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Ausgabe:

Dezember/2002

Spalte:

1319–1321

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Titel/Untertitel:

Kirche und Israel. Ein Beitrag der reformatorischen Kirchen Europas zum Verhältnis von Christen und Juden. Im Auftrag des Exekutivausschusses für die Leuenberger Kirchengemeinschaft hrsg. von H. Schwier.

Verlag:

Frankfurt/M.: Lembeck 2001. 161 S. 8 = Leuenberger Texte, 6. Kart. ¬ 5,00. ISBN 3-87476-392-7.

Rezensent:

Andreas Schüle

Der Beitrag Kirche und Israel schließt an die 1995 von den Leuenberger Signatarkirchen herausgebrachte Studie Die Kirche Jesu Christi an und komplettiert die damals vorgelegte Ekklesiologie. Aus Lehrgesprächen der Jahre 1996-99 ging ein erster Entwurf hervor, der in zwei anschließenden Revisionsgängen in die nunmehr publizierte Konsensform gebracht wurde.

Der Text gliedert sich in drei Teile: Der erste skizziert die Geschichte jüdisch-christlicher Begegnung in den Leuenberger Kirchen schwerpunktmäßig seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Eine vergleichbar kompakte und gleichwohl differenzierte Darstellung, die auch für den kirchlichen und akademischen Unterricht geeignet ist, war bislang ein Desiderat. Der anschließende Durchgang durch die spannungsvolle Geschichte des Christentums zum Judentum setzt beim Neuen Testament an und analysiert den Prozess, in dem sich die frühchristliche Kirche vom Judentum als ihrer Mutterreligion emanzipierte. In der Bewertung wird darauf abgehoben, dass dieser Prozess von ambivalenter Dynamik geprägt war; er setzte Polemik und Gewalt frei, bewahrte allerdings auch das Bewusstsein für die bleibende Bezogenheit des Christentums auf die Texte und Traditionen Israels.

In gewisser Hinsicht markiert der historische Befund zugleich den Ausgangspunkt des zweiten dogmatischen Teils: Unter den thematischen Gesichtspunkten der Offenbarung des Gottes Israels in Jesus Christus, des christlichen Verständnisses der Heiligen Schriften Israels, des Erwählungshandelns Gottes und schließlich der Frage nach Kirche und Israel als Volk Gottes wird ein Kirchenverständnis umrissen, das die partikulare Identität des Christentums zu profilieren sucht, ohne gegenüber dem Judentum einen - latenten oder expliziten - Exklusionscode aufzubauen. Der dritte Teil schließlich wendet sich unter der Überschrift Die Kirche in Israels Gegenwart Folgerungen für die kirchenleitende, katechetische, homiletische und liturgische Praxis der Kirche zu.

Es sind zwei historische Feststellungen, in denen die Studie die bleibende theologische Bedeutung Israels für die Kirche erkennt: zum einen, dass Jesus und der Kreis seiner ersten Jüngerinnen und Jünger Juden waren; zum anderen, dass mit der Aufnahme der heiligen Texte Israels, des Alten Testaments, in den eigenen Kanon die Kirche für sich den Erinnerungsraum und den Verheißungshorizont Israels als bleibend verbindlich akzeptiert hat. Insofern partizipiert die Kirche im Blick auf ihre Erinnerung wie ihre Hoffnung auf Gottes Handeln am kulturellen Gedächtnis (J. Assmann) Israels. Gleichwohl wird unmissverständlich zum Ausdruck gebracht, dass das Bekenntnis der Kirche "zu dem Einen Gott Israels" seinen genuinen, nicht ableitbaren Inhalt hat "aufgrund von Tod und Auferstehung Christi sowie aufgrund der Ausgießung des Heiligen Geistes. Daher versteht sie [die Kirche] diesen Gott anders als Israel, und sie spricht auch anders von diesem Gott als Israel es tut. Sie bekennt sich zu dem dreieinigen Gott" (58).

