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Ausgabe:

Dezember/2002

Spalte:

1321–1324

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Maron, Gottfried

Titel/Untertitel:

Ignatius von Loyola. Mystik - Theologie - Kirche.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2001. 301 S. gr.8. Geb. ¬ 34,00. ISBN 3-525-55442-7.

Rezensent:

Helmut Feld

Die Forschungen über Ignatius von Loyola und den von ihm gestifteten Männerorden, die "Gesellschaft Jesu", haben in den letzten drei Jahrzehnten zu beachtlichen Ergebnissen geführt, unter denen vor allem die Quellenübersetzungen des Jesuiten P. Knauer und die Biographien von C. de Dalmases (1979), R. García-Villoslada (1986), J. Tellechea (1986), J. W. O'Malley (1995) und W. W. Meissner (1997) zu nennen sind. Hinzu kamen im Jahre 2001 die Studie von P. C. Hartmann: "Die Jesuiten" und das hier zu besprechende Buch. Dieser Tatbestand kann einen skeptischen Leser zu der Frage veranlassen, was denn eine weitere Lebensbeschreibung des Ignatius noch Neues bringen könne. Dem Vf. gelingt dies durchaus, indem er, ein Postulat von Rahner aufgreifend, den Schwerpunkt seiner Studie auf den "theologischen Ignatius" legt. Bemerkenswert ist ferner, dass erstmals seit H. Boehmer, dessen Biographie 1914 erschien und 1941 und 1951 nachgedruckt wurde, sich wieder ein evangelischer Gelehrter um die Erstellung eines geistigen Profils des "katholischsten" aller Heiligen der Neuzeit bemüht.

Im Einzelnen beschäftigen sich die acht Kapitel des Werkes, nach einer kurzen Übersicht über den Lebenslauf des Ignatius, mit den Büchern, die sein theologisches Denken geprägt haben, insbesondere der Bedeutung der Heiligen Schrift für ihn (I); der Eigenart der ignatianischen Mystik (II) und Theologie (III); der Rolle der Kirche in seinem Denken (IV); dem besonderen Charakter der Gesellschaft Jesu (V); dem ignatianischen Menschenbild (VI); den Vorstellungen, die Ignatius von einer Reform der Kirche hatte, und in diesem Zusammenhang mit der Prägung seiner Frömmigkeit (VII); schließlich mit "Ignatius von Loyola in evangelischer Sicht", mit einem Vergleich von Ignatius und Luther (VIII). Ein ausführliches Quellen- und Literaturverzeichnis sowie Personen- und Sachregister beschließen den Band.

Es steht außer Frage, dass damit ein geistiges Profil des Ignatius erarbeitet wurde, das auf sorgfältiger Quellenanalyse beruht und sich durch Dichte der gebotenen Informationen ebenso auszeichnet wie durch Einfühlungsvermögen in die theologischen und spirituellen Tendenzen des Stifters der Gesellschaft Jesu. Der von ihm selbst formulierten Richtlinie für seine Arbeit ist der Vf. in hervorragender Weise nachgekommen: "Suche nach geschichtlicher Wahrheit heißt zugleich Entfernung von konfessionalistischer Voreingenommenheit" (281). Wenn sich gleichwohl beim Lesen eine Fülle von Ansatzpunkten zu kritischen Fragen ergeben, so liegt das weniger an der Unvollkommenheit des Werkes als an der Komplexität des Gegenstandes und der Unterschiedlichkeit der Betrachtungsweisen.

Mit Recht betont der Vf. die Distanz des Ignatius zu der Stellung, die die Heilige Schrift im Humanismus und bei den Reformatoren einnahm (38-43). Wenn in den "Dingen des Glaubens" den Visionen für den Basken eine größere Bedeutung zukommt als der Bibel, so steht er damit in der Tradition der mittelalterlichen Mystik; so waren z. B. für Hildegard von Bingen ihre eigenen Offenbarungen der Maßstab für die Interpretation der Schrift und das religiöse Leben überhaupt. Und wenn Ignatius argumentiert, die Schrift setze voraus, "daß wir Verstand haben", so ist auch das weder überraschend noch originell; denn bereits Origenes hatte für die beiden Fälle der Unvollständigkeit und der vordergründigen Vernunftwidrigkeit der Heiligen Schrift auf das Gebot Gottes hingewiesen: "Zündet euch selbst das Licht der Erkenntnis an" (Hos 10,12 LXX; Origenes, De princ., Praefatio und IV,3). Es ist dies ein hermeneutischer Grundsatz, der von der Väterzeit bis zum Spätmittelalter galt und der erst durch das "Sola scriptura" der Reformatoren entschieden negiert wurde.

