Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Dezember/2002

Spalte:

1290–1292

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Schwiderski, Dirk

Titel/Untertitel:

Handbuch des nordwestsemitischen Briefformulars. Ein Beitrag zur Echtheitsfrage der aramäischen Briefe des Esrabuches.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 2000. XIII, 420 S. gr.8 = Beihefte zur Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft, 295. ¬ 118,00. Lw. ISBN 3-11-016851-0.

Rezensent:

Martin Rösel

In den vergangenen Jahrzehnten sind in Israel und seiner Umgebung eine ganze Reihe von inschriftlichen Zeugnissen gefunden worden. Nur wenige sind so in das allgemeine Bewusstsein der Bibelwissenschaft gekommen wie die Aschera-Texte aus Kuntillet Adjrud und Chirbet el-Qom; die meisten dieser Texte, besonders die ca. 200 erhaltenen Briefe, sind nur Spezialisten bekannt. So ist es sehr zu begrüßen, dass nun mit der anzuzeigenden Arbeit, einer von H.-P. Müller betreuten und im Jahr 2000 in Münster angenommenen Dissertation, ein Handbuch vorliegt, das den Zugang zu diesem Material erheblich erleichtert.

Der Rahmen dieser Arbeit ist sehr weit gespannt: Auf eine konzise, methodisch reflektierte Einleitung, in der "Status quaestionis und Arbeitsziel" dargestellt werden (1-12), folgt als 1. Kapitel eine Einführung in die Forschungsgeschichte, die mit "Grundstruktur der Gattung Brief" überschrieben ist (13-19). In drei großen Abschnitten werden dann in historischer Abfolge "die hebräisch-kanaanäischen Briefe der vorexilischen Zeit" (21-89); "die alt- und reichsaramäischen Briefe" (91-240) und "die hebräischen und aramäischen Briefe der hellenistisch-römischen Zeit verglichen mit griechischen Parallelen" (241-267) untersucht.

Dabei ist der Aufbau der Kapitel ähnlich: Auf eine Darstellung des Textkorpus folgen Untersuchungen der Formelemente Präskript, Briefkorpus und Briefschluss, ggf. externer Elemente und der Gesamtkomposition. Durch diese Anordnung des Materials werden die einzelnen Texte mehrfach behandelt, was den Umgang mit der Arbeit dann erschwert, wenn man Informationen zu einem konkreten Brief sucht, etwa den berühmten Briefen aus Elefantine nach Jerusalem und Samaria. Auch die Vorliebe für umfangreiche Tabellen wird nicht jeder teilen. Doch sind diese Kapitel eine Fundgrube für Informationen über Details der einzelnen Briefe bis hin zu Datierungsangaben (177). In den abschließenden Überlegungen zur Gesamtkomposition werden dagegen übergreifende Interpretationen vorgelegt, bei denen besonders die Einbeziehung der Frage nach dem Sitz im Leben überzeugt. Die Leitthese des Vf.s, dass offizielle Stellen wie Kanzleien eine "traditionsschaffende und -erhaltende Funktion" (27) hatten und damit auch auf den privaten Gebrauch einwirkten, ist sicher sinnvoll - unter dem Vorbehalt der relativ kleinen Textbasis im Vergleich zu anderen Kulturen.

Die Ergebnisse dieser Teile werden dann im 5. Kapitel "Zur Geschichte nordwestsemitischer Briefformulare" zusammengefasst (269-322). Dieser Teil kann durchaus als informative Einführung in die gesamte Thematik empfohlen werden, zumal der Blick auf benachbarte Brieftraditionen und alttestamentliche Parallelen geweitet wird. Hier wird nun die These entwickelt, dass das hebräische zunächst durch das reichsaramäische Briefformular abgelöst wurde, letzteres dann durch das griechische, dies nach dem Untergang der jeweiligen offiziellen Trägergruppen. Später sei dann infolge nationaler Selbstbesinnung ein Rückgriff auf die alten Formtraditionen geschehen; eine kontinuierliche Entwicklung über die Jahrhunderte hinweg sei auszuschließen. Das Hauptargument dieser These ist der fehlende inschriftliche Befund, was methodisch natürlich nicht ganz eindeutig ist. Doch die so skizzierte Entwicklung passt gut in das Bild des (spät-)hellenistischen Israel und ist somit immerhin plausibel.