Das systematische Problem dieser Konstellation liegt auf der Hand: Wie ist das eigene Offenbarungszeugnis der Kirche vereinbar mit der Wertschätzung für und der Verpflichtung auf die Texte und Traditionen Israels? Die Sprachregelung, die hierfür angeboten wird, ist die der "Vertiefung", "Erweiterung" und "Erneuerung" des Alten durch den Neuen Bund. Immer wieder geht es - mit Verweis auf Paulus' organisches Bild vom Ölbaum aus Röm 9-11 - darum, das Christusgeschehen und dessen trinitarische Explikation als Proprium zu verstehen, dessen Inhalt und Qualität sich gleichwohl nicht von seiner Herkunft abtrennen lässt. Vor dem Hintergrund dieses Anspruches werden solche Denkformen kritisiert, die sich auf Negativaussagen beschränken (der ungekündigte Bund Gottes mit Israel) oder aber auf inhaltlich unbestimmte Toleranz abstellen (das Modell der beiden Wege). Durchweg spürbar ist das Bestreben nach einer präzisen Bestimmung christlicher Identität, die das Verhältnis zu Israel in einer für die Kirche konstitutiven Weise zur Darstellung bringt.

Die Studie versteht sich nicht als Ergebnis speziell des interreligösen Gesprächs zwischen Juden- und Christentum; gleichwohl sind in den Leitlinien des Lehrgesprächs die "besonderen Herausforderungen des christlich-jüdischen Dialogs" als Selbstverpflichtung programmatisch festgelegt (13). Die Frage ist dann allerdings, wie weit der zwischen den Leuenberger Kirchen erzielte Konsens auch aus jüdischer Sicht als Vertrauen erweckendes Gesprächsangebot tragen wird. Hierzu ist kritisch zu notieren, dass die Figur der Vertiefung, Erneuerung und Erweiterung des Alten Bundes durch den Neuen Bund zwar geeignet ist, polemische oder gar diskriminierende Suggestionen zu unterbinden; jedoch bleibt es in diesem Rahmen immer noch bei der Unterstellung eines Defizits: die unausgesprochene Kehrseite der Rede von der Steigerungsfähigkeit und -würdigkeit des Alten Bundes ist eben die seiner Steigerungsbedürftigkeit. Es ist die Erfüllungsperspektive des Neuen Bundes, an die der Alte zu seiner Entfaltung gebunden wird. Als darüber hinausgehende Frage bleibt dann allerdings, welchen positiven Wert die Kirche in der selbständigen Existenz Israels als erwähltes Volk Gottes erkennen kann. Das wird deutlich z. B. an der wichtigen Unterscheidung zwischen dem Alten Testament als Heilige Schrift und als Kanon. Die Studie stellt treffend fest, dass das Alte Testament zwar Heilige Schrift zweier Religionen ist, dies aber nicht bedeutet, dass deswegen auch der jüdische Kanon in den christlichen eingeht: "Vielmehr haben wir es mit zwei unterschiedlichen Kanons zweier unterschiedlicher Gemeinschaften zu tun. Obwohl in beiden Kanons teilweise dieselben Texte enthalten sind, stehen sie in jeweils unterschiedlichen Lektüre- und Auslegungszusammenhängen" (55).

Daraus ergibt sich als hermeneutische Anfrage, die beide Religionen prinzipiell in gleicher Weise betrifft, welche Selbsterkenntnis sie daraus gewinnen, dass die eigenen heiligen Texte neben der eigenen jeweils noch eine andere kanonische Tradition hervorgebracht und mit großer geschichtlicher Beständigkeit ausgestattet haben. Und weiter: Könnte solche Erkenntnis Grund zu vorbehaltloser Freude und Dankbarkeit der Kirche für die Treue Gottes zu Israel geben, gerade wenn dies im Bewusstsein geschieht, dass das Christusereignis für die fortdauernde Geschichte Gottes mit Israel keine konstitutive Rolle spielt? Wenngleich die Leuenberger Studie diesbezüglich keine ausgearbeitete Position anbietet, spricht es für ihre theologische Sensibilität, dass sie dieses Thema zumindest als weiter zu bearbeitendes Problem erachtet: "Wir fragen: Was bedeutete es, dass Gott sich sowohl dem Volk Israel als auch der Kirche zuwendet?" (61). Die hierzu am weitesten gehende Aussage formuliert als Einsicht des christlichen Gottesverständnisses, "daß auch das außerhalb der Christusoffenbarung in Israel lebendige Verständnis des Schöpfers, seiner Gnade und Wahrheit, ihn selbst zum Gegenstand hat" (60). Insofern gibt die Studie als Aufgabe an die Theologie wie auch an die kirchliche Praxis weiter, wie vom Glauben an das "letztgültige Offenbarungshandeln" (50) Gottes in Christus her das Wahrheitszeugnis Israels um seiner selbst willen zur Sprache kommen kann.