Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Dezember/2002

Spalte:

1324–1327

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Titel/Untertitel:

1) Hermann Mulert. Lebensbild eines Kieler liberalen Theologen (1879-1950). Mit einem aus dem Nachlass herausgegebenen Text "Wie wir wieder ein Volk werden sollen" von 1945 sowie ausgewählten Texten aus den Jahren 1930 bis 1936. Zusammengestellt und bearb. von M. Wolfes. Hrsg. vom Verein für Schleswig-Holsteinische Kirchengeschichte.

2) Hermann Mulert in Kiel. Dokumentation eines Wissenschaftlichen Symposions der Theologischen Fakultät der Christian-Albrechts-Universität aus Anlass des 50. Todestages. Hrsg. von Reiner Preul.

Verlag:

1) Neumünster: Wachholtz 2000. 152 S. m. 16 Abb. gr.8. =SVSHKG.B, 50. ¬ 10,00. ISBN 3-529-04050-9. (I)

2) Kiel 2001. 75 S. ISBN 3-928794-32-9. (II)

Rezensent:

Hasko v. Bassi

An seiner früheren Wirkungsstätte Kiel erweist man dem Systematiker Hermann Mulert anlässlich des 50. Todestages gleich zweimal die Reverenz. Der Verein für schleswig-holsteinische Kirchengeschichte widmet ihm einen biographischen Band (I), und die Kieler Theologische Fakultät publiziert Vorträge, die anlässlich einer Gedenkveranstaltung gehalten wurden (II: Dietrich Korsch, Geschichte und Glaube bei Hermann Mulert; Matthias Wolfes, Hermann Mulert in Kiel. Ein Beitrag zu Mulerts akademischer Wirksamkeit unter besonderer Berücksichtigung der Geschichte der Theologischen Fakultät; Theodor Mulert-Busch, Persönliche Erinnerungen an Hermann Mulerts Zeit in Kiel).

Beide Publikationen wurden maßgeblich von dem seit einigen Jahren in Kiel tätigen Berliner Theologen und Historiker Matthias Wolfes initiiert, der bereits mit einer Vielzahl von theologiegeschichtlichen und biographischen Arbeiten hervorgetreten ist und im Jahre 2000 auch an anderen Stellen in Vorträgen und Zeitschriftenbeiträgen an Mulert erinnert hat (u. a.: Die Demokratiefähigkeit liberaler Theologen, in: R. vom Bruch [Hrsg.], Friedrich Naumann in seiner Zeit. Berlin/New York: de Gruyter 2000).

Wiewohl Mulert zu den wichtigsten Gestalten der sog. liberalen Theologie gehört, hat er bislang nur ganz selten im Zentrum wissenschaftlicher Bemühungen gestanden. 1988 war er Gegenstand einer Leipziger Dissertation (Klaus-Michael Führer, Hermann Mulert. Kirchlicher Liberalismus als politischer Protestantismus in der Weimarer Republik und im "Dritten Reich". Studien zur Biographie), aber darin erschöpft sich der Befund dann auch schon weitgehend.

Diese Nichtbeachtung hat gewiss eine doppelte Ursache. Im Zuge der Wiederentdeckung des Kulturprotestantismus seit Mitte der 1970er Jahre hat sich das Forschungsinteresse zunächst auf die erste Generation dieser theologischen Strömung konzentriert, also auf die weit überwiegend in der zweiten Hälfte der 1850er Jahre geborenen Theologen der Religionsgeschichtlichen Schule und ihres weiteren Umfeldes (so beispielsweise auch der im Übrigen hervorragende, von Hans Martin Müller 1992 herausgegebene Band "Kulturprotestantismus. Beiträge zu einer Gestalt des modernen Christentums"). Der theologische Paradigmenwechsel nach dem Ersten Weltkrieg führte ganz offensichtlich zu einer Verzerrung der theologiegeschichtlichen Forschungsperspektive. Dass es auch nach 1918 eine fruchtbare theologische Arbeit liberaler Theologen gegeben hat, wurde kaum wahrgenommen. Der 1879 geborene Mulert gehört dieser zweiten Generation an, die unter erheblich erschwerten akademischen und politischen Bedingungen in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus liberale Positionen neu zu formulieren und zu vertreten hatte. Matthias Wolfes hat bereits in seiner eindrucksvollen theologischen Dissertation (Protestantische Theologie und moderne Welt. Studien zur Geschichte der liberalen Theologie nach 1918, Berlin/New York: de Gruyter 1999) begonnen, diese Forschungslücke zu schließen.