In den letzten beiden Kapiteln wird dann das im Untertitel des Buches angesprochene Problem der Echtheitsfrage der aramäischen Briefe im Esrabuch bearbeitet, die seit E. Meyer oft als authentische Schreiben gewertet wurden. Einführend werden zunächst in Kapitel 6 knapp "Hebräische und aramäische Texte in literarischen Texten" (323-341) in den Blick genommen, wobei neben alttestamentlichen Texten wie Jer 29,1-4; Neh 6, 5f. die Briefe in Dan 3,31 ff.; 4,34 (LXX); 6,26 f., zwei aramäische Briefe in Texten aus Ägypten und aramäische Briefelemente aus Qumran (4QEnGiants; 4Q550 ar) behandelt werden. Diese Darstellung ist m. E. arg knapp geraten und wird etwa bei den Daniel-Texten nicht der schwierigen Problematik der LXX in diesem Buch gerecht. Inhaltlich läuft die Argumentation darauf hinaus, dass die Briefe nicht die authentischen Formelemente wiederspiegeln und folglich als literarische Schöpfungen einzuschätzen sind.

Dies ist auch die Hauptargumentationslinie des 7. Kapitels "die aramäischen Briefe im Buch Esra" (343-380). Hier werden die Abschnitte 4,11-16; 4,17-22; 5,7-17 und 6,6-12 auf dieselbe Weise auf ihre Formelemente hin untersucht, wie das in den Kapiteln 2-4 geschehen war. Das Ergebnis ist, dass diese Briefe nicht dem reichsaramäischen Formular entsprechen und folglich fiktiv sein müssen. Einzig für 7,12-26 kann die Echtheit nicht ausgeschlossen werden. Da es bei den fiktiven Briefen Formelemente gibt, die dem griechischen Briefformular entlehnt sein können, kommt der Vf. zu einer Datierung, die auf das 3. Jh. weist.

Bei diesen Schlussfolgerungen ergeben sich allerdings methodische Fragen, denn gerade weil die Texte ja in einem literarischen Kontext stehen, der "Sitz im Leben" also ein ganz anderer ist, kann m. E. gar nicht damit gerechnet werden, dass die üblichen Gattungselemente in reiner Form erhalten sind. Das schließt folglich die Möglichkeit nicht aus, dass es sich um überarbeitete Briefe handelt; diese Überlegung wird nicht genügend bedacht. Auch die mit großer Sicherheit vorgetragene Datierung auf das frühe 3. Jh. scheint zwar möglich, nicht aber zwingend zu sein, da es aus dem 5. und 4. Jh. kaum Vergleichsmaterial gibt.

Ausführliche Register beschließen das Buch (407-420). Die Arbeit ist sorgfältig gesetzt und vergleichsweise lesbar geschrieben, zu ihren Vorzügen gehört auch, dass Unsicherheiten bei Lesung und Interpretation der Texte deutlich markiert und nicht im Interesse der Leitthese kaschiert werden.

Bei der Fülle der angesprochenen Fragen ergeben sich im Einzelnen natürlich eine Reihe von Nach- und Anfragen. So scheint es mir angesichts der geringen Materialmenge aus vorexilischer Zeit fraglich, ob man bei diachronen Einordnungen über bloßes Vermuten hinauskommt (32). Bei der Überlegung, ob das kanaanäische Material in Untergattungen aufgegliedert werden kann, ist der Vf. deutlich vorsichtiger. Auch leuchtet die aus der Literatur übernommene These, dass es sich bei den Texten aus Kuntillet Adjrud um Schülerübungen handelt (13 u. ö.) nicht recht ein, zumal eigene Begründungen dafür fehlen. Wünschenswert wäre auch gewesen, zumindest einzelne, in der Forschung oft besprochene Briefe einmal im Zusammenhang darzustellen. Das hätte dem Anspruch an ein Handbuch gewiss entsprochen.

Diese wenigen kritischen Bemerkungen sollen jedoch den Wert der Arbeit nicht mindern. Der Forschung steht damit ein unschätzbares Hilfsmittel zur Verfügung, das hoffentlich dazu genutzt wird, künftig auch den Inhalt der Briefe stärker in der exegetischen Debatte zu berücksichtigen. Die Studie zeigt überdies deutlich, welchen Wert die formgeschichtliche Arbeitsweise noch immer hat, auch wenn sie in der gegenwärtigen Diskussion oft abgewertet wird.