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Ausgabe:

November/2002

Spalte:

1221–1223

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Lienkamp, Andreas

Titel/Untertitel:

Theodor Steinbüchels Sozialismusrezeption. Eine christlich-sozialethische Relecture.

Verlag:

Paderborn: Schöningh, 2000. XV, 803 S. gr.8. Geb. ¬ 104,20. ISBN 3-506-75185-9.

Rezensent:

Friedrich Wilhelm Graf

Die Geschichte der modenen römisch-katholischen Soziallehre und die Institutionalisierung einer eigenen Disziplin Sozialethik sind kaum erforscht. So betritt Andreas Lienkamp mit seiner materialreichen Studie zum religiös-sozialistischen Sozialethiker Theodor Steinbüchel ein Forschungsfeld, das kaum erschlossen ist. Der Münsteraner Theologe will mit seiner Dissertation einen "Beitrag [...] zur historischen Selbstvergewisserung der immer noch jungen theologischen Disziplin christlicher Sozialethik" leisten (2). Es geht ihm um "eine disziplin- historische Untersuchung in systematischer Absicht" (2). Diese Formulierung spiegelt die entscheidende Schwäche der allzu breit geratenen Untersuchung: Sie changiert zwischen historischer Darstellung und gut gemeinten "systematischen" Aktualisierungsbemühungen.

Mit souveräner Ignoranz nimmt der Autor wichtige neuere Studien zur Wissenschaftsgeschichte der deutschsprachigen römisch-katholischen Theologie des frühen 20. Jh.s nicht zur Kenntnis. Auch von den kulturwissenschaftlichen Debatten über intellectual history, neue Ideengeschichte, kulturalistische Wende oder Diskursanalyse hat er nichts lernen wollen. So kann er nur konventionellen Positivismus und subjektive (religions-)politische Werturteile bieten und meint, dass die Soziallehre "der Kirche" der "wirklichen Annahme der sozialistischen Herausforderung" bislang ausgewichen sei. L. will primär nicht Wissenschaftsgeschichte schreiben, sondern "der Kirche" zu einer antikapitalistisch "befreienden Ethik" verhelfen. Der heroisierend verklärte Steinbüchel wird nicht nur zu einem Wegbereiter des Zweiten Vatikanums, dem mythischen Zieldatum vieler neuerer katholischer Arbeiten zur deutschsprachigen römisch-katholischen Universitätstheologie des frühen 20. Jh.s, sondern auch zum "Vorläufer der Befreiungstheologie und -ethik" stilisiert (655).

L. schildert Steinbüchel zunächst als einen "unbekannten Bekannten", der in den Geschichten des sozialen und politischen Katholizismus nur am Rande als Moraltheologe, nicht jedoch als Sozialethiker wahrgenommen worden sei. Steinbüchel hatte um einer realitätsnahen theologischen Ethik willen auch einige Semester Wirtschaftswissenschaften studiert. Programmatisch gebrauchte er den Begriff "christliche Gesellschaftslehre", um gegenläufig zur disziplinären Verselbständigung der Sozialethik gegenüber der Moraltheologie die innere Einheit theologischer Ethik zu betonen. Im Mai 1919 reichte er bei der Bonner Fakultät eine Dissertation "Der Sozialismus als sittliche Idee. Mit besonderer Berücksichtigung seiner Beziehungen zur christlichen Ethik" ein. Zwei Jahre später habilitierte er sich in Bonn mit der Studie "Die Wirtschaft in ihrem Verhältnis zum sittlichen Werte. Ein Beitrag zur ethischen Werttheorie vom Standpunkt christlicher Ethik". Orientierung am Aquinaten verband sich mit einer intensiven Marx-Lektüre. Seine Fundamentalkritik liberaler "Autonomie des Individuums" erarbeitete sich Steinbüchel durch eine dichte Kant-Lektüre. In genau gearbeiteten, häufig redundanten biographischen Passagen, die von allzu langen, wenig originellen Beschreibungen möglicher ideengeschichtlicher Kontexte von Steinbüchels Sozialismusrezeption (107-392) überdeckt zu werden drohen, geht L. den "Etappen der Steinbüchelschen Sozialismusrezeption" nach. Zurecht weist er auf die konfessionsübergreifenden diskursiven Netzwerke hin, in die Steinbüchel vor allem in seiner Frankfurter und Gießener Zeit ab 1924 eingebunden war. Er pflegte damals intensiv Kontakte zu Ernst Michel, Paul Tillich, Eugen Rosenstock-Huessy und Martin Buber. Auch gehörte er zu den linkskatholischen Zirkeln um die "Rhein-Mainische Volkszeitung", deren 1933 nach Frankreich emigrierender Re-dakteur Werner Thormann Steinbüchels Positionen publizistisch verstärkte. Von 1926 bis 1935 lehrte Steinbüchel als Philosoph in Gießen, bevor er 1935 einen Ruf als Moraltheologe nach München annahm; 1941 bis zum plötzlichen, durch die Folgen eines Unfalls bedingten Tod im Februar 1949 war er Ordinarius in Tübingen.

