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Ausgabe:

November/2002

Spalte:

1206–1211

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Kleden, Paulus Budi

Titel/Untertitel:

Christologie in Fragmenten. Die Rede von Jesus Christus im Spannungsfeld von Hoffnungs- und Leidensgeschichte bei Johann Baptist Metz.

Verlag:

Münster-Hamburg-London: LIT 2001. 448 S. gr.8 = Religion - Geschichte - Gesellschaft. Fundamentaltheologische Studien, 21. Kart. ¬ 40, 90. ISBN 3-8258-5198-2.

Rezensent:

Karl-Heinz Menke

Die in Freiburg an der Katholisch-Theologischen Fakultät entstandene Dissertation von Paulus Budi Kleden entwirft so etwas wie die Antithese zu der von Jan-Heiner Tück 1998 veröffentlichten Arbeit mit dem Titel: "Christologie und Theodizee bei Johann Baptist Metz". In der Einleitung bemerkt der Vf.: Die "Arbeit von J.-H. Tück konzentriert sich auf die Christologie der theodizeeempfindlichen Theologie von Metz und vertritt die These vom Verlust der Christologie bei der Zunahme der Akzentuierung der Leidensfrage. Die vorliegende Arbeit versucht im Gegensatz dazu, die unterschiedlichen christologischen Ansätze in der gesamten Metzschen Theologie nachzuzeichnen" (18).

1. Wer die Arbeiten von Tück und K. vergleicht, wird unschwer erkennen, dass beide sorgfältig zwischen den einzelnen Phasen des Metzschen Denkweges differenzieren. Aber K. unterscheidet im Unterschied zu Tück zwischen dem allgemeinen (Teil I) und dem christologischen Denkweg (Teile II-III). So soll deutlich werden, dass das Fehlen einer systematisch entfalteten Christologie nicht mit dem mangelnden christologischen Interesse des Autors begründet werden kann. Aus der Sicht des Vf.s. geht es Metz von Anfang an um die Reflexion der anthropologischen, soziologischen und politischen Kontexte der Theologie. Seine frühe Transzendentaltheologie, seine Säkularisierungsthese und die drei Phasen der so genannten "neuen politischen Theologie" beurteilt der Vf. weniger als sich ablösende denn als sich wechselseitig bedingende Reflexionsstufen.

K. sammelt mit bewundenswerter Sorgfalt alle christologisch relevanten Aussagen und ordnet sie den im ersten Teil genannten Phasen des Metzschen Denkweges zu. In einer auf Kürze bedachten Rezension ist es unmöglich, die vielen wertvollen Einzelbeobachtungen des Vf.s. auch nur annähernd zu würdigen: z. B. seine Anmerkungen zur Thomas- und Heidegger-Rezeption; zu der von H. Blumenberg oder O. Marquard vertretenen Kritik an der Metzschen Säkularisierungsthese; zu den Begriffen "politische Theologie" und "neue politische Theologie" und zu Hans Maiers Kritik an diesen Termini; zur Marx-Rezeption und Marx-Kritik; zur Auseinandersetzung mitBlochs Ontologie des Noch-nicht-Seins; oder zu Benjamin, Adorno und Habermas. Die folgende Inhaltsangabe kann lediglich die m. E. wichtigsten Schritte der Analysen des zweiten und dritten Teils skizzieren.

2. Metz fasst seine berühmt gewordene "Säkularisierungsthese" in den einen Satz: "Die Weltlichkeit der Welt, wie sie im neuzeitlichen Verweltlichungsprozeß entstand und in global verschärfter Form uns heute anblickt, ist in ihrem Grunde, freilich nicht in ihren einzelnen geschichtlichen Ausprägungen, nicht gegen, sondern durch das Christentum entstanden; sie ist ursprünglich ein christliches Ereignis und bezeugt damit die innergeschichtlich waltende Macht der Stunde Christi in unserer Weltsituation" (28). Diese Auffassung begründet Metz durch eine Phänomenologie des Inkarnationsgeschehens. Weil Gott die Welt in seinem Sohn Jesus Christus endgültig angenommen und gerade dadurch freigegeben hat, ist ein strikter Dualismus zwischen einem rein transzendenten Gott und einer rein immanenten Welt ebenso überwunden wie ein differenzloser Monismus, der Gott und Welt ineinander aufgehen lässt. Wie die menschliche Natur Christi durch die hypostatische Union mit dem innertrinitarischen Logos nicht gemindert, sondern in ihr ursprüngliches Wesen eingesetzt wurde, so wird die Welt insgesamt durch Schöpfung und Erlösung nicht degradiert, sondern freigegeben. Das verbum incarnatum kann also als Manifestation der vollendeten Verwirklichung des Gott-Geschöpf-Verhältnisses gedeutet werden. Diesen Grundsatz - so zeigt der Vf. - versucht Metz geschichtstheologisch zu explizieren, wenn er die "Verweltlichung der Welt" als konkret-geschichtliche Repräsentation des Geheimnisses der Menschwerdung interpretiert.