Der zweite Grund für die Tatsache, dass Mulert in Vergessenheit geriet, ist individueller Natur und liegt in seinem beruflichen Lebensweg. Er hat über lange Jahre hin als Privatdozent in inadäquaten Positionen als Redakteur und Sekretär arbeiten müssen, bevor er nach und nach über Vertretungen und eine außerordentliche Professur endlich auf ein Ordinariat gelangte.

Der einem lutherischen Pfarrhaus entstammende Mulert studierte Theologie und Philosophie in Leipzig, Marburg, Berlin und Kiel. Nach Tätigkeiten als Religionslehrer und Hilfsgeistlicher promovierte er 1907 an der Theologischen Fakultät zu Kiel und wurde dort im selben Jahr noch habilitiert. In den folgenden zehn Jahren war er ohne universitäre Besoldung Privatdozent in Kiel, Halle und Berlin. Erst 1917 wurde er außerordentlicher Professor in Kiel. 1920 erhielt er dann ein persönliches Ordinariat, das er bis zu seiner 1935 auf eigenen Antrag erfolgten Entpflichtung innehatte. Als Nachfolger Martin Rades führte er ab 1932 das publizistische Flaggschiff des Kulturprotestantismus, die "Christliche Welt", durch die schwierigen Jahre des Nationalsozialismus, bis 1941 seitens des Unrechtsregimes die Einstellung sämtlicher kirchlicher Blätter verfügt wurde. Dass der überzeugte Demokrat und engagierte Unterstützer der Weimarer Republik in Kreisen der Bekennenden Kirche unerwünscht war, wirft ein bezeichnendes Licht auf die von der sog. Dialektischen Theologie geprägte kirchenpolitische Bewegung. Mulert seinerseits waren beim Pfarrernotbund "die wiederholten Erklärungen, man stehe auf dem Boden des 3. Reiches, bedenklich", und er war der Ansicht, dass "der Wille zur Macht, der Nationalsozialisten und Deutsche Christen beherrscht, und der Sinn für Autorität, der bei den Dialektikern allmählich stark wurde, verwandte geistige Haltungen sind" (zit. bei Wolfes: I, 31). 1943 schloss Mulert sich den Quäkern an. Nach dem Kriege nahm er Lehraufträge an den Universitäten Jena und Leipzig wahr. Einer Rückkehr an die Kieler Universität kam 1950 der Tod zuvor.

Auf nahezu fünfzig Druckseiten (I) liefert Wolfes ein detailliertes Lebensbild Hermann Mulerts, das ergänzt wird durch Skizzen zum theologischen Oeuvre mit den Schwerpunkten Schleiermacher-Forschung und Konfessionskunde, ausgehend von Mulerts enzyklopädischem Entwurf "Religion, Kirche, Theologie" von 1931.

In einem längeren Beitrag (II, 9-29) entfaltet der Marburger Systematiker Dietrich Korsch Überlegungen zum Verhältnis von "Geschichte und Glaube bei Hermann Mulert" und berührt damit einen zentralen Aspekt liberaler Theologie insgesamt. Theologiegeschichtlich verortet Korsch Mulert zwischen Troeltsch und Wilhelm Herrmann. Durchaus kritisch reflektiert Korsch die Verwobenheit von Glaube und Geschichte in der liberalen Theologie und weist auf deren Mangel an eigener religiöser Produktivität hin (27). Liberale Theologie bleibe auch bei Mulert angewiesen auf den Gegenpol dogmatischer Positivität.

