/4. Hrsg. von R. Brüllmann, E. Gräßer, C. Günzler, B. Kaempf, U. Körtner, U. Luz u. J. Zürcher.

2) Predigten 1898-1948. Hrsg. Von R. Brüllmann u. E. Gräßer.

Verlag:

1) München: Beck 1999/2000. 493 S. u. 504 S. gr.8 = Albert Schweitzer Werke aus dem Nachlaß. Lw. ¬ 62,00 u. ¬ 59,90. ISBN 3-406-45345-7 u. 3-406-45346-5.

2) München: Beck 2001. 1392 S. gr.8 = Albert Schweitzer Werke aus dem Nachlaß. Lw. ¬ 49,90. ISBN 3-406-46997-3.

Rezensent:

Klaus Otte

Wer nicht nur lexikalisch und biographisch das epochale "Universalgenie" an der Wende vom 19. zum 20. Jh., Albert Schweitzer, kennen lernen, sondern dem Urwalddoktor, Philosophen, Musiker und geheimen Lyriker, Prediger und theologischen Wissenschaftler existentiell begegnen will, muss sich in das reiche literarische Werk unter den Gesichtspunkten einer ontologischen Hermeneutik hineinleben. Die Neuveröffentlichungen "Kulturphilosophie III" und "Predigten 1898-1948" bilden die ersten drei Bände der achtbändigen Reihe "Albert Schweitzer Werke aus dem Nachlaß" und ergänzen in dieser Hinsicht vorzüglich das schon bisher edierte Opus.

Die von Claus Günzler, Johann Zürcher, Erich Gräßer, R.Brüllmann und anderen namhaften Theologen aus dem Nachlass Schweitzers herausgegebenen drei neuen Bände stellen nicht nur bibliographisch, sondern vor allem auch in ihrer sorgfältigen und hilfreichen Anordnung und Zuordnung wissenschaftlicher und spiritueller Zeugnisse und Dokumente eine kulturelle Leistung dar. Die Herausgebertätigkeit ist umso mehr zu würdigen, als sowohl das dokumentarische Material als auch die gedankliche Substanz der drei Bände auf eine unermüdlich kreative, nicht immer leicht zu systematisierende Urheberschaft treffen lassen. Schließlich hat Schweitzer selbst festgestellt, dass sein "Buch etwas chaotisch" sei, und dies nicht zu Unrecht auf die "Schwierigkeit des gewaltigen Stoffes" zurückgeführt, der nicht ohne Weiteres einen rubrizierenden Abschluss zulasse, sondern gerade gegenwärtig aktueller denn je geworden zu sein scheint.

Editionstechnische und das Thema aufnehmende Instruktionen erleichtern dem Leser die Lektüre: Wo im Nachlass aus irgendwelchen Gründen Lücken oder sonstige Unebenheiten entstanden sind, haben die Herausgeber etwa durch anderenorts vorhandene "originale Leitgedanken" des Autors den Verständnisweg geebnet. So gewinnt die Kulturphilosophie III im Gegensatz zu ihrer Vorgängerin an größerer Weite und Klarheit, obwohl Schweitzer sie vermutlich auch in Anbetracht der grundsätzlichen Unabschließbarkeit des Themas Mensch und Welt einen "unendlichen Wirbel" genannt hat.

