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Ausgabe:

Dezember/2002

Spalte:

1332–1334

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Disse, Jörg

Titel/Untertitel:

Kleine Geschichte der abendländischen Metaphysik. Von Platon bis Hegel.

Verlag:

Darmstadt: Primus/Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2001. 311 S. 8. Geb. ¬ 24,90. ISBN 3-89678-412-9.

Rezensent:

Hans Martin Dober

Obwohl erst kürzlich das nach-metaphysische Zeitalter ausgerufen wurde, erfreut sich die Metaphysik in der letzten Zeit offensichtlich eines neu erwachten Interesses (vgl. Panajotis Kondylis, Die neuzeitliche Metaphysikkritik, 1990; Uwe Justus Wenzel [Hrsg.], Vom Ersten und Letzten. Positionen der Metaphysik in der Gegenwartsphilosophie, 1998). Jörg Disse nun deutet das "metaphysische Bedürfnis" (Kant) anthropologisch: Der Mensch ist ein "homo metaphysicus" (294). In dieser Perspektive schreibt er Philosophiegeschichte in der Form guter Prosa. Diese hat einem Wort Walter Benjamins zufolge "drei Stufen: eine musikalische, auf der sie komponiert, eine architektonische, auf der sie gebaut, endlich eine textile, auf der sie gewoben wird". Die Idee dieser philosophiegeschichtlichen Komposition beruht auf der in der Antike entwickelten Auffassung der Metaphysik als Ontologie. Historisch unterlag diese Idee allerdings dem Wandel ihrer Interpretation.

Am Leitfaden der üblichen Epochisierung werden jeweils drei große Philosophien der Antike, des Mittelalters und der Neuzeit in eine Konstellation gebracht und textil verwoben. So werden die Fragen und Antworten der grundlegenden metaphysischen Konzeptionen der Antike bei Platon, Aristoteles und Plotin in die Perspektive der Leitfrage nach dem "Grund der Dinge" (19) gestellt. Die metaphysische Konstellation des Mittelalters besteht dann darin, dass Augustin und Thomas von Aquin bei allen Unterschieden eine "lebendige Auseinandersetzung zwischen Philosophie und Theologie" (196) für möglich hielten und aufbauend auf antike Konzepte realisierten. Diese Vermittlungen griechischen Denkens mit - kirchlich verstandenem - biblischem Geist werden in gedanklichen Verhältnissen plausibler Entsprechung und Weiterbildung bzw. Zuspitzung zur Darstellung gebracht. An Wilhelm von Ockham als "wichtigem Vordenker der Neuzeit" (179) wird gezeigt, dass das späte Mittelalter nicht nur die Zeit der "harmonischen Synthesen", sondern auch teils unbewusster "Spannungen und Konflikte" (177) gewesen ist. Für die neuzeitlichen Philosophien von Descartes, Kant und Hegel schließlich ist kennzeichnend, dass sich ihre jeweilige metaphysische Dimension nur durch die Kritik der Tradition hindurch erkennen lässt. Der Vf. ist aber nicht der Meinung, dass die Metaphysik hier überhaupt verabschiedet werde. Vielmehr versteht er zu zeigen, inwiefern diese drei großen Konzeptionen der Subjektivität des Bewusstseins und Selbstbewusstseins die alten Fragen transformiert haben, gerade so aber - bei aller Differenz zu den antiken und mittelalterlichen Systemen - nur auf dem Mutterboden des griechischen Denkens haben wachsen können. Nicht nur wird in der Reflexivität des Historikers verständlich, warum Metaphysik nach Hegel als Illusion erscheinen konnte, sondern in der Hermeneutik des Verdachts wird auch der Verzicht darauf als Verdrängung entlarvt (227-294).

Die panoramatische Darstellung ist aus Vorlesungen hervorgegangen, die ihr Vf. in Luzern gehalten hat. Didaktisch stellen sie im einzelnen Beitrag wie im Gesamtzusammenhang eine systematische Leistung dar, die man klassischen Einführungen in die Philosophie (wie etwa denen von Windelband oder Weischedel) an die Seite stellen kann. D. beherrscht die Kunst der einfachen Darstellung, derer es heute mehr als in vergangenen Zeiten zu bedürfen scheint. Die Einfachheit geht aber nicht auf Kosten der Sachlichkeit, Gründlichkeit nicht auf Kosten der Nachvollziehbarkeit. Immer wieder werden offene Interpretationsfragen einschlägiger Texte angedeutet, ohne dass der Vf. mit seiner eigenen Position hinter dem Berg hielte. Welches Kapitel man auch liest: Jeweils werden die Grundbegriffe des betreffenden Denkens an gut gewählten Beispielen erläutert, aufeinander bezogen und mit denen anderer Denker in Zusammenhang gebracht.

Es versteht sich von selbst, dass bei einem derart weit ausgreifenden Überblick manches im Status der Andeutung verbleiben muss und anderes gänzlich unterbelichtet bleibt. In dem Bewusstsein der Unvermeidbarkeit dieses Problems sei (exemplarisch und also ohne den Anspruch auf Vollständigkeit) auf zwei Beschränkungen hingewiesen. 1. Zwar wird immer wieder mit bestem Erkenntnisgewinn der Bezug metaphysischer Fragestellungen zur christlichen Theologie hergestellt - wenn etwa die plotinische Philosophie zur altkirchlichen Auseinandersetzung um die Lehre ins Verhältnis gesetzt wird (104) oder wenn Meister Eckarts Vorstellung vom "Seelenfünklein" als Fortschreibung der plotinischen Auffassung vom Göttlichen in der menschlichen Seele sichtbar gemacht (114) oder die innere Durchdringung von christlicher Religion und philosophischer Idee bei Hegel nachvollzogen wird -, Analogien und Vergleiche, Entwicklungslinien und Weiterführungen in der jüdischen Tradition finden aber leider an keiner Stelle Erwähnung. 2. Einige Zeitgenossen Hegels von Rang (wie etwa Schleiermacher) werden nicht einmal namentlich genannt. Auch wenn die nur äußerst knapp behandelte Frage nach der auf ihn folgenden Metaphysik den Rahmen der Untersuchung übersteigt, wird sich in diesem Zusammenhang die grundlegende Überzeugung des Vf.s bewähren müssen, dass "die Metaphysik ... der Kern der Philosophie" ist und bleibt (11). Sie scheint heute nur noch in ihren kritischen Varianten möglich, deren Erkenntnisstatus "den Einzelwissenschaften ... unterlegen" (294) bleibt.

Insgesamt wird man dieses gelungene Buch jedem an der Philosophie Interessierten uneingeschränkt als Einführung empfehlen können. Für den erfahrenen Leser bietet es nicht nur Überblicke zur Vergegenwärtigung und Repetition, sondern auch Anregungen zum Neuverstehen.