L.s Arbeit überzeugt durch den Reichtum der dargebotenen Materialien. Auf der Grundlage einer präzisen Primärbibliographie wird ausführlich über das uvre Steinbüchels informiert. Auch verzeichnet L. mit großer Genauigkeit die Bestände des Nachlasses und bietet in einem Anhang bislang unveröffentlichte Quellen, erstens die Habilationsakte und zweitens Briefe an Wilhelm Hohoff, Walter Dirks und Ernst Michel. Eine Liste der Lehrveranstaltungen und der von Steinbüchel betreuten Dissertationen lässt erkennen, dass der religiös-sozialistische Ethiker junge linkskatholische Intellektuelle faszinierte; zu seinen Schülern gehörten neben anderen Walter Dirks, der eine Dissertation über Lukacs "Geschichte und Klassenbewusstsein" abbrach, Marcel Reding, Alfons Auer und Bernhard Häring.

Thomas Ruster hatte in "Die verlorene Nützlichkeit der Religion. Katholizismus und Moderne in der Weimarer Republik" 1994 tiefe kognitive Dissonanzen zwischen römisch-katholischer Universitätstheologie und spezifisch modernen, autonomiezentrierten Denkformen betont. L. will nun zeigen, dass dieses Deutungsmuster vom konstitutiven katholischen Antimodernismus Steinbüchels Ethik nicht gerecht wird. Zwar habe Steinbüchel in überkommenen katholischen Semantiken die Dialektik der Aufklärung hervorgehoben. Aber er habe sich gleichzeitig neuzeitliche Leitwerte zu eigen gemacht. Diese These steht in Spannung zu den dichten Beschreibungen von Steinbüchels materialer Ethik. Gewiss, der religiöse Sozialismus war in seiner Kritik am liberalen Individualismus, der Polemik ge-gen die Bourgeoisie und dem moralischen Antikapitalismus eine spezifisch moderne Position. Aber die "vom Gedanken des Reiches Gottes getragene christliche Sozialethik" - dies die zentrale Formel von Steinbüchels Ethik - blieb in ihrer individualismuskritischen Gemeinschaftsorientierung stark geprägt von neoromantisch-ständischen Korporationsmustern, denen ein entschiedener Antipluralismus entsprach. Steinbüchels Verhältnis zur parlamentarischen Demokratie von Weimar blieb durch hohe Ambivalenzen geprägt. Die unter dem Einfluss Michels erfolgende Betonung der "Autonomie der Welt" und das Bemühen, den "Freimut der Person" zu fördern, können nicht darüber hinwegtäuschen, dass Steinbüchel über den Gestus der pathetischen Versöhnung von Christentum und Sozialismus nicht hinausgelangte. Auch für L. blieb Steinbüchel "in manchem dem Personalismus und Solidarismus katholischer Sozialphilosophie verhaftet": "Seine philosophisch- und theologisch-ethischen Überlegungen hat er nur sporadisch auf konkrete Subjekte, Institutionen und ökonomische Rahmenvorstellungen hin übersetzt. Zu einer eigentlichen Strukturen- oder Institutionenethik ist er nicht wirklich vorgedrungen ..." (662). So tragen Steinbüchels Synthesen von Christentum und Sozialismus nichts dazu bei, die ethische Dauerreflexion funktional differenzierter, komplexer Gesellschaften zu befördern. L. will seinem Helden eine Aktualität anschminken, die nur grotesk wirkt. Steinbüchel ist eine Gestalt aus der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts, geprägt vom Glauben, über "die Kirche" und den politischen Katholizismus eine pluralistische Gesellschaft noch einmal mit einem einheitlichen Ethos durchdringen zu können. Was sollte daran aktuell sein? L. hat faszinierende Materialien zu einer Geschichte der deutschsprachigen katholischen Sozialethik des frühen 20. Jh.s erschlossen. Aber für eine realistische Sozialethik in den Zeiten des globalen Kapitalismus trägt die wissenschaftshistorische Erinnerung nur die Einsicht aus, dass die religiösen Sozialismen des frühen 20. Jh.s nur noch regressiv wirkende Sozialutopien aus einer fernen, untergegangenen Welt sind.