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Ausgabe:

Dezember/2002

Spalte:

1298–1301

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Haldimann, Konrad

Titel/Untertitel:

Rekonstruktion und Entfaltung. Exegetische Untersuchungen zu Joh 15 und 16.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 2000. IX, 444 S. gr.8 = Beihefte zur Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft und die Kunde der älteren Kirche, 104. Geb. ¬ 128,00. ISBN 3-11-016794-8.

Rezensent:

Ruben Zimmermann

Das Thema der Untersuchung mutet anachronistisch an. In einer Zeit, in der sich auch die deutschsprachige Johannesforschung fast vollständig von literar- und redaktionskritischen Arbeitsmethoden verabschiedet hat, legt der Vf. mit seiner im Jahr 1997 von der Theologischen Fakultät der Universität Zürich (H. Weder) angenommenen Dissertation eine redaktionsgeschichtliche Arbeit zu den Abschiedsreden des JohEv vor. Der zweite Blick macht jedoch sofort deutlich, dass die methodisch wohl reflektierte Arbeit das Modell der Redaktionsgeschichte in einer Weise mit Einsichten aus der analytischen Sprachphilosophie und Rezeptionsästhetik anreichert, dass man von einer instruktiven Neuorientierung und weiterführenden Modifikation früherer redaktionskritischer Fragestellungen sprechen kann, die innovative Impulse nicht nur für die Joh-Exegese, sondern auch für die redaktionsgeschichtliche Methodik überhaupt bietet.

Die Arbeit gliedert sich in vier Teile (was durch die Unterteilung in 10 Kapitel leider etwas verdeckt ist). In zwei einleitenden Kapiteln wird ein systematisch strukturierter Forschungsüberblick zu unterschiedlichen Entstehungsmodellen der so genannten zweiten Abschiedsrede Joh 15-16 (Kap. 1: 1-42) sowie eine (bisweilen zu) allgemeine Orientierung über die gewählte sprachphilosophische Perspektive (Kap. 2: 43-93) gegeben. Die analytische Arbeit am Text beginnt mit einer Strukturanalyse der beiden zu untersuchenden Kapitel (Kap. 3: 94- 135), die dann zur Grundlage der Detailinterpretation der einzelnen Abschnitte wird, die den eigentlichen Hauptteil der Arbeit darstellt (Kap. 4-9: 136-403). Ein Schlusskapitel wertet die Ergebnisse der Exegesen in literarischer und theologischer Hinsicht aus (Kap. 10: 404-430). Stichwort- oder Bibelstellenregister sind leider nicht beigefügt.

Zunächst erläutert der Vf. die in der Forschung vertretenen unterschiedlichen Ansätze zur Redaktionskritik der joh Abschiedsreden: So wurde seit Wellhausen der Redaktor als originärer Autor vorfindlicher (Schul-)Traditionen (Schnelle) oder als deren Korrektor (Bultmann, Becker) verstanden. Andere Entwürfe gehen von einer sukzessiven Texterweiterung aus, bei der entweder der Autor selbst sein Werk revidiert (Painter, Lindars) oder aber Redaktion als mehrstufiger Erweiterungs- und Fortschreibungsprozess unterschiedlicher Autoren betrachtet wird (Brown, Dettwiler, Winter). In Anknüpfung an frühe Arbeiten von Thyen favorisiert der Vf. dann ein Modell, nach dem der Redaktor zugleich als "kongenialer neuer Autor" betrachtet wird. Der jetzt vorliegende Text ist demnach zwar das Ergebnis eines bereits vorausliegenden Tradierungsprozesses, kann aber zugleich als "neues kohärentes literarisches Gebilde" (34) betrachtet werden. In dieser Weise versucht der Vf. die Zusammengehörigkeit von diachroner und synchroner Frageperspektive herauszustellen: Er setzt dabei einerseits die Kohärenz des jetzt vorliegenden Endtextes voraus, die sich vor allem durch ein sinnvoll strukturiertes Zusammenspiel der verschiedenen Text-Bausteine erweisen lässt. Die jetzt vorliegende Gestalt des Textes ist deshalb Gegenstand der Interpretation. Dieser Endtext wird von H. aber gerade als Ergebnis eines redaktionsgeschichtlichen Wachstumsprozesses betrachtet, so dass er trotz des Verzichts auf die Rekonstruktion von vorausliegenden Textabschnitten die diachrone Frageperspektive in seinen Ansatz integriert. Entsprechend kann er sein Modell mit den Stichworten "Integration", "Linearität" und "Selbstreferenz" charakterisieren (40 f.).

