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Ausgabe:

November/2002

Spalte:

1223–1225

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Rhonheimer, Martin

Titel/Untertitel:

Die Perspektive der Moral. Philosophische Grundlagen der Tugendethik.

Verlag:

Berlin: Akademie Verlag 2001. 398 S. gr.8. Geb. ¬ 34,80. ISBN 3-05-003629-X.

Rezensent:

Wolfgang Erich Müller

Die Bedeutung der klassischen, sich an Aristoteles und Thomas von Aquin orientierenden Tugendlehre für das heutige Gespräch der Ethik herauszuarbeiten, ist das Ziel des hier vorzustellenden Werkes von Rhonheimer, der Ethik und politische Philosophie an der Pontificia Università della Santa Croce in Rom lehrt. Sein Buch ist in fünf Kapitel gegliedert. Kap. 1 handelt sachliche und methodische Klärungen ab. Kap. 2 legt die ethische Grundfrage als Frage nach dem Glück und dem Gelingen in ihrer aristotelischen und thomanischen Version dar. Kap. 3 stellt die handlungtheoretischen Grundlagen einer rationalen Tugendethik heraus; Kap. 4. erschließt den Begriff der sittlichen Tugend, während Kap. 5 normativen Fragen nachgeht. Der Epilog deutet das Verhältnis von philosophischer und theologischer Ethik an. Philosophische Ethik sagt, gleichsam torsohaft, dass das menschliche Glücksverlangen den Menschen über seine naturgegebenen Möglichkeiten hinaustreibt, denn je vollkommener das Glück ist, desto dünner ist es gesät. Hier tritt die christliche Perspektive hinzu, nämlich dass "Scheitern zu Sieg" und Leiden zur "Quelle von Sinn und Freude" (365) wird. Jetzt hängt das Glück nicht mehr vom eigenen Tun ab, sondern ist dem Wirken Gottes überlassen, womit für R. die christliche Ethik die unfertig bleibende philosophische übersteigt.

R. bietet keinen Überblick über verschiedene Ansätze oder Problemfelder, keine Geschichte der Ethik, sondern eine systematische Entwicklung der Tugendethik. Es geht nicht um ein Zurück zu Aristoteles oder Thomas, sondern um eine Vergegenwärtigung dieses Typus klassischer Ethik, den R. "auf fundamentalethischer Ebene neuzeitlichen Ansätzen in entscheidender Hinsicht überlegen" (12) beurteilt. Es geht also um den Wahrheitsgehalt der klassischen Tradition einer aristotelischen Ethik, die auf das gegenwärtige Reflexionsniveau gehoben werden soll.

Die von R. vertretene Perspektive der Moral - gegen Kant, den Utilitarismus und die Diskursethik gerichtet - versucht das Problem von Einzelnem und Allgemeinem so anzugehen, dass die Moral grundsätzlich im Dienst des eigenen Interesses am Guten steht. Sofern ein Handelnder auf Kohärenz bedacht ist, kann er nicht nur für sich ein Gutes anerkennen, sondern muss es auch für die Anderen. Damit inkludiert das Eigeninteresse das Wohl des Anderen als Interesse am wahrhaft Guten. Eigeninteresse und Moral sind damit verschränkt. Sittliche Forderungen sind allerdings nicht universal gestellt, sondern partikular, d. h. situationsgebunden und Gegenstand der handlungsleitenden Klugheit. So geht es R. um die Wahrheit der Subjektivität der handelnden Person. Wenn die Ethik dagegen nur "nach den bloß prozeduralen Bedingungen legitimer Begründung moralischer Normen" (17) fragt, blendet sie die Wahrheit als Thema aus, wie dies für nachmetaphysische Auffassungen typisch ist. Hier wird Wahrheit durch Geltung oder Richtigkeit ersetzt, während ein neoaristotelischer Ansatz die praktische Vernunft an Traditionen und Kommunitäten zurückbindet.

