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Ausgabe:

Dezember/2002

Spalte:

1287–1290

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Ruppert, Lothar

Titel/Untertitel:

Genesis. Ein kritischer und theologischer Kommentar. 2. Teilbd.: Gen 11,27-25,18.

Verlag:

Würzburg: Echter 2002. 657 S. gr.8 = Forschung zur Bibel, 98. Kart. ¬ 36,80. ISBN 3-429-02461-7.

Rezensent:

Horst Seebass

Zehn Jahre nach dem 1. Band (= Forschung zur Bibel 70, Echter 1992) legt L. Ruppert frisch emeritiert nun den 2., Abrahamstraditionen behandelnden Band zur Genesis vor. Er widmete ihn seinem akademischen Lehrer, dem soeben verstorbenen, hochangesehenen Kollegen Josef Schreiner (5 f.). Wie bei diesem Vf. zu erwarten, hat er den Untertitel überzeugend eingelöst: Das Werk ist zweifellos ein ebenso kritischer wie ein ernsthaft theologischer Kommentar und fördert so die sachlich sicher notwendige Einbindung des Fachs "Altes Testament" in den Gesamtauftrag einer akademischen Theologie. Er entspricht im Arbeitsschema weitgehend dem des (auch vom Rez. befolgten) Biblischen Kommentars "Form, Ort, Wort, Ziel" als "Form/ Ort, Auslegung, theologische Interpretation und Wirkungsgeschichte" (das Letztere ist für manche ein Desiderat des BKAT).

Der Vf. stellt eine Einführung in die verhandelte Sache sowohl des Pentateuchs als der Erzvätertraditionen (mitsamt Literaturliste) seiner Kommentierung voran (15-60.61-77). Er diskutiert den angeblichen Paradigmenwechsel in der Pentateuchforschung, den er zurückweist, weil es für ihn weiterhin Jahwist, Elohist, Jehowist (neben P die Hauptschicht), Deuteronomium plus Deuteronomismen, Priesterschrift und weitere Redaktionen gibt. Gegen Tendenzen einer reinen Synchronie verteidigt er gut begründet den auch theologisch gewinnbringenden diachronen Zugang, stellt sein überlieferungsgeschichtliches Modell vor, nun gleich für die Erzvätertraditionen insgesamt, und erörtert die historische Rückfrage zu Abraham und den Vätergestalten (bei Jakob-Israel Älteres und nicht so komplizierte Redaktions-Verhältnisse wie bei Abraham; Isaak älter als Abraham). Abschließend widmet er sieben Seiten neuesten, stark abweichenden Untersuchungen zur Erzvätergeschichte (Spätdatierungen, feministische Analysen). Den zumeist sehr ausführlichen Kommentierungen (79-642) folgt ein knapper Rück- und Ausblick (643-657).

Die Einführung vermittelt Hinweise darauf, dass der Vf. eine sehr neue, eigengeprägte diachrone Erklärung verfolgt, die sich schon im 1. Band abzeichnete. Wenn man dementsprechend das Inhaltsverzeichnis der Kommentierung durchmustert, fällt sogleich auf, dass der Vf. im Abrahamzyklus, anders als in der Urgeschichte, nur noch Fetzen von J findet (10. Jh., in 12,*1- 4a.6-8; 13,*14 f.; 15,*9.17[?]; 16,*1 f.4-8.11-13 gegen 2,4b- 3,24; 6,4- 8,22; 11,1-9) - der von vielen angezweifelte E erhält sogar etwas mehr zugewiesen (um 800, in 15,*1.3 f.; 20,*1-17; 21,*6.8-20. 22-32a.33; 22,*1-14a.19). Wie in der Urgeschichte gilt für den Vf. der Jehowist (Hiskiazeit) als der spiritus rector neben P (um 520, mit Fortschreibungen). Der Jehowist erfuhr dem Vf. zufolge allerdings weitere Fortschreibungen, von denen eine joschianische Redaktion (vor 609) die wichtigste sei. Joschianische Redaktion findet der Vf. sogar in Gen 14, das einem weitgehenden Konsens entsprechend allerdings seine Ausnahmerolle im Abrahamzyklus behält (eigene Grundschicht, komplizierte Fortschreibungen). Das Fortschreibungsmodell des Vf.s kann man vielleicht als eine Art Brückenschlag zwischen den weit auseinan- dergedrifteten Vorstellungen der Zunft zur Pentateuchentstehung auffassen, insofern als Fortschreibungen zur Zeit mit einem gewissen Recht Konjunktur haben, der Vf. aber die klassischen Hypothesen von J, E, Je, Deuteronomismen und P zur Erklärung eines Großteils des Pentateuch ja nicht aufgibt (die Verbindung der präskriptiven Hälfte des Pentateuch mit der erzählenden macht m. E. der Forschung zur Zeit noch große Mühe). Dabei wendet er sich unmissverständlich gegen weitgehende Spätdatierungen schon von E. Blum und D. Carr, mehr noch von K.Schmid (A. de Pury) u. a. Mit seinem Jehowisten (Hiskia) bewegt man sich in etwas früherer Zeit als E. Zenger mit seinem Jerusalemer Geschichtswerk (7. Jh., ohne E) und etwas später als H. Seebass mit seinem Jahwisten (Anfang 8. Jh., mit E, wenig Fortschreibung). Gegenüber dem durch G. v. Rad klassisch gewordenen, derzeit am prominentesten von W. H. Schmidt vertretenen Quellenmodell (J 10. Jh., E um 800 oder etwas später) erwächst da eine zeitliche Neuformierung, die bisher noch wenig Beachtung findet. Wieweit der Brückenschlag des Vf.s gelingt, hängt offenbar von seiner Durchführung ab (s. u.).

