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Ausgabe:

Dezember/2002

Spalte:

1334–1337

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Fischer, Norbert, u. Dieter Hattrup

Titel/Untertitel:

Metaphysik aus dem Anspruch des Anderen. Kant und Levinas.

Verlag:

Paderborn-München-Wien-Zürich: Schöningh 1999. 382 S. gr.8. Kart. ¬ 43,20. ISBN 3-506-72532-7.

Rezensent:

Philipp Stoellger

Kant und Levinas in einer Studie zu vereinen, mag überraschen- wird aber plausibel, wenn man bedenkt, dass beide auf je ihre Weise vom Primat der praktischen Vernunft ausgehen. Darin indes treten beide bereits auseinander: Was dem einen kritische Grenze, ist dem anderen Quelle des Selbst. Die zwiefältige Studie lässt überraschende Nähen und befremdliche Differenzen erwarten. Methodisch gliedert sich der Band in zwei eigene Interpretationen, die von je einem der Autoren vertreten werden (vgl. 13 ff.27 ff.). Dabei scheint im Hintergrund ein hermeneutischer Chiasmus leitend zu sein, Kant im Blick auf Levinas zu lesen und vice versa (vgl. 17.24).

F. will seine Studie "Kants kritische Metaphysik und ihre Beziehung zum Anderen" (47-230) als "immanente Kant-Interpretation" verstanden wissen (9.17, 1), in der er vorausschauend dem "Anspruch des Anderen" begegnet in der "Befremdlichkeit des Unbedingten", das die Vernunft begründet und begrenzt im "Bewußtsein des moralischen Gesetzes" als dem "Faktum der reinen Vernunft" (18). Die Grundfrage F.s lautet, "wie Metaphysik als Naturanlage möglich ist" (19 mit KrV B 21).

H. wagt sich mit Levinas über die kritische Grenze hinaus, bewegt von Fragen "diesseits und jenseits der Freiheit", in einer "Bewegung, die vom Gedachten ausgeht", das sich zeigt (28, 2). Dazu verweist H. auf die deutsche Einleitung von Levinas Totalität und Unendlichkeit von 1987, um die Bewegung vom Gedachten her und das "esse ab alio" des Menschen zu plausibilisieren (29 ff.34). Auch wenn H. gelegentlich zu theologischen Figuren übergeht (41.46, s. u.), will er Levinas als Bewegung des Denkens (diesseits der Theologie) darstellen (41), weil sich sonst die "Vernunft von der Störung zu befreien sucht", die ihr dieses Denken bereite (11). - So sehr das in der Philosophie ihr gegenüber treffend ist, wird in H.s Lesart gleichwohl eine starke theologische Grundierung zu Tage treten.

1. F.s Kantstudie verfährt in zwei Schritten: "Die Befremdlichkeit des Unbedingten. Der Platz für das Andere in Kants Kritik der reinen Vernunft" (49-139 [vgl. Inhalt]) und "Die Gegenwart des Unbedingten in Kants praktischer Philosophie. Das Bewußtsein des moralischen Gesetzes als das einzige Factum der reinen Vernunft" (140-230).

a) Kant sei kritischer Metaphysiker ist F.s Tenor ( 3, 49 ff.), da die Vernunft nicht von der Frage nach dem Unbedingten lassen, es aber nur im Modus der Defizienz denken könne (65 f.). Nach einem Gang durch die transzendentale Analytik folgt der durch die Dialektik ( 4, 66 ff.), in der die Grenzen des Landes der Wahrheit ausgelotet werden und sich zeige, dass es nur eine Insel sei (77). Sofern der "Regressus vom Bedingten zum Unbedingten" (85) eine unabweisbare (98) Aufgabe der Vernunft bleibe, entdecke sie auf diesem Weg ihr eigenes Unvermögen (5, 85 ff.). F. geht soweit, in diesem Getriebensein "das Unbedingte selbst als Agens" (102, vgl. 121) und die "grundlegende Passivität" der Vernunft zu sehen (66, vgl. 104.119.147.204 f.). Da die Suche nach dem Unbedingten in einem Abgrund enden würde, werde es "nur im Modus der Defizienz als Urgrund von Allem gedacht" (121, vgl. 141). In der Reflexionslogik des transzendentalen Ideals ( 6, 103 ff.) komme "von der Gegenseite des Abgrundes her eine Beziehung zum Bedingten in Gang" (107). Denn vom Unbedingten als "unbegreifliches Anderes" (122) gehe ein Anspruch aus, der die Vernunft antreibe, praktisch zu werden ( 7, 121 ff.139).

