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Ausgabe:

November/2002

Spalte:

1211–1213

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Slenczka, Reinhard

Titel/Untertitel:

Neues und Altes. Ausgewählte Aufsätze, Vorträge und Gutachten. Hrsg. von A. I. Herzog.

Verlag:

I: Aufsätze zu dogmatischen Themen. 419 S. Geb. ¬ 35,30. ISBN 3-7726-0207-X. II: Vorträge für Pfarrer und Gemeinden. 342 S. Geb. ¬ 25,10. ISBN 3-7726-0208-8. III: Dogmatische Gutachten und aktuelle Stellungnahmen. 287 S. Geb. ¬ 19, 90. ISBN 3-7726-0209-6. Neuendettelsau: Freimund 2000. Gesamtpr. ¬ 71,10. ISBN ges. 3-7726-0212-6.

Rezensent:

Christian Bendrath

Dass verstreut erschienene sowie unveröffentlichte Aufsätze und Vorträge eines Professors für Systematische Theologie mit fortschreitendem Dienstalter oder nach seiner Emeritierung noch einmal in Sammelbänden herausgegeben werden, um auch diese Seite seines dogmatischen wie ethischen Forschens und Lehrens interessierten Lesern gebündelt zugänglich zu machen, ist nicht ungewöhnlich. Seltener dagegen ist, wenn noch zu Lebzeiten des großen Theologen diese Neuherausgabe seiner Aufsätze und Vorträge nicht von ihm selbst, sondern von einem ihm kirchenpolitisch nahestehenden Pfarrer im Hausverlag der "Gesellschaft für Innere und Äußere Mission im Sinne der lutherischen Kirche" besorgt wird. Das primär kirchenpolitische Auswahlkriterium wird vom Herausgeber Herzog klar benannt: Die drei Bände sollen einer Stärkung der konservativen, an Schrift und Bekenntnis sich orientierenden Pfarrer, Mitarbeiter und Kirchenmitglieder dienen, was im dritten Band mit den "dogmatischen Gutachten und aktuellen Stellungnahmen" Slenczkas zu umstrittenen Themen der kirchlichen Lebensordnung dann besonders deutlich wird. Hier werden Schrift und Bekenntnis als einzig zulässige Kriterien christlicher Lehre im Gegensatz zu synodalen Mehrheitsentscheidungen angemahnt, um über die DKP-Mitgliedschaft evangelischer Pfarrer, die Frauenordination, den Schwangerschaftsabbruch, Homosexualität, die leibhaftige Auferstehung Jesu Christi, die Realpräsenz von Fleisch und Blut des Christus praesens im Altarsakrament sowie über das Kruzifixurteil theologisch sachgerecht befinden zu können. Der Vf. der "Aufsätze, Vorträge und Gutachten" unterstützt auf Grund seines eigenen lutherisch-offenbarungstheologischen Konservativismus das Anliegen des Herausgebers zwar ausdrücklich, entschuldigt sich jedoch für die unausweichlichen Redundanzen, durch die auch der geneigte Leser insbesondere des zweiten und dritten Bandes auf Grund einer "ewigen Wiederkehr" (Nietzsche) gleicher Zitate und Argumente ermüdet wird.

Trotz dieser in der Natur der Sache liegenden Schwäche eröffnet die Lektüre der drei Bände einen hervorragenden Überblick über das Lebenswerk des streitbaren, 1998 emeritierten Erlanger Systematikers. Sowohl die logische und historische Sorgfalt seines bewusst dogmatischen Argumentierens, als auch die Suggestivität der von ihm herangezogenen theologischen Positionen und Begriffe sind derart beeindruckend, dass der heute weit verbreitete, vom Vf. aber strikt zurückgewiesene liberaltheologische Historismus in allen seinen fundamentaltheologischen Grundsatzentscheidungen subtil hinterfragt wird.

