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Ausgabe:

Dezember/2002

Spalte:

1311–1313

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Ludwig, Walther [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Die Musen im Reformationszeitalter. Hrsg. im Auftrag der Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2001. 323 S. gr.8 = Schriften der Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt, 1. Kart. ¬ 45,50. ISBN 3-374-01859-9.

Rezensent:

Francisca Loetz

Die freie Entfaltung der Individualität und der Durchbruch der Laienbildung waren zwei der Ideale, die Humanisten am Herzen lagen. Der Zugang zu diesen Idealisten fällt jedoch den meisten in unserer heutigen Zeit schwer. Wegen mangelnder Griechisch- und Lateinkenntnisse ist vielen, die heute die Universität durchlaufen, der direkte Zugriff auf die "Intellektuellen" an der Wende zur Frühen Neuzeit versperrt. Hier schafft Walther Ludwig Abhilfe. Am Anfang des Sammelbandes, der die Beiträge einer Tagung der Stiftung der Wittenberger Luthergedenkstätten vereinigt, steht der Abdruck seines Abendvortrags. Der an ein breiteres Publikum gerichtete Vortrag hält, was er verspricht: to "make it as simple as possible but not simpler". In souveränen Zügen gelingt es L., in ansprechender Form die Fragestellung des Bandes zu skizzieren. Im Zentrum der Betrachtung steht die Bedeutung, die Melanchthon und sein Freundeskreis der Literatur und Dichtung zuwies. L.s Thesen sind so klar wie seine Argumentation: Für Melanchthon habe die Dichtung im Dienst der christlichen Verkündigung gestanden. Die Musen habe er als Inspiration zur Erforschung der Welt verstanden. Musenkult sei somit zum Dienst an Gott geworden. Was uns heute von Melanchthons Dichtung trenne, so L. eindrücklich, sei nicht allein die fehlende oder mangelnde Kenntnis der alten Sprachen, sondern das Verständnis von Dichtung als Offenbarung Gottes und nicht als Ausdruck einer persönlichen Lebenserfahrung.

Leistet der Herausgeber einen Beitrag zum "Durchbruch" der Laienbildung, sind die weiteren Beiträge des Bandes der freien Entfaltung der wissenschaftlichen Individualität geschuldet. Hier haben Spezialisten das Wort, die mit ihren Fragen auf das wissenschaftliche Publikum der Humanismusforscher zielen.

Matthias Asche fragt nach den Gründen der "Frequenzeinbrüche" an den deutschen Universitäten der 1520er bis 1560er Jahre und gelangt an protestantischen und katholischen Beispielen zu dem Ergebnis, dass die finanzielle und rechtliche Umstrukturierung sowie die Reorganisation der Lehrstühle für die mangelnde Attraktivität der Universitäten verantwortlich zu machen sei. Wer die Hoffnung hegt, Asche habe anhand von autobiographischen Zeugnissen die Gründe der (potentiellen) Studenten für ihre Skepsis gegenüber den Universitäten zu eruieren versucht, wird enttäuscht. Asche widmet sich Akten, die im Rahmen der Universitätsverwaltung entstanden sind, und bewegt sich auf dem Feld einer institutionengeschichtlich und geistesgeschichtlich orientierten Universitätsgeschichte.

Unter der Frage, welchen Einfluss die Reformation auf die seit dem Ausgang des 15. Jh.s in Deutschland verbreiteten humanistischen Studien ausübte, stellt Jürgen Leonhardt die ersten Ergebnisse eines größeren Marburger Projekts vor, das sich der Verbreitung antiker Texte in Europa nach 1500 widmet. Die anvisierte Gesamtstatistik der Drucke soll nicht nur die editorischen Meisterwerke erfassen, sondern auch die für den Tagesbedarf hergestellten Produkte, um die Rezeption humanistischen Gedankenguts an den deutschen Universitäten zu verfolgen. Konventionell und notwendig ist das Vorgehen, auf Grund einer quantitativen Auswertung der Drucke die universitäre Marktsituation zu verfolgen. Reizvoll ist die Betrachtung der Alltagsprodukte wie z. B. "Kolleghefte" für Studenten. Leonhardt nützt ihre textliche und typographische Gestaltung, um Rückschlüsse auf die Art und Weise, wie das humanistische Bildungsgut vermittelt werden sollte, zu schließen. Gespannt darf man auf die Auswertung der unbekannten Marginalien sein, die das bisherige Bild um die Verarbeitung des Stoffs durch die Studenten ergänzen wird. Möglicherweise könnte diese Auswertung von den Ansätzen eines Roger Chartiers und Robert Darnton, die unerwähnt bleiben, profitieren.