b) In der KpV begegne der "Anspruch des Unbedingten" im Sittengesetz als Pflicht (122, 8, 140 ff.), in dem sich die Freiheit offenbare und eine "andere Spontaneität" zu Tage trete (147). Praktisch sei die reine Vernunft "[a]llein durch die Beziehung auf den Anderen" (158, s. 163.177), denn das Moralgesetz gebiete "die Achtung vor dem Prinzip des Anderen ... als Zweck an sich selbst" (178; 9, 158 ff.). Die Asymmetrie der Pflichten gegen uns selbst und gegen Andere zeige sich in der Analyse der geforderten Heiligkeit des Willen ( 10, 178 ff.). Kants Interpretation des Doppelgebots der Liebe verstehe die Pflicht zur Liebe als asymmetrische "Dankbarkeit für das Dasein des Anderen" (188). Es scheint indes vor allem F. zu sein, der gegen eine "versteckte Symmetrie" von ego und alter argumentiert (191 ff.193), nicht ohne Plausibilität, denn die Tugendpflicht der eigenen Vollkommenheit diene dem Anderen und suche, dessen Glückseligkeit zu befördern (194). Liebe und Achtung überschreiten so gesehen den Horizont symmetrischer Gerechtigkeit (195 f.).

Entsprechend seien die Postulate der KpV ( 11, 196 ff.) eine Überschreitung der Selbstgenugsamkeit in der "Hoffnung auf anderweitig Gegebenes" (212). Das Andere seien allerdings nicht nur die Anderen (196 f. 213), sondern auch das Übersinnliche über und nach uns (Gott und Unsterblichkeit). F. findet hierin eine "stringente[] Überleitung von der Moral zur Religion" (214, vgl. 197 f.). Denn die Verpflichtung sei nur durch einen Anderen anschaulich zu machen und als solcher fungiere Gott (199). Nur er (201) vermöge die Divergenz von Glückswürdigkeit und dessen mangelnder Verwirklichung auszugleichen (207 f., vgl. 209 ff.).

Nachdem F. die Gegenwart des Anderen moraltheoretisch (re)konstruiert hat, interpretiert er den Grund der Selbstgesetzgebung der Vernunft, die "Gegebenheit des Unbedingten" (222) nicht als Selbstbestimmung, sondern angesichts der pluralen Anderen als "Heteronomie des vernünftigen Subjekts" (214 ff.228) - mit der bereits auf Levinas zugehenden These: Die "laute Stimme der Vernunft, ... die Kant auch als himmlische Stimme bezeichnet, ertönt stellvertretend für die ohnmächtige Stimme des Anderen" (227, vgl. 229). F.s Fazit lautet daher: "Metaphysik ... folgt dem Anspruch des Anderen" (230).

Auch wenn diese starke Lesart nicht mit Kant-exegetischer Notwendigkeit einhergeht, ist sie exegetisch wie systematisch begründet und macht einsichtig, wieso Levinas sich zu Recht auf Kant bezieht und in pragmatischer Tradition verortet werden kann, auch wenn er über sie hinausgeht. Die religionstheoretische Ausführung des Primats der praktischen Vernunft provoziert allerdings die Frage nach deren Pendant bei Levinas.

2. H. intendiert in seiner Levinas-Interpretation "keinen neuen Beitrag zur Wissenschaft", sondern lediglich dessen Gesagtes "wieder zum Sagen zu bringen" (44); ob das zumal als Text möglich ist, wäre hermeneutisch zu erörtern (vgl. u. a. 247). Nicht ohne Spannung versucht H. eine "Gesamtdarstellung" (44) von Levinas' Philosophie in drei Teilen: a) "Die Andersheit" (233- 282), b) "Die Sprache" (283-321) und c) "Die Gerechtigkeit" (322-351).

a) Die Andersheit sei der "Einbruch des Anderen in das Selbe" ( 13, 233 ff.) und das "Erscheinen der Intrige" der Transzendenz, wenn sie ins Denken einfällt. Diese Grundfigur untersucht H. im Blick auf ihren Status als Metaphysik (237 ff.). Der "Kern der Metaphysik" sei "der Zwang zur Repräsentation des Seins" (245); wohingegen bei Levinas Metaphysik heiße: "Immer wieder die erste Stufe [des Sagens] in den Blick nehmen" (248) im Angesicht des Anderen. H. unterscheidet also eine onto-theologische von einer anderen Metaphysik, erstere ist von dem Primat der Repräsentation bestimmt, letztere von der Präsenz des Anderen (vgl. 268 ff.275 f. 289; vgl. zu Kant 325.330; 254.291. 296 f.). Bemerkenswert ist, wie H. signifikant theologisch formuliert (237 u. ö.) bis dahin, im Verhältnis zum Anderen dezidiert nicht zwischen Gott und Mensch unterscheiden zu wollen, weil "ihr Ort hier ein einziger genannt wird" (234; vgl. 251.333.336!).