Die Kernfrage des Vf.s, vor die sich bereits der große liberale Theologe Ernst Troeltsch am Ende seines Schaffens gestellt sah, lautet: Wie kann der christliche Wahrheitsanspruch in seiner für die Reformatoren unhintergehbaren Exklusivität glaubwürdig vertreten werden, wenn aus methodischen Gründen von einem aufklärerischen Rationalismus, Skeptizismus oder Agnostizismus anstelle des offenbarungsgewissen Schriftprinzips ausgegangen wird? Die Antwort vom Vf. lautet (im Unterschied zu Troeltsch): Allein "das Wort Gottes heiliger Schrift" bietet die notwendige inhaltliche Bestimmtheit, um zwischen Gotteswort und Menschenwort, Gotteserkenntnis und Gotteserfahrung, Christusbekenntnis und nachaufklärerischer Christologie, Opfer Christi und Opfer der Christen, Rechtfertigung des Sünders und Rechtfertigung der Sünde, Gottesvolk und Volkskirche, Kirche und Politik, zwischen christlichem Glauben und Pluralismus vor Ort der Ökumene der christlichen Konfessionen wie der Weltreligionen sowie schließlich zwischen doppeltem Ausgang der Weltgeschichte und Allversöhnung sorgsam genug "unterscheiden" zu können, so dass die unauflösliche Differenz von Schöpfer und Geschöpf in allen diesen Themenbereichen gewahrt werden kann.

Der Vf. teilt ausdrücklich Lessings Skepsis, dass von historischen Einsichten niemals auf ewige Vernunftwahrheiten geschlossen werden könne. Allerdings sieht der Vf. Lessings "garstig breiten Graben" als immer schon von Gottes Seite her überwunden an, nämlich durch Gottes Selbstoffenbarung als einer unmittelbar aktualen "pneumatischen" (also nicht mittelbar "pneumatologisch" konstruierten) Selbsterschließung im exklusiven Medium des "Wortes Gottes heiliger Schrift". Der Vf. wird nicht müde, die offenbarende, neuschöpferische, Glauben schenkende und heilsvergewissernde Wirksamkeit des Heiligen Geistes im kirchlich rezipierten Kanon der heiligen Schrift zu beschwören. Diese in der göttlichen Offenbarungstrinität ontologisch sowie personal fest verankerte Wirksamkeit des Geistes könne hinsichtlich ihrer theologischen Unableitbarkeit "senkrecht von oben" (Karl Barth) nicht in der horizontalen Relativität einer rein menschlichen "Geistes"- oder "Traditionsgeschichte" aufgehoben werden.

Der Vf. scheut sich nicht, aus seinem Rekurs auf absolute Gewissheitsgründe im schrifttheologischen "Extra se" des frommen Christenmenschen sowie der christlichen Kirche jenseits aller Historie die unausweichliche Konsequenz zu ziehen: Bei dogmatischen Explikationen sowie ethischen Konkretionen verfährt der Vf. gemäß einem rein objektiven Biblizismus höherer Ordnung. Die "Scheidung der Geister" sowie die "Unterscheidung von wahrer und falscher Kirche" erfolgt "unmittelbar" (d.h. ohne jede historisierende und rationalisierende Hermeneutik oder andere Subjektivierungen) aus dem Wortlaut der biblischen Schriften Alten und Neuen Testaments, die gut lutherisch auf Christus hin sowie von Christus her in der paulinischen Realdialektik von "Gesetz und Evangelium" gelesen werden.

Hier muss freilich die inhaltliche Kritik einsetzen: Die vom Vf. angenommene "Unmittelbarkeit" des "Wortes Gottes heiliger Schrift" bei der dogmatischen sowie ethischen Bestimmung der christlichen Wahrheit verdankt sich einer "monomythischen Reduktion" (Timm) der innerbiblischen Textvielfalt auf die christologisch begründete Rechtfertigungsdogmatik der lutherischen Lehrbekenntnisse.