Von seinen durch die Reformation geprägten theologischen Voraussetzungen her stellt der Vf. an Ignatius die Fragen, die "aller Mystik" gelten, hauptsächlich die Frage, "ob hier nicht doch die unübersteigbare Grenze zwischen Gott und Mensch mystisch aufgehoben und überschritten" sei (77 f.). Ob in dieser Weise an einer Unvereinbarkeit zwischen reformatorischer Theologie und Mystik festgehalten werden kann, ist allerdings fraglich (vgl. dazu neuerdings: K. Dienst, Mystik und Protestantismus - ein Widerspruch?, in: Ä. Bäumer-Schleinkofer [Hrsg.], Hildegard von Bingen in ihrem Umfeld - Mystik und Visionsformen in Mittelalter und früher Neuzeit, Würzburg 2001, 275-292; D. Fauth, Mystik bei Thomas Müntzer - historische Analyse, Wirkungsgeschichte und gegenwärtige Bedeutung, ebd. 275-292). Dagegen werden in den Bemerkungen "zur Eigenart ignatianischer Mystik" (78-83) deren Unterschiede zu den Vorstellungen mittelalterlicher Mystikerinnen und Mystiker zutreffend markiert: Es fehlt das Vokabular der Brautmystik; es gibt keine Vergöttlichung der Seele, keine Wesensverschmelzung zwischen Gott und Mensch. An ihre Stelle tritt die Erfahrung der Vision von La Storta, in der Ignatius erlebt, wie er von Gott an die Seite seines Sohnes gestellt, ihm "zugesellt" wird (66-70).

Es ist unvermeidlich, dass sich bei eingehender und jahrzehntelanger Beschäftigung auch bei einem um Objektivität bemühten Wissenschaftler Verständnis und Sympathie mit dem Gegenstand seiner Forschung einstellen. Doch würde man gerade bei einem evangelischen Gelehrten ein wenig mehr kritische Distanz zu doppelbödigen Zügen in Spiritualität und Theologie des Ignatius und seines Ordens erwarten; um nur einige Beispiele zu nennen: Zwar ist es nicht Ignatius, der den "Kadavergehorsam" erfunden hat, sondern Franziskus von Assisi, aber indem er den Willen des kirchlichen Oberen mit demjenigen Gottes identifiziert, geht er weiter als Franziskus und die altkirchlichen und mittelalterlichen Mönchsväter (vgl. 181-184). Ignatius hat diesen vorauseilenden Gehorsam nicht nur von den Mitgliedern seiner "Gesellschaft Jesu" verlangt, sondern auch der Exerzitant soll sich darin einüben, wie vor allem die achtzehn Regeln, "wie man in echter Weise in der streitenden Kirche gesinnt sein müsse", mit denen das Exerzitienbuch schließt, beweisen. Vor allem der Wortlaut der berühmten dreizehnten Regel, in der die Wahrheit mit den Sprachregelungen der "hierarchischen Kirche" identifiziert wird, "so daß ich glaube, daß das Weiße, das ich sehe, schwarz ist", muss man, durchaus im ignatianischen Sinne, "verkosten". Die Geisteshaltung, die darin und in dem "Loben" theologischer Nebensächlichkeiten und kultischer Äußerlichkeiten zum Ausdruck kommt, ist, zusammen mit der überragenden Rolle, die Übungen wie der Beichte, der Höllenbetrachtung und der körperlichen Selbstzüchtigung zukommen, in ihrem Wesen irrational, unwahrhaftig und pathogen. Wer sich den Anweisungen solcher Dokumente unterzieht, gelangt kaum zu einem Einklang mit dem Willen Gottes auf Erden, sondern möglicherweise in psychopathische und biographische Abgründe. Es darf deshalb nicht verschwiegen werden, dass die in den ignatianischen Exerzitien eingeübte Spiritualität, wie die Lebensläufe bedeutender Jesuiten bis in die jüngste Gegenwart beweisen, entweder zu kritikloser Ergebenheit und Verleugnung der eigenen Überzeugung in Wort und Schrift oder zu zynischer Doppelexistenz führen kann. E. T. A. Hoffmanns Jesuitenprofessor Aloysius Walther ist keine bloß literarische Fiktion.

Ich halte aber die ignatianischen Exerzitien - nicht in der stark verkürzten, verharmlosten und verwässerten Form, in der sie heute gegeben werden - vor allem für gefährlich wegen des ihnen zu Grunde liegenden Bildes von der christlichen Gesellschaft. Dieses Bild ist bedingt durch den historischen Kontext, in dem sie entstanden sind. Die Kirche, von der Ignatius spricht, ist nicht mehr die Societas Christiana des Mittelalters mit ihren Gegensätzen, Zweifeln, ihrem geistigen und religiösen Reichtum, sondern die Kirche des werdenden "konfessionellen" Zeitalters; es ist außerdem die spanische Kirche, die geprägt ist durch die Reconquista und die auf sie folgende Abgrenzung von Muslimen und Juden und die Verfolgung dieser nichtchristlichen Volksgruppen. In den Entscheidungen dieser eng gewordenen, gegen ein vermeintliches Meer von Irrlehren sich abschottenden Kirche sieht Ignatius letztlich eindeutige Offenbarungen des Willens Gottes.

Es hätte dem im Ganzen lobenswerten Buch nicht geschadet, wenn der Vf. in dem erwähnten Themenbereich etwas mehr "reformatorische" Distanz zum Geist des Ignatius gezeigt hätte.

Die Darstellung der ignatianischen Theologie ist jedoch insgesamt überzeugend. Aufschlussreich ist auch der Vergleich mit Luther, der allerdings durch einen Vergleich mit Calvin ergänzt werden müsste. Abschließend möchte ich anmerken, dass ich über die Bedeutung der Gestalt der Jungfrau Maria für Persönlichkeitsentwicklung und Spiritualität des Ignatius anderer Ansicht als der Vf. bin. Doch ist darauf hier nicht näher einzugehen.