Die zu je zwei Teilen mit den dazugehörigen Anhängen und Registern konzipierten beiden Bände der Kulturphilosophie III sind wie folgt organisiert: Grundlegende anthropologische Erwägungen über Leben, Individualität und Persönlichkeit (Kapitel I-III) leiten zur Erörterung über Menschenverstand und Denken über, welche beide mit dem überkommenen "geistigen Gut" griechischen, chinesischen, indischen, Zarathustras und jüdisch-christlichen Denkens in Zusammenhang gebracht werden (Kapitel IV und V). Das ganze Material wird daraufhin sowohl auf "neuzeitliches Denken", Ethik und Mystik bezogen. Im Teil II geht es dann um das Problem der Weltanschauung, das Denken der Menschheit, Frömmigkeit und Skeptizismus und schließlich um die Trias von Philosophie, Religion und Mystik. Der aus späterer Zeit stammende Teil III verrät die Zwischenzeit - und damit auch die weitere Entfaltung der Denkansätze - im Vergleich zum vorherigen. Die Punkte "Denken - Gefühl- Vernunft - Verstand" in "Lebens- und Weltbejahung" und ihrem Gegenteil werden empirisch stärker differenziert und gelangen letztendlich zu grundsätzlichen Problemen der Ethik. Im Teil IV wird die Auseinandersetzung mit der für Schweitzer gegenwärtigen Lebens- und Weltanschauung rekonstruiert und durch Anhänge und Dokumentationen vitalisiert. Diese Zugaben informieren nicht nur den quantitativen Wissensdrang, sondern vermitteln Einblick in Schweitzers existentielle wissenschaftliche Arbeitsweise.

Hieran schließen sich die "Predigten 1898-1948" wesentlich an. Die von R. Brüllmann und E. Gräßer edierte Predigtsammlung ist am 135. Geburtstag Albert Schweitzers erschienen. Durch die sachkundigen Einleitungen der Herausgeber ist dieser Band nicht nur zu einem meisterlichen Sammelwerk innerhalb der Geschichte der Homiletik geworden, auch nicht nur zu einem für heutige Prediger nützlichen Handwerkszeug, sondern er erweist sich auch als ein wichtiger Schlüssel zu dem phänomenalen Geist des Predigers und übersteigt durch seine fruchtbaren Ansätze und Bemerkungen bei weitem den allgemeinen nur wissbegierigen Horizont, welchen meist in der Gegenwart publizistische Manier kennzeichnet. Wie eine aus unmittelbarer Nähe zum Prediger festgemachte kleine Homiletik nehmen sich die ersten 57 Seiten des 1400 Seiten zählenden Werkes aus, das so viel Beweismaterial für den geistig-lebendigen Vollzug nicht nur des Predigers, sondern auch des sonstigen Genies beiträgt. Sogar für den Liebhaber von Statistik und Rubriken werden Predigtanlässe, Predigtarten, Titel, Bibelstellen und etwaige Register in höchster Akkuratesse geliefert. Neugierig machen und informieren will auch "eine Liste der unveröffentlichten Predigten" die nimmersatten Fachgelehrten.

Indessen offenbart sich Schweitzers Arbeitsweise kaum aus der Menge seiner Dokumente, sondern aus der wesentlichen Zusammenschau seiner anscheinend unterschiedlichen Tätigkeiten in einem eingrenzbaren Zeitraum und deren gedankliche Genese aus meist thematisch reich befrachteten Kernsätzen. So liegen den Predigten vielfach sinnreiche biblische Sentenzen zu Grunde, welche zur aktuellen Ansprache heranwachsen. Ähnlich, jedoch auf wissenschaftlichem Niveau, gedeihen allem Anscheine nach wie Samenkörner die anfänglichen geistigen Parzellen, die dann zu einem pionierartigen Neubaugebiet konvergieren. Beweis dafür sind die zahlreichen Sammlungen von in der Entfaltung begriffenen Gedanken in den Anhängen und auch die Fußnoten, welche als Netzwerk einen Einblick in die Spiritualität Schweitzers gewähren können. Diese Erkenntnis würde nicht nur nach Schweitzer die "Auseinandersetzung meines Ichs mit sich selbst und mit dem Leben und mit dem unendlichen Sein" (Band 2, 376) beleuchten, sondern zugleich auch die Notwendigkeit einer dynamischeren Ontologie und stärker phänomengebundener Kriterien aufzeigen. Stetig gemachte Einzelerfahrungen und vom Alltag bewegte Probleme wachsen bei Schweitzer fast wie von selbst zu komplexen Abhandlungen heran, wobei die gerade geforderten neuen Kategorien des Denkens dem europäisch orientierten Philosophen oft fehlen.