Mit Hilfe des in Kap. 2 dargelegten sprachwissenschaftlichen Inventars (insbesondere der Textlinguistik, Sprechakttheorie und Rezeptionsästhetik) wird in Kap. 3 die Struktur von Joh 15 und 16 nach formal-kommunikativen, semantischen und textdynamischen Kriterien erarbeitet. Unter formal-kommunikativen Strukturmerkmalen versteht der Vf. textimmanente Hinweise zum Kommunikationsgeschehen zwischen (implizitem) Autor und (implizitem) Leser: Das sind für Joh 15 f. auf der Ebene der "direkten Erzählung" z. B. die Einleitung von Fragen (Joh 16, 17a.18a) und Aussagen (Joh 16,29a), auf der Ebene der "erzählten Reden" etwa der direkte Dialog zwischen Jesus und seinen Jüngern (Joh 16,25-33) bzw. metakommunikative Erläuterungen Jesu (Bezugnahme auf die Wirkung des Redens Jesu in Joh 16,6). Strukturhinweise durch textliche Kohärenz differenziert H. in semantische Merkmale (wie das Wortfeld menein in Joh 15,1-10) und textdynamische Merkmale, d. h. semantische und pragmatische Verknüpfungen zwischen verschiedenen Textsegmenten. Auf diesem Weg kann der Vf. die beiden Kapitel Joh 15f. in eine sechsteilige Grundstruktur gliedern (Joh 15,1-11; 15,12-17; 15,18-16,4a; 16,4b-15; 16,16-24; 16,25-33) und sie auf Grund der starken Zäsuren zu Joh 14,31 und 17,1 (111- 115) sowie innerer Zusammengehörigkeit als kohärente Einheit, eben als zweite Abschiedsrede, lesen.

Diese Hypothese muss sich nun in den Detailanalysen zu den einzelnen "Perikopen" bewähren. Dabei steht die interne Strukturanalyse der einzelnen Abschnitte wiederum im Vordergrund, die allerdings für perikopenspezifische Fragen Raum behält. So wird z. B. bezogen auf Joh 15,1-11 die Gattung der so genannten "Bildrede" in Joh 15,1-8 intensiv diskutiert, um zu dem Ergebnis zu kommen, dass für diesen Abschnitt keine Formbestimmung aus dem Bereich der bildhaften Rede (wie Gleichnis, Allegorie etc.) möglich ist, die Verse sich stattdessen "als Teil eines paränetischen Textsegments" (145) verstehen lassen, das Joh 15,1-11 umfasst. Die Metaphorik wird jedoch in ihrer semantischen und pragmatischen Dimension analysiert, wozu die zuvor gelegten sprachwissenschaftlichen Grundlagen (92 f.) fruchtbar gemacht werden: So kann in Joh 15,1 f. die Interaktion dreier Welten (reale Welt des Weinbaus, fiktionale Welt des Textes, Referenzwelt mit Gott, Jesus, Jüngern, vgl. 156 f.) wahrgenommen werden. Die reichen Detailbeobachtungen werden immer wieder rezeptionsästhetisch ausgewertet: So macht z. B. in Joh 15,5 der "Text dem Leser ein Rollenangebot, nämlich, sich selbst auf der metaphorischen Ebene situieren zu lassen und den Platz einzunehmen, der in V. 2 durch einen Platzhalter offengelassen worden ist. Der Leser wird damit in die Ebene hineingeholt, die der Text zum Anfang (V. 1 f.) bereits sorgfältig entwickelt hat" (165). Lediglich das Bemühen um die Integration diachroner Fragestellungen lässt gelegentlich die eingangs geweckten Erwartungen offen, denn weder wird die Traditionsgeschichte des Bildfelds (z. B. Israel als Weinstock, nur 155 f.), noch werden die textinternen Bezüge (z. B. zum Wein in Joh 2 oder katharismos in Joh 2,6; 3,25; 13,10 f.) detailliert untersucht. Zwar weiß der Vf. um die Rückbindung der Perikope zur Bildrede vom "guten Hirten" (Joh 10,1-18), konkret werden aber keine sprachlich-strukturellen Beziehungen benannt, und auch die Bemerkungen zu den Neuerungen der Bildwelt bleiben vage (150 f.). Gleichwohl bieten die Detailanalysen insgesamt viele exegetische Einzelbeobachtungen zur Struktur und Kohärenz des Textes und machen deutlich, dass das in Kap. 2 eingeführte sprachwissenschaftliche Instrumentarium zum vertieften Verständnis des Textes beitragen kann.