Die Kommentierung zu den einzelnen Perikopen hat die Größenordnung von Abhandlungen angenommen. Das ist bei den vom Vf. angestrebten kritischen und theologischen Zielen nicht verwunderlich. Trozdem erlaubt es der je erreichte Umfang nicht einmal, die Überfülle an Literatur in vollem Umfang zu berücksichtigen - bei Gen kein Wunder. Für die 9 Verse von 12,1-9 benötigt der Vf. 32 Seiten, 20 für 12,10-20, je 60 für Gen 14 und Gen 15, 36 für Gen 18, 39 für Gen 19,40 für 22, 1-19 und 39 für Gen 24. Der Umfang zu den übrigen Perikopen ist weniger auffällig.

Bleibt man zunächst bei den großen Linien, so folgt der Vf. im Wesentlichen der P-Isolierung, die, wie inzwischen üblich, von nur wenigen Fortschreibungen begleitet wird. Wie es sich ebenfalls in der neueren Auslegung durchsetzt, versteht der Vf. Gen 17, für das er einen überraschend starken Akzent auf die Landzusage in V. 8 legt, unter Einschluss des Beschneidungsgebotes als Dokument eines reinen Heilsbundes. Gegen neuere Versuche, Gen 23 P abzusprechen bzw. dort nicht den Topos "Unterpfand für späteren Landbesitz" zu finden, würdigt er das Kapitel klassisch. In 11,27-32; 22,20-24; 25,5-11 findet er dagegen neben P nicht mehr J oder Je, sondern erst die Pentateuchredaktion.

Die Berichterstattung zu den umfangreichen restlichen Materialien fällt dem Rez. nicht leicht, weil er zur Zeit erhebliche Vorbehalte gegen die vom Vf. angewandte literarkritische Methode hat. Denn der Vf. ist bekanntlich ein ausgewiesener, besonnener Literarkritiker und Exeget. Solche Vorbehalte gelten natürlich nicht anderen Meinungen des Vfs., für die man in unserer Zunft stets offen zu sein hat, sondern der Anwendung jener Methode, für die, wenn Forschung Zukunft haben soll, nach Meinung des Rez. unbedingt der Nachweis der Notwendigkeit eines Eingriffs erbracht werden sollte. Bei diesem Vf. als Gesprächspartner kann es sich für den Rez. nur um ein freundschaftliches wissenschaftliches Gespräch handeln. Zudem betreffen Vorbehalte nur Details, aber nicht die Substanz der Auslegungen zu Gen 16; 18; 19; 21,6.8-21; 22,1-19 und 24 (zu Gen 17; 23 P s. o.).