Beachtlich ist die fundamentaltheologische Grundlegung des Denkens und Argumentierens, zu dessen Zweck Schweitzer weder intensive Studien zeitgenössischer Diskussionen in Ideologie und Philosophie, noch biblische wissenschaftliche Forschung, noch religionswissenschaftliche Anstrengungen, noch das Erfahrungsfeld des "Bruder Mensch" scheut. Musik und lyrische Betrachtungsweise werden in die Argumentationen einbezogen, auf welche Weise eine besondere Art von Naturgesetz ins geistige Geschehen eingelassen wird. Vom Wachstum des Baumes (Band I, 50), vom Brechen der Wellen am Sandstrand (a. a. O., 98), die Notiz "Die Wiese rückt gegen den schmelzenden Gletscher vor" im Hinblick auf die ethische Wärme des Hinduismus im Gegensatz zum kalten "Gletscherfeld der brahmanischen Lehre" (a. a. O., 99) - hier und an vielen anderen Stellen werden die Denkweisen nicht nur bildlich, sondern auch tiefensymbolisch bzw. ontologisch gewonnen, wobei die Passagen einer gewissen Lyrik nicht entbehren. Das Sein ist eben nicht nur abstrahierendes Bild, sondern im wahren Sinne Ursprung.

Ohne Zweifel bleiben die eigentlichen Themen wie "Weltanschauung und Lebensanschauung", "Ehrfurcht vor dem Leben", "Lebens- und Weltbejahung" bzw. deren Verneinung die Zentralpunkte, welche den großen Theologen und Menschen nicht nur zu einem Vorläufer zukünftig notwendigen Christentums, sondern zu einem Vorbild derer machen können, welche im Dialog mit den Weltkulturen und Religionen das Gebot der Stunde erkannt haben und damit das volle Evangelium zu leben beginnen. Denn auch eine religionsontologische Bibelauslegung, welche über die historisch-kritische Exegese hinaus die inneren Seinszusammenhänge der Texte stärker beachten lernt, weist in eine solche Richtung und hat eine gewisse Nähe zu Schweitzers "Die Mystik des Apostels Paulus".

Kritisch ist auch für die Rezeption dieses dreibändigen Teilwerks zu beachten, dass Albert Schweitzer sich kaum aus der Perspektive eines von Computerwissen gedopten jeweiligen Spezialforschers befriedigend begreifen lässt, sondern mit seinem gesamten Engagement den Leser in eine umgreifende praktische und theoretische Pflicht der "Ehrfurcht vor dem Leben" nimmt, die heutigen mit Verantwortung betrauten Berufen nicht selten abgeht. Sein umsichtiger Dialog mit den Spezialgebieten seiner Zeit und Religionen der Welt im Rahmen seiner Gedankengänge gleicht dem Erforschen seiner eigenen existentiellen Basis und der dazu erforderlichen Kriterien und wäre als enzyklopädisches Rubrizieren von Wissensquanten missverstanden. So ließe sich beispielsweise zum Komplex "Das indische Denken" und damit zugleich zum Verhältnis Buddhismus-Christentum neu Erforschtes sagen, das einerseits über Schweitzer hinausführen und andererseits seine Intention festigen würde. Die große Bedeutung der Mystik und die Wirkung des positiven Nichts für unsere wissenschaftliche Neubesinnung lässt sich sachgemäß in Schweitzers Denken einfügen. Das existentiell-wissenschaftliche Engagement kann eine gegenwärtig auf breitester Basis dialogbedürftige Welt zu einem tatsächlichen Dialog rufen, der sich von dem gelehrigen Austausch bloßer Informationen unter dem Vorwand, "von einander lernen" zu wollen, durch seine ontologische Verankerung deutlich unterscheiden muss.