Das Schlusskapitel soll Leitlinien der literarischen und theologischen Kohärenz der zweiten Abschiedsrede zusammenfassend erweisen. Dabei wird in literarischer Hinsicht die vor allem sprachliche Rückbindung von Joh 15 f. an die erste Abschiedsrede untersucht. Die theologische Selbständigkeit der zweiten Abschiedsrede wird an den Leitmotiven "Gemeinde und Welt", "Liebe" und "Schöpfung" konkretisiert, die für den Vf. als unterschiedliche Dimensionen der Inkarnation (I-III) betrachtet werden können. Insgesamt soll dabei deutlich werden, dass "sich die zweite Abschiedsrede als eine spezifische Interpretation der Inkarnationstheologie des Werkes des Evangelisten verstehen lässt" (413). Ob dieser Nachweis jedoch möglich ist, ohne zunächst diese "Inkarnationstheologie des Evangelisten" bestimmt zu haben, bleibt dem Rez. methodisch fraglich (trotz der Bemerkungen in 413).

Der Vf. hat eine methodisch reflektierte und detailliert ausgearbeitete Untersuchung zu einem literarisch und theologisch komplexen Abschnitt der joh Abschiedsreden vorgelegt, die in mehrfacher Hinsicht mit Gewinn gelesen werden kann: So kann die Arbeit als gelungene Synthese zwischen Sprachwissenschaft und Exegese betrachtet werden, indem die sprachphilosophische Einsichten konsequent und ertragreich auf den Text appliziert werden. Durch genaue Analysen kann dabei vor allem die literarische Kohärenz und innere Struktur des Abschnitts erhellt werden. Ob damit allerdings die Grundthese bewiesen werden kann, dass in Joh 15 f. eine "selbständige zweite Abschiedsrede" vorliegt, bleibt fraglich.

Denn was der Vf. für den Redekomplex Joh 15 f. annimmt, muss doch umso mehr für die Endredaktion der Abschiedsreden sowie des gesamten Evangeliums gelten, dass nämlich das vorliegende Werk ein neues kohärentes literarisches Gebilde darstellt, dessen Vorstufen kaum rekonstruierbar sind. Die theologische und sprachliche Abgrenzung von Joh 15 f. vom JohEv als Ganzem kann deshalb nicht überzeugen. Dies gilt umso mehr, als die Beziehung von Einzelmotiven und Theologumena des Kapitels (z. B. die Sprache der Immanenz von Joh 15,1-17) zu ihrem sonstigen Vorkommen im Evangelium über die erste Abschiedsrede hinaus kaum untersucht wird.

Richtungweisend ist sicherlich das Bemühen, diachrone und synchrone Arbeitsweisen, die gerade in der Joh-Exegese vielfach unabhängig nebeneinander stehen, konstruktiv zu verbinden. Der Vf. geht nicht einfach vom Endtext aus, sondern bietet ein sprachphilosophisch abgesichertes Modell der synchronen Analyse, das diachrone Fragestellungen nicht ausschließt, sondern integrieren möchte. Die konkrete Umsetzung macht jedoch deutlich, dass hier noch weiterer Diskussionsbedarf besteht. So führen die instruktiven Detailanalysen vor Augen, dass das exegetische Herz des Vf.s doch eher bei einem synchron-sprachwissenschaftlichen Ansatz schlägt und die diachronen Rückverweise nicht in gleicher Weise den methodischen Scharfsinn und die analytische Präzision erreichen. Ferner hätten die Übergänge und Abgrenzungen des redaktionsgeschichtlichen Modells zu ähnlichen Versuchen wie dem Ansatz der relecture (J. Zumstein; A. Dettwiler) oder der réécriture (K. Scholtissek) deutlicher herausgearbeitet werden können.

Vor allem ist die Arbeit ein innovativer Versuch, den Methodenschritt der Redaktionsgeschichte modifizierend weiterzuentwickeln. Auch hier bleibt freilich offen, ob der hier vorgestellte Ansatz den historischen und theologischen Standort eines Redaktors als "kongenialer neuer Autor" (34) erhellen kann und will oder ob das Subjekt und seine konkrete Kommunikationssituation bei der Zugangsweise des Vf.s nicht - wie seinerzeit bei den frz. Strukturalisten - ganz hinter den interpretierten Text zurücktritt. Ist dann allerdings Redaktionsgeschichte noch der angemessene Begriff für die von H. vorgestellte vorrangig strukturalistisch konzipierte Auslegungsmethode? Man kann wünschen, dass die neutestamentliche Exegese hier innovative Methoden und das erprobte Erbe der Form- bzw. Redaktionskritik konstruktiv zu verknüpfen vermag. Die vorliegende Arbeit hat zumindest einen gewichtigen Anstoß in dieser Richtung gegeben.