Für Gen 12 f. macht der Vf. einen radikalen Vorschlag: Neben den üblichen Zuweisungen an P weist er fast alles Je zu und pickt aus ihm einige wenige Elemente für J heraus: 12,*1.2ab.b.4b.4aa.*8a; 13,14aaa.*b.b.15a. 18aaa. Inwiefern ist es aber eine ausweisbare Methode, wenn der Vf. einzelne Wörter aus dem gegebenen Zusammenhang reißt und sie zum Teil als redaktionell, zum Teil zu Je, zum Teil zu J stellt? Beispiele: Obwohl Goj nach HALAT und Ges18 nicht "Nation" heißt, behauptet er dies S. 105, um die Notiz 12,*2a "ich will dich zu einem großen Volk machen" als spät erklären zu können (ideologisch ist zudem das Argument, Ein-großes-Volk-Werden könne nur Folge des Segens von 2b sein, nicht ihm vorausgehen: Warum sollte Gott nicht ein Volk im Ahnherrn segnen? Der Text sagt das! In 12,1 findet man eine sich steigernde Schmerzlinie für Abraham, nämlich Land - Verwandtschaft - Vaterhaus: Wieso stört "Verwandtschaft" dann vor Vaterhaus? Wieso berechtigt 12,1b "das Land, das ich dich sehen lasse" dazu, in 13,14 die Wendung "erhebe deine Augen und sieh" als sekundär zu erklären (153 f.)? Weitere Fragen ließen sich anschließen. Im Großen ist dem Rez. unverständlich, dass 12,9-13,1.3 f. zwar auch für den Vf. (wie seit Wellhausen zumeist) einen Einschub zur Bet-El-Notiz in 12,8 vor 13,(5.)6 ff. bilden, der Vf. aber trotzdem 13,*6-13 bruchlos daran anschließen lässt, nur um wenige Elemente aus 13,14 f. als angeblich J unmittelbar mit 12,*8 (das ebenfalls zerstückelt wird) verbinden zu können. Unplausibel ist dann auch, dass die Erwähnung Mamres in 13,18 Je zugewiesen wird, um das klar abgegrenzte Gen 15 mit einigen Elementen (V. 9.17) über 13,18 hinweg auf Bet-El (12,*8!) beziehen zu können.

Zu dem nach wie vor schwer erklärbaren Gen 14 scheint mir erwähnenswert, dass der Vf. eine aus V. 1-11 rekonstruierte Grundschicht mit einer Warnung Judas zur Hiskiazeit (Je) vor einem erneuten Abfall von Assur wie dem von Nordisrael und Damaskus zur Zeit Tiglat-Pilesers III./Sargons II. in Verbindung bringt, die eigentliche Erzählung aber der Josiazeit und 18-20.22b erst einem nachexilischen Ergänzer zuschreibt. Wohl noch schwerer als Gen 14 zu erklären ist Gen 15, zu dem die Forschung bisher nur sehr wenig Gemeinsames zu sagen vermochte. Wieder werden unliebsame Satzteile oder Wörter einfach als redaktionell erklärt. Beispiele: Wieso bewirkt 1b, eine Spannung im Heilsorakel, wenn es zu "Fürchte dich nicht! Ich bin dir Schild" Weitergehendes, nämlich großen Lohn hinzufügt, und zwar selbst dann, wenn man wie der Vf. 3 anschließen möchte? Wieso ist die Redeeinleitung in 4a überflüssig und V. *1 nachgebildet (Je; 245)? Warum soll ein Redaktor mit 5 eine völlig aus dem Rahmen fallende Szene (W. Zimmerli) nachgefügt haben, wenn sie nicht bereits vorgegeben war? Was berechtigt dazu, 6 mit 5 zusammen demselben Redaktor zuzuweisen, obwohl 6 schon syntaktisch eindeutig für sich steht (Je; 246)? V. 7 wird fast allgemein für außerordentlich spät angesehen. Was berechtigt den Vf. dann dazu, sich 7 unter Streichung von "aus Ur Kasdim" und "um es in Besitz zu nehmen" (gegen den Vf. keine Dublette zu Jahwes Geben!) so zurechtzulegen, bis es eine Je-Tradition sein kann (246)? Wieso erklärt der Vf. die beiden opferfähigen Vögel in 9b als funktionslos, nachdem H. Seebass, Genesis II,1,74 eine hethitische Parallele nachwies (247)? Wieso soll ein Bearbeiter 9 f. als Opfer verstanden haben, obwohl nichts im Kontext auf ein Opfer deutet (so 249 gegen 247!)? Warum hält der Vf. zu 17 an einer Selbstverfluchung Gottes fest, obwohl nicht mal für Jer 34,18 f. eine solche nachweisbar ist (253 f., s. H. Seebass a. a. O., 73)? Ist es für den Vf. als Theologen vorstellbar, dass Jahwe sich selbst eine Zerteilung in Stücke bei Nichterfüllung seines Wortes androht? Der Vf. wirft dem Rez. eine (längst veraltete) Textänderung in 8b von "dass ich es [scil. das Land] in Besitz nehme" vor (250), ändert aber selbst theoriebedingt den Wortlaut (273 u. ö.): nach welcher Logik? Der Rez. verkennt die extremen Schwierigkeiten der Auslegung von Gen 15 nicht; aber gerade dann wären sichere Kriterien der Analyse sehr nötig, die man nachdrücklich vermisst.