H. bearbeitet daraufhin die bei Levinas' Ansatz üblichen Darstellungsprobleme (248 ff.). Der Andere sei "das absolut Neue", das sich nicht einfüge in die Ordnung des Seins, sich aber kundtue (250.297, s. 304). Die "Asymmetrie des Selben und des Anderen" ( 14, 252 ff.) rekurriert auf die Figur der Paradoxie (253 f.). Dem gängigen Einwand gegenüber: "Indem Levinas das Unendliche als das Andere gegen die Totalität denken will, muß er es in der Sprache verraten" (258), versichert H. allerdings nur, die strenge Asymmetrie "macht es möglich, Symmetrie festzustellen"; statt wie Derridas zu verfahren, sei es "besser, ... das Flimmern der Asymmetrie ... mit den Mitteln der Seinssprache zum Ausdruck zu bringen" (258 f.). Die "ethische Weltformel ...: Ich bin für alles verantwortlich, denn alles bedeutet mir etwas" wird fraglos affirmiert (261; erst der "Übergang zum Dritten" wird hier nähere Klärung bringen: 263 f., s. 271.295ff.335 ff.). - Dass "die Wahrheit im Aussprechen unwahr" werden kann (265 u. ö.), ist sicher wahr, aber wie ist dann eine Gesamtdarstellung möglich? Davon entlastet auch der Stil der Paraphrase nicht, denn die wiederholt bereits. Nachdem H. mit seiner Paraphrase alle Lasten von Levinas Philosophie auf sich genommen hat, erörtert er "Die Einwände gegen den Anderen" ( 15, 264 ff.). Denen gegenüber versichert er: "Trotzdem bleibt es wahr, dass ich die Last der Welt zu tragen habe", denn: "Die Berufung trägt mich" (265). Ob das noch eine der Vernunft erschwingliche Bewegung des Denkens ist?

b) Im zweiten Teil behandelt H. Levinas' Verständnis der "Sprache" (283 ff.): "Im Sagen spricht sich das Dasein des Menschen aus, im Gesagten bedenkt oder bearbeitet er das Sein der Welt" (285). Allerdings sei jedes Gesagte einst Sagen gewesen, und jedes Sagen habe einen "Inhalt des Gesagten" (286). Die Grenzwerte dieser Differenz seien Dogmatismus und Relativismus (285 ff.292), denen Levinas mit seinem "Skeptizismus" entgehe (287 ff.). Das Sagen sei die "Passivität", die "passiver als alle Passivität" sei, die dem Denken und der Freiheit vorausgeht und von der her das Subjekt geworden ist (293).

Entsprechende Rückfragen aufnehmend erörtert H. Levinas' "Wandel der Sprache" in Verbal-Nomina mit Bindestrich-Fügungen und fragt, ob es nicht vielmehr "einen Wandel im Subjekt" brauche (299). Levinas' spätere "Abwendung von der ontologischen Normalsprache" sei unnötig, weil gerade in dieser Sprache die Paradoxe sagbar seien (ebd.). So recht H. damit hat, so falsch ist der Schluß: "Nun sollen die Bindestrich-Nomina [in Jenseits des Seins] die Paradoxe wegschaffen ..." (302, dto. 310). Damit wird beispielsweise der Titel Anders als Sein unterschätzt und erst recht Levinas' Metaphysik des Jenseits ..., der H. doch folgte. Sein Schluss, die Sprache von Jenseits des Seins "präsentiert die Nicht-Repräsentierbarkeit", wendet nun Levinas' Paradoxierung gegen ihn (303; vgl. 43.284.298 f.). Wenn H. indes fragt, wie es das Sagen mit dem Gesagten gebe (310.312), und mit der Figur des "Zeugen der Wahrheit" antwortet (310 ff.), der "von einem Jenseits des Seins" Zeugnis gibt (311), rekurriert er im Übrigen wieder auf Jenseits des Seins (vgl. 327.337.341).

c) Der dritte Teil erörtert die "Gerechtigkeit jenseits des Krieges" (322-351). Im Wesentlichen argumentiert H. mit Levinas gegen die soziale Verteilungsgerechtigkeit im Rückgang auf ein präintentionales Verantwortungs- und Schuldverhältnis gegenüber dem Anderen.

