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Ausgabe:

November/2002

Spalte:

1220 f

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Kramer, Rolf

Titel/Untertitel:

Phänomen Zeit. Versuch einer wissenschaftlichen und ethischen Bilanz.

Verlag:

Berlin: Duncker & Humblot 2000. 132 S. gr.8 = Erfahrung und Denken, 84. Kart. ¬ 40,00. ISBN 3-428-10189-1.

Rezensent:

Christofer Frey

Solange der Artikel "Zeit" im Historischen Wörterbuch der Philosophie noch aussteht, können Leser in der von Rolf Kramer vorgelegten Studie eine Fülle von Material zum Thema der Zeit finden, das allerdings mehr aus der geisteswissenschaftlichen Tradition stammt und zum Teil in historischer Folge angelegt ist (z. B. 26 ff.).

Im Vorspann seiner über weite Strecken referierenden Studie befasst sich der Vf. mit der Zeit in Lebensverhältnissen (Gebetszeiten, Zeit der Kaufleute usw.) (21 ff.). Danach bestimmt er den Zeitbegriff im Blick auf die Folge von Jetztzeitpunkten, im Blick auf den Fluss der Zeit und die Auslegung der Modi der Zeit (vgl. 19 ff.). Viele Probleme, wie sie beispielsweise die analytische Philosophie aufwirft (vgl.: P. Bieri: Zeit und Zeiterfahrung, Frankfurt a. M. 1972) und die britische Tradition (vgl. die Nichtrealität der Zeit nach McTaggart, u. a. in The Unreality of time in: Mind 17, 1908, 457-47) kennt, finden keine Berücksichtigung. Ebenso entfällt die Aufgliederung in eine transzendentale Ebene (Konstitutionsprobleme der Zeit, Integration der Modi der Zeit usw.) und eine Ebene der empirischen oder lebensweltlichen Wahrnehmung, die mehr die Folgen der von Menschen eingeteilten Zeit betrifft.

Die geistesgeschichtliche Bindung des kleinen Werks zeigt sich an einem langen Referat, das von Aristoteles ausgeht, das Alte und das Neue Testament berücksichtigt und zu Augustin kommt (28 ff.), um dann mit einem Sprung in die moderne Theologie zu wechseln (40 ff.). An einer Stelle zeigt sich, wer K.s Lehrer war: Der Ansatz einer Theologie der Zeit bei Barth erfährt durch Heinrich Vogels Äußerungen Kritik (51). An dieses größerenteils historische Referat schließen sich Bemerkungen zum Verhältnis der Philosophie zum naturwissenschaftlichen Zeitbegriff an, wobei der Umgang mit Qualifikationen wie "subjektiv" und "objektiv" noch einmal zu kontrollieren wäre (von Weizsäcker: Die Wahrscheinlichkeiten der modernen Physik seien nicht subjektiv - 73; Einstein: Die Zeit sei nicht objektiv - 19).

Zu spät und nach Vorstellung eines beinahe erdrückenden historischen Materials erreicht der Ethiker seine eigene Fragestellung, den sozialen bzw. soziologisch wahrgenommenen Zeitbegriff (75 ff.). Er wird zunächst nur auf die Ökonomie bezogen (80 ff.), darunter selbstverständlich auf Franklins Diktum, dass Zeit Geld sei (80). Prägnanter als der große Samuelson weiß der Vf., was "Zins" bedeutet (vgl. 81).

Dass die Zukunft auf die Gegenwart herabdiskontiert werde, spielt wohl eine größere Rolle, als der Vf. sie einschätzt (82) (vgl. D. Birnbacher: Verantwortung für zukünftige Generationen, Stuttgart 1988, 241 ff.). Die soziale Zeit wird nun ganz auf die ökonomische Zeit hin bestimmt (80 ff.). Allerdings gäbe es hier weitere wichtige Arbeiten zur sozialen Zeit, die möglicherweise den Aufriss des gesamten Buches verändert hätten, z. B. Georges Gurvitch: La vocation actuelle de la sociologie, Bd. 2, Paris 1963, 325 ff. Solche typischen sozialen Zeiterfahrungen aufzuschlüsseln, könnte eine große Hilfe nicht nur im Blick auf das Thema der Arbeit, sondern auf das nun anschließende Thema der Freizeit sein (100 ff.).

Ein Rückblick versucht, Zeit und Ewigkeit in Beziehung miteinander zu setzen (110 ff.). Die Reflexion schränkt die vorausgehenden Bemerkungen auf ein lebensweltliches Zeitverständnis ein, ohne sich des transzendentalen zu vergewissern. Das wird an der Konfrontation von Zeit und Ewigkeitsbegriff klar, wobei der Letztere kaum hinreichend bestimmt wird.

Am Ende bleibt die Frage, wer oder was die Integrität und Einheit der erfahrenen Zeit in ihrem Zerfließen und Auseinandergehen garantiere, welche Rolle die Religion dabei spiele und ob der Glaube sich in dieser Hinsicht noch einmal von der Religion unterscheiden sollte. Bei all dem interessanten Material, das der Vf. präsentiert, wird die leitende Fragestellung häufig nicht genügend deutlich.