Entgegen einer modernen Ethik, die die Moral dort beginnen lässt, wo das eigene Interesse durch die Interessen Anderer eingeschränkt wird, fragt diese Tugendethik eudaimonistisch nach dem Guten für das Handeln, das auch für die Anderen das Gute ist. - Dagegen klammert der Utilitarismus vom intersubjektiven Standpunkt den handelnden Menschen zu Gunsten der Handlungsoptimierung aus. Die Diskursethik als Theorie über die Geltung von sittlichen Normen sieht R. als intersubjektive politische Ethik. Sie verfehlt "das handelnde Subjekt in seinem ursprünglichen Streben nach dem Guten und seinem Interesse an der Richtigkeit dieses Strebens und der entsprechenden Wahrheit seines konkreten Tuns" (20). Es geht hier nicht um substantielle Auffassungen über das Gute, sondern im Sinne Rawls' um einen übergreifenden Konsens. Eine Ethik aber, so die Kritik R.s, die nur auf intersubjektive Verständigung ausgerichtet ist, verständigt sich nicht über substantielle Rationalitätskriterien. Da das Moralische nicht unbedingt das konsensuell Erhobene ist, sondern gegebenenfalls auch dem Konsens widersprechen muss, bleibt die Reflexion des Guten aus. Diese Perspektive der Moral will R. hervorheben.

Aber auch gegen die moderne Tugendethik, wie sie von G. E. M. Anscombe oder A. MacIntyre vertreten worden ist, richtet sich R. Sie betont zwar nicht die Richtigkeit des Handelns, wohl aber die richtige Verfasstheit des Subjekts, die zu moralisch wertvollen Handlungen führt. D. h., sie räumt der sittlichen Tugend eine primäre Rolle ein, aus der sich dann die Richtigkeit der Handlung ableitet.

Demgegenüber vertritt eine klassische Tugendethik im Sinn R.s die Tugend als eine auf rationalen Prinzipien gegründete affektive Verfasstheit des Subjekts. Durch die Prinzipien wird das Tunsollen im Einzelfall erkennbar, "weil sittliche Tugend die Affektivität vernunftsgemäß disponiert" (24) und damit ein vernünftiges partikulares Handeln ermöglicht. Damit erfasst der Tugendbegriff nicht trivial die Disposition, das Richtige zu tun, sondern die Möglichkeit, auf Grund der affektiven Verfasstheit das Richtige zu tun. Diese Tugendethik steht nicht konträr zur Vernunft, da der Tugendhafte immer vernünftig urteilt. Doch ist er durch seine affektiv geleitete Erkenntnis eher in der Lage, auf konkrete Situationen einzugehen, das erkannte Gute zu realisieren und Motivation mit Handlungsgründen zur Übereinstimmung zu bringen. Tugendethik fragt also nach den Bedingungen, damit ein Mensch das Gute vernünftigerweise erstrebt. So geht es um die Rehabilitierung der moralischen Kompetenz des Handlungssubjektes. Die ethischen Geltungsansprüche werden nicht im Medium der Intersubjektivität einsichtig gemacht, sondern ihr Gegebensein als Ermöglichung zu humaner Existenz vorausgesetzt, da sie formal bei allen Menschen gleich sind. Damit ist die Tugendethik keine Expertenmoral, sondern reproduziert die Vernunft der vorfindlichen Personen, die ihr Leben gut zu führen beabsichtigen.

Die klassische Tugendethik sieht also den Zweck der Tugend nicht darin, den Menschen zu einem tugendhaften Subjekt mit guter Motivation zu machen, sondern zu einem Subjekt, das richtig handelt. Ein tugendhafter (d. h. guter, gerechter, tapferer oder maßvoller) Mensch zu sein, besteht darin, ein Mensch zu sein, der diese Tugenden liebt und tut. Ein gerechter Mensch wird man - pointiert ausgedrückt - nicht durch eine gerechte Handlung, sondern durch das Wählen und Tun gerechter Handlungen. Eine klassische Tugendethik kommt also ohne eine hierarchische Ableitung des Tugendhaften aus, da dieses das Richtige ist, das beispielsweise auf den Erfordernissen der Gerechtigkeit beruht. Sie bleibt zugleich deutlich eine Ethik des Individuellen - und hier beginnt die notwendige Auseinandersetzung mit den Erfordernissen der Sozialethik, zu der dieses Buch herausfordert.