Zu Gen 16, das theologisch eine schöne Würdigung erfährt, erlaube ich mir zwei Detailfragen: 1. Warum folgt der Vf. zu Beer Lachaj Roi einer Volksetymologie von J.-G. Heintz, ThWAT 1, 502, nur um 14 von 13 trennen zu können (324), obwohl weder HALAT noch Ges18 Lachaj Roi für übersetzbar halten und der Vf. wegen jener Etymologie 14 als angeblich sekundäre Interpretation von 13 (mit neuer Textänderung) erklären will? 2. Warum behauptet der Vf. 302, dass 25,1 ff. Hag(a)riter als Ismaeliten darstellten, obwohl Gen 25 nicht von Hagritern weiß und deren Identität mit Ismaeliten eine unbewiesene Theorie ist? - Zu Gen 19 darf man fragen, ob der Vf. nicht nur theoriebedingt V. 27 f. als effektvollen Schluss der Einheit 1-28(.29) ablehnt, da 30-38 auch dann, wenn man in 30 wie der Vf. "von Zoar" als redaktionell ansieht, nicht glatt an 23-28 anschließen, sondern etwas Eigenes markieren.

Während der Rez. zu Gen 20; 22,1-19.20-24; 25,1-11 neben Vorbehalten zu einigen Details anderer Meinung (auch weiterhin) ist, freut er sich an der weitgehenden Übereinstimmung zu 21,1-21. 22-34. Das lässt eine kleine Summe ziehen. Dem Vf. zufolge wird also die älteste Abraham-Tradition nur in den wenigen Notizen aus 12,1-3.6-8; 13,*14.15a; (15, *9.17?) sowie aus 16,1-13 J fassbar, die Abraham als Kleinviehnomaden vorstaatlich fest mit dem späteren Nordreichsheiligtum von Bet-El verbinden und seine Nachfahren in ein Gegenüber zu den Ismaeliten des tieferen Negeb setzen. Der Abraham-Lot-Zyklus sei erst Je in der judä-ischen Hiskiazeit zu verdanken (auch der Grundbestand von Gen 24). Die E-Überlieferung, die für den Vf. im Grundbestand von 21,2-21 gegenüber Gen 16 J Eigenständigkeit zeigt, habe 20,1-17; 21,*22-34 aus der Isaaktradition von Gen 26 übernommen und bringe mit 15,3.4 (mit P. Weimar!); 22, *1-14.19 ganz Eigenes ein. Das theologisch-religionsgeschichtliche Schwergewicht, das der heutige Abraham-Zyklus in der Erzväter- tradition darstellt, sei vor allem auf den Jehowisten und, von ihm in Gen 17 abhängig, auf P zurückzuführen. Dies will der Vf. später in einem oder zwei weiteren Bänden an der Jakob-Israel- und an der Israel-Josef-Tradition näher ausführen.

Insgesamt darf man sagen, dass der Vf. zweifellos einen großen Kommentar vorgelegt und auch klar im gegenwärtigen Chaos unserer Wissenschaft Stellung bezogen hat. Wie alle Kommentare so kann man auch diesen nicht unkritisch lesen. Gern aber möchte man würdigen, dass der Vf. zu den jeweiligen Perikopen durchweg sehr Lesenswertes zur theologischen Interpretation aufbereitet hat. Bei mancher Übereinstimmung in den Grundsätzen der Pentateucherzählungsanalyse und zu vielen Details der Auslegung des Abrahamzyklus hat der Rez. dem Freund seine Sorge zum methodischen Vorgehen nicht verhehlen können, so wenig es seine Sache ist, gut begründete Meinungen in solche Sorgen einzubeziehen. Denn ohne gut begründete Meinungen gäbe es keine zukunftsweisende Diskussion.

Nur am Rande sei erwähnt, dass die Drucklegung des großen Werkes beim Korrekturlesen nicht gut davon gekommen ist. Viele Fehler sind nicht sinnentstellend. Aber es gibt leider auch reichlich sinnentstellende. Die Liste solcher Fehler würde unangemessen lang, weswegen ich hier auf sie verzichte.