Die inhaltlich bestimmte Selbstevidenz des Schriftprinzips haben die Reformatoren aus umfänglichen hermeneutischen (d. h. eben auch historisch-kritischen) Reflexionen hergeleitet. Über diesen genuin reformatorischen (also gerade nicht eo ipso immer schon biblisch-theologisch vorgegebenen) Lehrkonsens geht der Vf. noch hinaus, wenn er alle dogmatischen Explikationen und ethischen Konkretionen dem Kriterium der Rettung aus dem Jüngsten Gericht als dem finalen Strafgericht Gottes nach den Werken der Menschen unterstellt. Bei aller eschatologischen Orientierung der Reformatoren scheint diese kriteriologische Isolierung des Gerichtsgedankens doch etwas einseitig, so dass protologisch-kosmologische sowie gegenwartshermeneutische Aspekte der lutherischen Theologie in Gefahr stehen, hinsichtlich ihrer eigenständigen Relevanz vom Vf. unterbewertet zu werden.

So wird der Vf. von den Grundproblemen des nachaufklärerischen Historismus letztlich doch wieder eingeholt. Die Überführung der Semlerschen Differenz von religiösem Vollzug und theologischer Reflexion in einen aktualen Selbstvollzug des heiligen Geistes im "Wort Gottes heiliger Schrift", an dem der Systematiker mit seinen dogmatischen Explikationen und ethischen Konkretionen vor Ort des Verkündigungsgeschehens seiner Lehrtätigkeit primär rezeptiv teilnimmt, unterläuft das Problemniveau "neuzeitlichen Christentums" (Rendtorff) seit der Aufklärung. Die sorgsame Vermittlung von Christentum und Moderne bleibt demgegenüber die Aufgabe der "theologischen Existenz heute", von der sie sich mit einem Kierkegaardschen "Sprung" bzw. einer barthianisierenden "Entscheidung" nicht so gewagt befreien kann, wie der Vf. es gerne möchte. Nichtsdestoweniger zeugt der Vf. mit seinem konservativen Pathos auf beeindruckende Weise von jener anderen Seite der Max-Weber-Moderne, die mit der radikalen Historisierung und Rationalisierung aller Lebensbereiche als deren suprarationalistische Gegenbewegung einhergeht.

Über dieser (zugegebenermaßen typisch liberaltheologischen) Kritik darf jedoch ein wichtiger Punkt nicht vergessen werden, in dem dem Vf. unbedingt zuzustimmen ist. Wenn man auch die dogmatisch reflektierte Position des Vf.s zur Frauenordination sowie zu anderen umstrittenen Fragen der kirchlichen Lebensordnung inhaltlich nicht teilt, so stimmt es doch hochgradig nachdenklich, zu hören, dass bei den auch vom Vf. vertretenen Positionen, die von einem neuerdings sich abzeichnenden innerlutherischen Lehrkonsens abweichen, von kirchenamtlicher Seite offensichtlich ganz unverhohlen mit der Aufkündigung der Kirchengemeinschaft, also mit der Exkommunikation, gedroht wird (vgl. Bd. III, 45-52.197 ff.). Es ist nur zu berechtigt, wenn der Vf. im Anschluss an die Reformatoren gegenüber diesem neuerlichen Klerikalismus mit seiner disziplinarrechtlich erzwungenen Entmündigung von Universitätstheologen, Pfarrern und Gemeindegliedern, ja sogar von ganzen lutherischen Landeskirchen die vorbehaltlose Respektierung der Gewissensfreiheit einfordert. Es geht in der Tat nicht an, divergierende Ansichten in Fragen kirchlicher Lebensordnung zu einem vorgeblich fundamentalen Dissens hinsichtlich des Christusbekenntnisses hochzustilisieren. An diesem Punkt zeigt sich wieder einmal jene eigentümliche Parallelität von lutherischer Neoorthodoxie und liberaler Theologie im 21. sowie im 20. Jh.: Beiden theologischen Schulen ist es auf jeweils eigentümliche Weise um die "Freiheit eines Christenmenschen" (Luther) von einer heteronom verordneten ideologischen Homogenität zu tun.