Nicht selten hat man dem frühen Metz vorgeworfen, er identifiziere die Verchristlichung der Welt mit deren Verweltlichung. Dieser Vorwurf trifft, wie der Vf. ausführlich belegt, nicht zu. Denn dabei wird übersehen, dass die zur Freiheit befreiende Liebe Christi die Gestalt des Gekreuzigten annimmt, dass also "die Welt, die Gott in Jesus Christus angenommen hat, nicht die Welt sein kann, wie sie von der Schöpfung her idealerweise gemeint ist" (125). Die Welt, welche die Bedingung der Möglichkeit ihres Eigenseins verneint, ist die der Sünde verfallene und also in den vielfältigen Formen der Unfreiheit versklavte Welt. Wenn aber Gottes unbedingt befreiende Liebe sich im Ereignis der Inkarnation nicht nur dem Nein des einzelnen Sünders, sondern auch den geschichtlich greifbaren Folgen der Sünde aussetzt, dann verbietet sich jede gnostische, jede bloß theoretische, unsichtbare, privatistische oder heilsindividualistische Versöhnung Gottes mit dem Elend; dann kann Christ nur heißen und sein, wer in der Parabel vom Wettlauf zwischen Hasen und Igel die Partei des Hasen ergreift. Denn wer wie der Igel gleichsam im Sprung über Welt und Geschichte hinweg "immer schon" bei Gott sein will, der hat nicht verstanden, dass es mit dem in Christus offenbar gewordenen Gott keine Gemeinschaft außerhalb des Engagements für den Nächsten in Welt und Geschichte (außerhalb der Existenz des sich die Zunge aus dem Halse rennenden Hasen) gibt. Vor diesem Hintergrund spricht der Vf. dem 1962 in der Zeitschrift "Hochland" erschienenen Aufsatz mit dem Titel "Caro cardo salutis" eine Schlüsselstellung zu: Als Leib ist der Mensch so unbedingt "Geist in Welt", dass sich sein Heil unter keinen Umständen in einer privaten und unsichtbaren Innerlichkeit, sondern stets und notwendig im Mitvollzug der Inkarnation- und das heisst immer auch der Kreuzesnachfolge (Leib als Fenster der Verwundbarkeit)- vollzieht.

3. Die konzeptionelle Ausgestaltung der ersten Phase der "neuen politischen Theologie" lässt sich durch die Stichworte Zukunftsprimat, Praxisprimat und eschatologischer Vorbehalt kennzeichnen. Metz beruft sich auf die Verheißungsdimension der biblischen Testamente und stellt kategorisch fest, das hermeneutische Grundproblem der Theologie sei nicht das Verhältnis von Dogma und Geschichte sondern das von Theorie und Praxis. Nicht die nachträgliche pastorale Applikation dogmatisch fixierter Wahrheiten, sondern die praktische Bewährung der Verheißungen erweist aus seiner Sicht den Wahrheitsgehalt des christlichen Glaubens. Allerdings wird die praktische Vermittlung der Wahrheit nicht im Sinne einer affirmativen Anknüpfung an vorhandene gesellschaftliche Emanzipationsprogramme vollzogen. Im Gegenteil: Die konkrete Humanisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse soll vor allem kritisch-negativ vorangetrieben werden. Da die "neue politische Theologie" nicht mit einer Neo-Theologisierung oder Klerikalisierung der Politik verwechselt werden will, artikuliert sie sich in Gestalt einer Kritik, die sich an der Erfahrung bedrohter Humanität entzündet (vgl. Adornos "Negative Dialektik").

Metz distanziert sich von der marxistischen Geschichtsauffassung, indem er immer wieder betont, dass die schöpferisch-kritische Hoffnung der Christen nicht einfach mit einem "militanten Optimismus" zu identifizieren sei. Als theologisches Instrument der Ideologiekritik wird der eschatologische Vorbehalt eingeführt; er dient dazu, aus der Perspektive des Glaubens die Zukunft als Ankunft des größeren Geheimnisses Gottes zur Geltung zu bringen. Dieses Wissen um die größere Zukunft Gottes schützt vor überzogenen Erwartungen an die Möglichkeiten des Menschen, aufgrund wissenschaftlicher Fortschritte und technologischer Planung das vollkommene Humanum in der Zukunft selbst zu verwirklichen.

