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Ausgabe:

Dezember/2002

Spalte:

1338 f

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Kößler, Henning

Titel/Untertitel:

Die Überwindung der Selbstbefangenheit. Eine Religionsanthropologie.

Verlag:

Hildesheim-Zürich-New York: Olms 2001. XI, 234 S. 8 = Religionswissenschaftliche Texte und Studien, 10. Kart. ¬ 29,80. ISBN 3-487-11420-8.

Rezensent:

Stefan Seiler

Ein "theologienahes, aber kein theologisches Buch" (VII), so bezeichnet der Philosoph Henning Kößler seine Studie, in der er das "anthropologische Grundthema" der religiösen Überlieferung, nämlich die Überwindung der Selbstbefangenheit, entfaltet. Ausgehend von den magischen Anfängen der Religion spannt er dabei den Bogen über die Prophetie, die Psalmenfrömmigkeit und die Weisheit des Alten Testaments bis hin zur neutestamentlichen Jesuspredigt.

Die Ursprünge der Religion sieht K. in dem Umstand, dass Menschen einerseits zum vorausschauenden, planenden Handeln befähigt wurden, gleichzeitig aber den Gefährdungen und Unwägbarkeiten des Lebens ausgeliefert waren. Dieses Überforderungs- und Insuffizienzsyndrom habe dazu geführt, dass man auf dem Wege der Magie etwas zu erlangen suchte, was mit eigenen, natürlichen Kräften nicht zu erreichen gewesen sei. Insofern seien die Anfänge der Religion Zeugnisse menschlicher "Selbstbesorgung". Von solchem Denken seien auch die frühisraelitischen Nomadensippen geprägt gewesen: Man habe sich verpflichtet, einer lokalen Gottheit einen ständigen Kult zu errichten, und als Gegenleistung von ihr Schutz und Beistand erwartet. Ein derartiges Verfahren bezeichnet K. als "magischen Tausch".

Erst mit der Prophetie beginne religionshistorisch wie religionsanthropologisch etwas Neues. Sie habe ein Umdenken vom Magischen ins Moralische, vom Kultischen ins Soziale gefordert, prangerten doch die Propheten einen vermeintlichen JHWH-Gehorsam an, bei dem man kultisch-rituelle Gebote zwar genau befolgte, gleichzeitig aber das Recht beugte und sich auf Kosten der Armen und Schwachen bereicherte. So habe die Prophetie zu einem Wandel der Gottesidee geführt. Aus dem Gott des magischen Tausches sei der Gott der Gerechtigkeit geworden. Die "Übernorm" der Gerechtigkeit verlange aber die Preisgabe egozentrischen Denkens und diene somit als "Transsubjektivitätsprinzip" der Überwindung der Selbstbefangenheit.

Mit Ezechiels "Entdeckung des Einzelnen" beginne ein neues Kapitel der Frömmigkeitsgeschichte, das von der Individualisierung des JHWH-Glaubens geprägt sei. Er stelle die Brücke zwischen der Verkündigung der großen Propheten und der Frömmigkeit der Psalmen dar. Zwar seien die "Fluch- und Rachepsalmen" noch von der Vorstellung des magischen Tausches bestimmt, andere Psalmen hingegen seien aus einer Freiheit heraus geschrieben, die die Sorge um sich selbst hinter sich gelassen habe.

In diesem Zusammenhang geht K. ausführlich auf den Gottesbegriff ein. Dabei betont er, dass von Gott nicht theoretisch-wissenschaftlich geredet werden könne, sondern nur in überpersonaler, praktischer Rede. Das Wort "Gott" sei eine Chiffre für Grenzerfahrungen, worunter er Endlichkeitserfahrungen versteht, die den Menschen mit seiner Verwundbarkeit und der Hinfälligkeit seiner Planungen konfrontieren. Durch diese "anthropologische Rekonstruktion" werde das allmächtige, transzendente Wesen jenseits dieser Welt zu einer "Klasse psychischer Widerfahrnisse" (137) umgedacht. Von Gottes Gnade, der Befreiung aus der Selbstbefangenheit, sollte nach K. in performativer, protreptischer Rede gesprochen werden, die andere motiviert und in Bewegung setzt. Seine Ausführungen zum Alten Testament schließt er mit einem Blick auf den Propheten Deuterojesaja, dessen Eschatologie er als nationale Heilserwartung - und mithin als nationale Selbstbefangenheit - wertet und der er die apokalyptische Eschatologie des Danielbuches gegenüberstellt, die nicht auf nationale Erneuerung, sondern auf das Gottesreich wartet.

In den letzten drei Kapiteln seines Buches wendet er sich der Jesuspredigt zu. Das Gleichnis vom reichen Kornbauern zeige wie kein anderes die conditio humana, die offene, ungeschützte Flanke des Menschen, die dieser jedoch nicht wahrhaben wolle. In ihm gehe es um die Bereitschaft eines Lebens auf Abruf, um Transsubjektivität im Verhältnis zum eigenen Ich - und dies sei das eigentlich Neue an der Jesuspredigt. Besonders in der Bergpredigt mit ihrem Ruf aus der Sorge (Mt 6,25-34) oder ihrer Forderung der Feindesliebe (Mt 5,43 f.) spiele die Bereitschaft zum Loslassen eine zentrale Rolle. Das Gebet, das nur insofern als Bitte zu verstehen sei, als es zur Transsubjektivität gegenüber sich selbst und anderen bereit machen solle, diene der Überwindung der Eigenmächtigkeit und Selbstbehauptung (vgl. Mt 6,5-8). Die Seligpreisungen (Mt 5,3 f.) bezeichnet K. als "Visionen der Humanität" (220), da in ihnen eine Welt entworfen werde, die ihre Selbstbefangenheit, Konkurrenz und Konflikte hinter sich gelassen habe.

K.s religionsanthropologischer Ansatz, der jenseits metaphysischer Spekulationen die überkommene christliche Überlieferung in eine von moderner wissenschaftlicher Aufklärung geprägte Zeit "übersetzen" will, ist in vieler Hinsicht gelungen. Mit der Frage nach der Überwindung der Selbstbefangenheit hat er in der Tat eine Zentralperspektive erfasst, die im Alten wie im Neuen Testament als Befreiung des "homo incurvatus in se" in ihren verschiedenen Ausformungen thematisiert wird. Sein Hinweis, dass solche Texte nicht nur Mitteilung, sondern immer auch Anrede sind, in der sich Hörer und Hörerinnen wiederfinden, die sie als protreptische Rede "packen" und motivieren soll, könnte für Theologie und Kirche zu einem wichtigen Impuls werden, ihr eigenes Reden von Gott kritisch zu überprüfen.

Freilich kann man fragen, ob der von K. gezeichnete Kontrast zwischen seinem religionsanthropologischen Ansatz und der christlichen Dogmatik (er spricht von einem "postdogmatischen Christentum"; 222 ff.) angemessen ist, zumal sich Dogmatik durchaus der Anthropologie verpflichtet weiß. Zu fragen bleibt ferner, ob nicht die konkreten Hoffnungen und Heilserwartungen des Alten wie des Neuen Testaments Ausdruck eines tiefen Vertrauens auf Gott und dessen Möglichkeiten sind, die auf ihre Weise dazu beitragen, dass Menschen von sich absehen lernen. Es wird deutlich, dass K. mit seinem Buch eine Diskussion angeregt hat, die gewiss nicht nur für Fachtheologen lohnend ist.