Das Schuldverhältnis wird (wieder) theologisch gefasst: "Gott, der Andere, ist bei Levinas immer gerechtfertigt, denn er hat mir das Leben gegeben ... Ich bin schuldig ..., da ich durch mein Leben anderes Leben verhindere", damit beginne "mein Unrecht. Dies zeige, "wie sehr Levinas als Philosoph spricht, der Schuld erkennen, aber nicht wegheben kann. Seine Philosophie tröstet nicht und soll nicht trösten" (333 f., aber 343 ff.). - H. koppelt damit eine abwegige Theologiekritik: "Theologisch kann ich mein Leben ganz einfach rechtfertigen, denn ich brauche mich nur auf den Willen Gottes zu berufen" (334).

Wie aus dem basalen Asymmetrieverhältnis Gerechtigkeit denkbar wird, zeigt der Andere des Anderen, der Dritte und die Pluralität der Anderen (335 ff.). Dass diese Pluralität später sei als die singuläre one to one-Beziehung, wäre eigens zu prüfen. Geht man von dieser Ordnung aus, kehrt durch den Dritten die Konstellation wieder, an der Kant arbeitete - allerdings etwas verändert. Wie die Symmetrie anders aus der Asymmetrie hervorgeht, das zu denken sei eine "mühevolle Aufgabe" (337). H. rekurriert dazu auf "eine göttliche Gnade ..., die mir zu Hilfe kommt", denn ohne einen Anspruch zu haben, "werde ich selber in die symmetrische Runde aufgenommen" (338) - ob das noch im erklärten Sinne philosophisch gedacht ist? H.s Fazit, "Die öffentliche Ordnung ist gerecht, wenn sie die Person jeder Ordnung vorordnet" (342), könnte einiges gewinnen, wenn sie B. Waldenfels Phänomenologie hinzuzöge, um die Genese von Ordnung aus dem Außerordentlichen zu verstehen.

Zum Schluss erörtert H. das Verhältnis von "Philosophie und Theologie" (342-351). Wissen(schaft) habe sich mit Hegel jeden Trost zu verbieten (344 f.), daher sei die Philosophie auch trostfrei (345 ff.). Aber angesichts der Trostbedürftigkeit des Lebens werde die Trostfreiheit zur Trostlosigkeit. H. meint sogar: "Der Gott, der von den Philosophen als trostfrei aufgestellt worden war, bedarf des Trostes, weil er sterblich geworden ist" (347). Wenn aber "die Religion den Trost spendet" (343) und ermöglicht, was die Philosophie nicht vermöchte, "die ewige Gegenwart des Anderen" (348), wird der Religion Immenses zugemutet, wenn der Trost nicht wohlfeil sein soll. Und das ist er nicht, wenn die "Heiligkeit" als Figur des Lebens vor dem (und für den) Anderen gilt, mit der starken These: "Die das Weltall durchziehende Heiligkeit ist ... diejenige Gottes", an der der Mensch in Opfer, Verantwortung und Hingabe teilnehmen könne (350). Von hier aus wird auch verständlich, warum H. die Unruhe der unbedingten Verantwortung in unüberhörbar christologischen Wendungen entfaltete ("Er hat keinen Ort mehr, wohin er sein Haupt legen könnte!", 266, vgl. 265.257. 253). Final erscheint doch (entgegen der einleitenden Vorsätze) die Religion als Ort und Horizont der gelebten Verantwortung vor dem Anderen (und der Andere als Gott, vgl. 348). - Damit ist allerdings der Philosophie Erhebliches zugemutet: Die "Umkehr" (oder "Bekehrung") vom Anderen her heiße, dass die Philosophie "faktisch immer schon Religion oder Theologie" sei (350 f.).

So scheint die römisch-katholische Gestalt einer christlichen Philosophie rehabilitiert (transformiert in eine jüdisch-christliche?). Ob damit aber der radikalen Phänomenologie nicht ihre befremdliche Alterität genommen wird? Wenn im Grunde immer schon Religion und Theologie die Quelle darstellten, aus denen die(se) Philosophie lebe, wird sie auf eine Weise verstanden, bei der man an Schleiermachers Wut des Verstehens erinnert wird. H. meint mit Levinas: "der Zeuge, wenn er echt ist, war wirklich Zeuge und kann um so nachlässiger mit der Darstellung verfahren, als er sich des Ereignisses sicher ist" (300) - und fast scheint es, als würde H. diese These auch für seine Levinas-Darstellung in Anspruch nehmen. Nur würde so allenfalls der überzeugt, der des Zeugen nicht mehr bedarf.