4. Maßgeblich für die Positionsverschiebung von der ersten zur zweiten Phase der "neuen politischen Theologie" war vor allem die Kritik an der futurischen Engführung. Denn Zukunft als Gegenstand christlicher Hoffnung kann gepaart sein mit dem Vergessen der Vergangenheit. Für Metz wird die Erinnerung an die Leidensgeschichte der Welt (memoria passionis) ebenso wichtig wie die Praxis zur Herbeiführung einer besseren Zukunft. Die Überwindung der einseitigen Zukunftsbetonung durch Einbeziehung der Erinnerungsthematik ist vor allem auf den Einfluss der geschichtsphilosophischen Arbeiten Walter Benjamins zurückzuführen. Metz betont, dass die Solidarität nach rückwärts mit den Geschlagenen der Geschichte von selbst die Frage aufwirft, ob die Toten definitiv tot sind und ihr Schicksal endgültig besiegelt ist oder ob doch Hoffnung auf Rettung der Verlorenen besteht. Das Anliegen, eine erlösungsbedürftige Vergangenheit zu retten, erfordert theologische Kategorien. In seinen Thesen zur Apokalyptik verankert Metz die von Benjamin beschworene Hoffnung auf die Rettung der Toten und Geschlagenen in der memoria passionis, mortis et resurrectionis Christi. Damit bringt er nicht nur das Unabgegoltene in die Gegenwart ein, um diese zu verändern, sondern behauptet auch die Rettung der Toten mit Verweis auf die Auferstehung Jesu Christi.

Wie aber ist diese Christologie näherhin zu verstehen? Ist der Glaube an Christi Auferstehung ein Wissen um das endgültige Heil? - Mit Schärfe richtet sich Metz gegen alle zeitgenössischen Theologien, die vom Heil reden, ohne sich von den Unheilserfahrungen der Geschichte irritieren zu lassen. Gewiss, eine Theologie, die sich der Härte der geschichtlichen Negativität aussetzt, aber darüber den Erlösungsglauben fallen lässt, suspendiert sich letztlich selbst und verrät die Hoffnung, die weiterzugeben ihr aufgetragen ist. Aber ebenso unerträglich ist nach Metz ein Nicht-Ernst-Nehmen des Leidens des konkreten Menschen durch die Behauptung, dieses Leiden sei ein Moment am Leiden Gottes selbst (Hegel, Moltmann, Jüngel, Balthasar). Um beide Fehlformen zu umgehen, schlägt Metz eine narrativ-memorative Soteriologie vor, die das christliche Erlösungsgedächtnis als gefährlich-befreiendes Gedächtnis erlöster Freiheit erzählend tradiert. Erzählung und Erinnerung werden zu leitenden Kategorien der zweiten Phase der "neuen politischen Theologie".

Immer wieder unterstreicht der Vf., dass aus der Sicht von Metz die Praxis als eine Form des Wissens und das Wissen als eine Form der Praxis sich wechselseitig durchdringen. Nur in der Nachfolge Christi wissen Christen um den Weg, die Wahrheit und das Leben; und in der Nachfolge ist ihr Glaube nicht blind. Metz verortet seine als Christopraxis konzipierte Christologie im Spannungsfeld von Mystik und Politik. Denn Mystik, die sich nicht in politische Ausdrucksformen übersetzt, bleibt leer; und Politik, die sich nicht mystischer Orientierung verdankt, ist blind.

5. Die dritte und letzte Phase der "neuen politischen Theologie" besteht in nichts anderem als einer Applikation der geschilderten Postulate auf eine jüdisch perspektivierte Christologie. Metz unterscheidet drei zentrale Dimensionen einer solchen Christologie: a) die Idee der befristeten Zeit, wie sie exemplarisch in der jüdischen Apokalyptik und Messiaserwartung aufscheint; b) die Ableitung des Dogmas aus der Praxis, wie sie in der jüdischen Betonung des Tora-Gehorsams vor aller theoretischen Beschreibung des Verhältnisses zwischen Jahwe und Israel zum Ausdruck kommt; c) die Aufnahme des erzählenden Gedenkens in die auf die Zukunft gerichtete Hoffnung der Praxis.

Die Sonderstellung von Auschwitz in der Theologie von Metz erklärt sich vor allem aus der Tatsache, dass dort das Judentum und die Juden vernichtet werden sollten. Das war der Versuch, ein Volk, eine Tradition auszulöschen, in der alle großen monotheistischen Religionen verwurzelt sind. In diesem Sinn wurde Auschwitz zu einem Attentat auf alles, was den Christen hätte heilig sein müssen. Metz folgert: Wir Christen kommen niemals hinter Auschwitz zurück; über Auschwitz hinaus aber kommen wir, genau besehen, nicht mehr allein, sondern nur noch mit den Opfern von Auschwitz.