Wenn Wolfes konstatiert, dass sich "die Erforschung des Liberalprotestantismus in Deutschland noch in einem Anfangsstadium" befinde (II, 48), so ist ein Fragezeichen erlaubt. Richtig ist, dass es auf diesem Felde weiterhin eine Reihe von Desideraten gibt. Freilich steht doch zu vermuten (oder, je nach Standort, zu befürchten), dass sich die Forschungsinteressen in den nächsten Jahren faktisch auf andere Gegenstände richten werden. Nach der inzwischen etwa dreißig Jahre andauernden Renaissance des Kulturprotestantismus, die uns denn doch eine Vielzahl hervorragender Editionen (Schleiermacher, Troeltsch) und bedeutende Einzelstudien zu den wichtigsten Wortführern des liberalen Protestantismus (Harnack, Rade, Troeltsch) beschert hat, treten in den letzten Jahren zunehmend die konservativen Antipoden in das Gesichtsfeld der kirchen- und theologiegeschichtlichen Forschung (vgl. hierzu auch die einleitenden Überlegungen von Thomas Schlag in seiner Studie über Martin von Nathusius, Berlin/New York: de Gruyter 1998). Darüber hinaus bleibt auch die zunehmende Rezeption sozialgeschichtlicher Ansätze im Bereich der Kirchen- und Theologiegeschichtsschreibung nicht ohne Wirkung. Die Bedeutung der akademisch-theologischen Diskurse insgesamt wird relativiert, und es wird mehr und mehr danach gefragt, welche theologischen Fragestellungen und Positionen denn auf kirchlicher und gemeindlicher Ebene Wirkung entfaltet haben. Und ob hier der Kulturprotestantismus wirklich nachhaltigen Einfluss hatte, ist zweifelhaft.

Unabhängig davon, wie man die weitere Entwicklung der theologiegeschichtlichen Debatte in den kommenden Jahren einschätzt, ist Matthias Wolfes dafür zu danken, dass er Mulert wieder ins Bewusstsein gerufen hat. Vor allem der mit Fotos und Dokumenten liebevoll ausgestattete Band des Vereins für schleswig-holsteinische Kirchengeschichte (I) setzt Mulert ein auch äußerlich würdiges Denkmal. Das Buch wird zusätzlich wertvoll durch den Abdruck einer Vielzahl von ausgewählten, zum Teil bislang nur schwer zugänglichen Texten aus den Jahren 1930 bis 1936 sowie insbesondere durch die von Wolfes sorgfältig kommentierte Edition von Mulerts im Nachlass aufgefundenen politischen Überlegungen aus der Zeit des Zusammenbruchs des Deutschen Reiches im Sommer 1945 unter dem Titel "Wie wir wieder ein Volk werden sollen", einem beeindruckenden Plädoyer für die Freiheit des Geistes. Es bleibt zu hoffen, dass Wolfes seine Pläne für eine vollständige Mulert-Bibliographie und hinsichtlich einer Edition der Mulertschen Überlegungen zu "Christentum und Nationalsozialismus" aus den Jahren 1944/ 45 recht bald in die Tat umsetzen kann.

Ein ergänzender Hinweis: Für die kirchenpolitische Lage Mitte der zwanziger Jahre besonders bezeichnend sind die Vorgänge um eine von der Zensur beanstandete Rundfunkpredigt Mulerts. Mulert hatte sich hier aus theologischen Gründen für eine pluralistische Kirche, die verschiedene theologische Strömungen beieinanderhält, ausgesprochen, und eben dies wurde am 6. Februar 1927 vom zuständigen sozialdemokratischen Beamten lediglich aus der Befürchtung heraus beanstandet, dass konservative Kreise mit engerer Ekklesiologie Anstoß nehmen könnten. Mulert hielt seine Predigt dann zwar in der Kieler Heiligen-Geist-Kirche, verzichtete aber auf die Ausstrahlung im Radio (Schleswig-Holsteinisches Kirchenblatt, Neue Folge, Nr. 15 vom 10.4.27 und Nr. 16 vom 15.4.27; Joh. Schröder, Diakonie im Lande zwischen Nord- und Ostsee, 1986).

Ein Corrigendum am Rande: Auf S. 54 (II) spricht Wolfes fälschlich vom Fürstentum Lauenburg (so unter Bezugnahme auf W. auch Korsch, II, 22). Ein solches hat es nie gegeben. Lauenburg war (und ist, zumindest dem Namen nach, bis heute) ein Herzogtum. Vermutlich ist aber an dieser Stelle ohnehin nicht Lauenburg gemeint, sondern vielmehr das Fürstentum Lübeck. In seinem Artikel über Mulert im BBKL (Band 15, 1999, 1043-1110) weist W. selbst auf Mulerts Mitgliedschaft im Vorstand des DDP-Landesverbandes "für Schleswig-Holstein und das Fürstentum Lübeck" hin.