Neben der Universitäts- und der Druckgeschichte bildet die Kirchengeschichte einen Schwerpunkt des Sammelbands: Ute Mennecke-Haustein setzt den Bildungsentwurf Luthers anhand seiner relevanten Reden und Texte zusammen. Behutsam differenzierend und in Abgrenzung zu Melanchthon zeigt sie die Wertschätzung auf, die Luther dem artes-Studium als Schulungsweg der Vernunft neben dem durch Erfahrung gelehrten Glauben entgegenbrachte. Im positiven Sinne auffallend ist Richard Wetzels Beitrag, der nicht nur die Antwort Melanchthons auf die Bildungsfeinde analysiert, sondern auch mit essayistischen Mitteln in ein "Streitgespräch" mit Heinz Scheible über diese Frage eintritt. Das überraschende Ergebnis dieser kleinen Disputatio, die auf 49 Vorreden aus Stücken zum Briefwechsel von 1523-29 beruht, ist nicht, dass Melanchthon die humanistische Bildung verteidigt, sondern dies an bestimmten prominenten Stellen unternimmt.

Die philologischen Beiträge zeichnen sich durch ausführliche Quellenzitate samt Übersetzungen aus. Fidel Rädle ergänzt Mennecke-Hausteins Beitrag mit seiner Frage, welche Rolle Literatur und Dichtung im Bildungssystem des katholischen Humanismus gespielt haben. Paraphrasierend vollzieht er nach, wie die altgläubigen Verfechter des Humanismus ihre Kirche davon überzeugten, dass Unterweisung nicht mehr allein über die Kanzel, d. h. Doktrin, sondern auch über die Musen, d. h. Bildung, erfolgen sollte. Reinhold F. Glei verfolgt die lateinischen Dichtungen Melanchthons. Er stellt dar, dass Melanchthons Dichtung nicht einfach göttlicher Muse entsprang, sondern durch Eloquenz, stilistische Mittel, Vermittlung von Bildungsinhalten und durch moralische Erbauung auf gelehrte Weise unterhalten wollte. In einer besonders klaren Argumentation analysiert Johanna Loehr die Übersetzungsmethoden und Übersetzungstechniken Melanchthons in seiner Prosaübersetzung griechischer Dichtung hinsichtlich Semantik, Syntax, Idiomatik, Stil und Metrik. Sie weist nach, dass Melanchthon seine Übersetzungen als Sachkommentar verstand und gezielt eine sachorientierte Übersetzungsmethode wählte, die wiederum unterschiedliche Ergebnisse und Wirkungen erzielte. In eher paraphrasierender Form vollzieht Monika Rener nach, dass Melanchthon seine declamatio de capta Roma als "Manifest" konzipierte, in dem er die humanistischen antiken Bildungsgüter in Abgrenzung zur römischen Kirche und im Gegensatz zu seinen reformatorischen Freunden verteidigte. In seinem Beitrag zu den sizilischen Musen in Wittenberg zeigt Lothar Mundt auf, dass protestantische Autoren in der Zeit von 1540 bis ca. 1570 die neulateinische Bukolik für ihre konfessionspolemischen und theologischen Zielsetzungen nutzten. In ihren Eklogen ergriffen die Autoren gegen die römische Kirche für die evangelische Sache Partei und nahmen zu den innerprotestantischen Auseinandersetzungen Stellung. Gertlinde Huber widmet sich dem lateinischen Psalter des Eobanus Hessus und dessen Ideal der docta pietas. Sie rekonstruiert die Entstehungsgeschichte des Werks und dessen Bedeutung für die protestantische Diskussion über das gegenseitige Verhältnis von Frömmigkeit und Bildung. In ihrer Analyse demonstriert sie, dass Eoban nicht ein Mann der programmatischen bildungspolitischen Entwürfe war. Da aber die Texte, die er seiner Bibeldichtung zur Seite stellte, als eine Art "Gebrauchsanweisung" für die wechselseitige Ergänzung von Bildung und Frömmigkeit gelesen wurden, wirkte die lateinische Psalterübertragung als Plädoyer für die docta pietatis.

Im Zeichen der Geistes- und Kirchengeschichte stehend, die von Fragen der derzeitigen Sozial- und Kulturgeschichte unberührt ist, bietet der Band detailreiches und sorgfältig annotiertes Material - die Fußnoten erstrecken sich überwiegend über eine halbe Seite - für Spezialisten der Humanismusforschung.