Metz ist der Überzeugung, dass aus der Aufnahme von Auschwitz in die Mitte der christlichen Theologie eine theologische Fähigkeit erwächst, mit der die Leidensgeschichten der Welt neu entdeckt werden können. Weil Gott in Israel ein "Tätigkeitswort" ist, an den zu glauben, seinen Willen zu tun bedeutet, bewahrheitet sich der jüdische Glaube in der weltverändernden Praxis.

Die Verpflichtetheit zum Judentum, zu dieser erinnerungsbegabten Religionsgemeinschaft, treibt das Christentum dazu, die memorative Struktur der menschlichen Vernunft aufzudecken und auf die Bedeutung der Erinnerung für menschliches Zusammenleben hinzuweisen. In einer Welt der totalisierenden Gleichschaltung der Zeitdimensionen hilft die anamnetische Vernunft, die Erfahrung der leidenden Anderen zu ermöglichen, die sich dem entwerfenden Zugriff des Subjekts entziehen. Ein Subjekt, das sich an den Leidenden der Geschichte vorbei auf Gott bezieht, wird von Metz als theodizeeunempfindlich bezeichnet.

Vor diesem Hintergrund ist die Präsenz Gottes in der Geschichte (in der Gestalt eines konkreten Menschen) kein abgeschlossener Vorgang, sondern ein offener Prozess, bei dem diese Präsenz immer wieder vermisst wird und gesucht werden muss.

6. Leider beschränkt sich der Vf. in seinen Schlussbemerkungen auf eine bloße Affirmation der Metzschen Postulate: Er fordert die "eschatologische Offenheit der Christologie" (406) und also eine Christuserinnerung, die "nie nur gedacht ist" (407), sondern sich aus der Praxis der Nachfolge nährt. Er spricht von der "Theozentrik einer Christologie", in welcher der Name Jesu Christi gleichbedeutend ist mit der "Offenheit und der Suche der Menschen nach Gott, in der Gestalt von Zukunftserwartung oder Hoffnung für die Leidenden oder in der Klage" (409). Und er postuliert eine theodizeeempfindliche Christologie, die Gott nicht vorschnell mit dem Leid der Leidenden versöhnt.

Seltsam unbestimmt bleibt die Einzigkeit Jesu Christi. Der Vf. hält fest, "daß in Jesus Christus Gott sich offenbart hat", will damit aber nicht sagen, "daß in ihm allein diese Offenbarung geschehen ist" (405 f.). Die memoria passionis et resurrectionis erscheint als Verheißung, die - in die Praxis der Nachfolge übersetzt - Christus als Heil der Welt bewahrheitet. Ist - so frage ich- auch aus der Sicht von Metz und K. vor zweitausend Jahren durch Jesus Christus für alle Menschen aller Zeiten etwas geschehen, was über die Funktion einer Offenbarung, einer Verheißung, einer Initiation oder eines Vorbilds hinausgeht?

Der Vf. ist mit dem Helden seiner Dissertation überzeugt: Wenn die Erinnerung an Jesus Christus so erzählt wird, dass die lebendige Sprache zum handelnden Zeugnis wird, dann fädelt sich die Jesusgeschichte so in das Netzwerk der Sprachspiele und Sinnerzählungen ein, dass sie sich darin als normativ bewährt. Doch: Woher kommt die so behauptete Normativität des Jesus-Sprachspiels? Wenn Jesus Christus der Weg, die Wahrheit und das Leben (der letztgültige Sinn) für alle Menschen aller Zeiten ist und nicht erst wird, dann muss ich doch - um Jesus als den Christus verantwortet glauben zu können, letztgültigen Sinn zumindest als möglich denken können. Nach Metz aber ist das Denken letztgültigen Sinns die Unterwerfung der Andersheit des Anderen, der realen Geschichte und speziell des realen Leids unter das Apriori des "Immer-schon"; letztgültiger Sinn kann nicht gedacht werden und hat sich auch in Christus nicht gezeigt; sondern Christus ist der Kreuzesschrei nach unbedingtem Sinn, dessen Einklage oder Postulat.

Nachdem Metz in einer Sammelrezension mit dem Titel "Theologie als Theodizee - Beobachtungen zu einer aktuellen Diskussion" (ThRv 95, 1999, 179-188) die eigene Christologie scharf von der eines Thomas Pröpper oder Hansjürgen Verweyen abgegrenzt hat, und nachdem der Metz-Schüler Edmund Arens sich mit dem Transzendentalphilosophen Klaus Müller eine entsprechende Kontroverse in der Zeitschrift "Orientierung" (61, 1997, 152-156.239-241) geliefert hat, hätte ich mir wenigstens im Schlussteil eine ausführlichere Diskussion dieser für die Christologie schlechthin zentralen Auseinandersetzung gewünscht.