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Ausgabe:

Dezember/2002

Spalte:

1316 f

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Raunio, Anti

Titel/Untertitel:

Summe des christlichen Lebens. Die "Goldene Regel" als Gesetz in der Theologie Martin Luthers von 1510- 1527.

Verlag:

Mainz: von Zabern 2001. X, 399 S. gr.8 = Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, 160. Lw. ¬ 45,00. ISBN 3-8053-1655-0.

Rezensent:

Volker Leppin

Die Dissertation von Anti Raunio bildet einen weiteren Mosaikstein in dem finnischen Projekt einer durchgängigen Luther-Revision, das Tuomo Mannermaa angestoßen hat. Hauptanliegen der von ihm inspirierten Forschergruppe ist es, in Ausein- andersetzung mit der insbesondere von Ebeling und Joest vertretenen relationalen Deutung des Lutherschen Personbegriffs stärker effektive Aspekte in der Anthropologie und Rechtfertigungslehre Luthers zur Geltung zu bringen. Die einzelnen Werke der Mannermaa-Schule greifen dabei mit beachtlicher Geschlossenheit ineinander - erweisen sich freilich zugleich als resistent gegenüber ihren vor allem in Deutschland zahlreichen Kritikern. Gerade von einem Werk, für dessen im Vorwort erwähnte Überarbeitung seit der Annahme als Dissertation immerhin sieben Jahre verwandt worden sind, wäre statt oder doch wenigstens neben der seit Beginn des Projektes vorgetragenen Kritik an der älteren Forschung auch ein intensiveres Eingehen auf die jüngeren Kritiker der finnischen Lutherdeutung zu erwarten gewesen.

Im Rahmen des finnischen Lutherprojektes fiel R. die Aufgabe zu, die Grundlegung der Ethik anhand der Deutung der Goldenen Regel zu untersuchen. Er tut dies, nach einem kurzen Überblick über die mittelalterliche Deutung, in einem auch bei anderen Arbeiten der Mannermaa-Schule zu beobachtenden Verfahren einer gründlichen, eng am Text argumentierenden Motivforschung, deren zeitliche Eckdaten schon im Untertitel präzise benannt werden. Die Zeit von 1510-1527 teilt er in drei Blöcke ein: der frühe Luther bis zur Römerbriefvorlesung, der Luther der Römerbriefvorlesung und der Luther seit 1517. Über die darin vorausgesetzten Entwicklungsetappen des Reformators und die übergroße Bedeutung, die dabei der Römerbriefvorlesung äußerlich zugemessen wird, wäre sicher auch zu sprechen - vielleicht mehr noch darüber, dass die drei Etappen bei R. inhaltlich kaum durch markante Differenzen charakterisiert, sondern eher in einem Kontinuum zusammengedacht werden. Im vorliegenden Zusammenhang genügt es jedoch, den Ertrag von R.s Forschungen in drei systematisch orientierten Punkten zusammenzufassen:

1. Das Grundanliegen der Arbeit, die Integration der Ethik in den Ansatz der Lutherdeutung der Mannermaa-Schule, wird dadurch verfolgt, dass die Grundlage allen ethischen Handelns der Christen in einer sich in Glaube und Liebe vollziehenden Willens-unio mit Gott gesucht wird (182-184).

2. Dieses systematische Ziel wird dadurch unterstützt, dass die Goldene Regel in mehreren Aussagereihen bei Luther nicht nur formal verstanden wird, sondern material auf das Doppelgebot der Liebe verweist, und zwar tatsächlich in beiden Hinsichten: auf Gott ebenso wie auf den Menschen.

3. Da Luther die Goldene Regel aber, insbesondere durch Auslegung von Röm 2,12-15, auch in das Naturrecht einzeichnet, wird in einer von R. stark hervorgehobenen Perspektive der Anspruch des Doppelgebotes der Liebe auch für Heiden bekannt und wirksam.

Nun ist ein stärkeres Insistieren auf der effektiven, mystisch beeinflussten Dimension von Luthers Theologie und Ethik in der Tat begrüßenswert; man braucht hier ja nur auf die einschlägigen Passagen zur Ethikbegründung in der Freiheitsschrift zu verweisen. Doch ist in mehreren Zusammenhängen die Einlinigkeit, mit der R. seine Textbeobachtungen systematisiert, höchst bedauerlich, da andere Einsichten der Lutherdeutung fast ganz aus dem Blick geraten.

So wäre es zu wünschen gewesen, dass R. seine Deutungen stärker den Anfragen, die sich aus dem Totalaspekt des simul iustus et peccator ergeben, ausgesetzt hätte: Dieser Luthersche Grundgedanke wird durch den Hinweis auf die - bei Luther ja in der Tat auch zu findenden - Aussagen über einen Prozess wachsender Gerechtigkeit im Menschen, den Partialaspekt, entschärft, ja geradezu verdrängt (192-200); der bleibenden Sündhaftigkeit des ganzen Menschen, auch des gerechtfertigten, wird damit in einer für Luther schwer akzeptablen Weise ihr Gewicht genommen.

Ganz ähnlich steht es mit der Einebnung der Spannung von Gesetz und Evangelium, die bei dem Hinweis auf Stellen, an denen Luther in der Römerbriefvorlesung die traditionelle Rede vom Evangelium als dem "neuen Gesetz" aufnimmt (162), besonders signifikant ist, sich aber auch in systematischer Perspektive durchzieht: Die Tatsache, dass Christi Verhältnis zum Gesetz in R.s Luther-Deutung nicht im Horizont der Befreiung von dessen Anklage, sondern der Ermöglichung seiner Erfüllung gedacht wird, verhindert es, dass die Grundspannung von Gesetz und Evangelium wirklich eingeholt werden könnte.

Freilich wird auch der Rez., obwohl er seine Sympathie für die wohltuende Irritation der deutschen Selbstverständlichkeiten durch die finnische Lutherforschung nicht verhehlen will, wohl damit leben müssen, dass er mit solchen Einwänden nur ein weiteres Opfer der neukantianischen Perspektivenverengung der modernen deutschen Lutherforschung ist, auf deren Offenlegung durch seinen Vorläufer und Mitstreiter Risto Saarinen R. knapp verweist (2 f.), ehe er sich von weiteren detaillierten Auseinandersetzungen mit abweichenden Forschungspositionen dispensiert.