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Ausgabe:

November/2002

Spalte:

1200–1202

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Moore, Robert I.

Titel/Untertitel:

Die erste europäische Revolution. Gesellschaft und Kultur im Hochmittelalter. Aus dem Engl. von P. Knecht.

Verlag:

München: Beck 2001. 347 S. m. 6 Ktn. u. 2 Abb. 8 = Europa bauen. Lw. ¬ 27,90. ISBN 3-406-47214-1.

Rezensent:

Heinrich Holze

Der fortschreitende europäische Einigungsprozess hat nun auch auf verlegerischer Ebene erste Spuren hinterlassen. Unter der Herausgeberschaft des Nestors der französischen Geschichtsschreibung Jacques Le Goff geben die Verlage C. H. Beck (München), Basil Blackwell (Oxford), Crítica (Barcelona), Laterza (Rom) und Le Seuil (Paris) die gemeinsam verantwortete Reihe "Europa bauen" heraus. Diese verfolgt, wie Le Goff im Vorwort schreibt, nicht das Ziel, "eine Universalgeschichte Europas zusammenzufügen", sondern will das Thema Europa "mit Essays umkreisen", "die entscheidende Themen europäischer Geschichte aufgreifen" und sich dabei "auf die in Europa entwickelten neuen Konzeptionen stützen, die die Geschichtswissenschaft im zwanzigsten Jahrhundert und insbesondere in den letzten Jahrzehnten von Grund auf erneuert haben." (5 f.)

Der vorzustellende Band aus der Feder des renommierten englischen Historikers Robert I. Moore wird diesem programmatischen Anspruch in jeder Hinsicht voll gerecht. M., der bereits in "The Birth of Popular Heresy" (1975), "The Origins of European Dissent" (1977) und "The Formation of a Persecuting Society" (1987) seine mediävistischen Kenntnisse überzeugend unter Beweis gestellt hat, behandelt in seinem neuen Buch den sich zwischen dem späten 10. und dem beginnenden 13. Jh. in Europa vollziehenden Umbruch in Gesellschaft und Kultur. Ausgangspunkt ist seine an der Untersuchung häretischer Bewegungen gewonnene Beobachtung, dass nicht die Abweichler, die Dissidenten die Vorboten des Neuen sind, sondern vielmehr die vermeintlichen Vertreter des Bestehenden: "Mochten die Ankläger sich selbst auch für aufrechte Wahrer der Tradition halten, die gegen religiöse Neuerungen verteidigt werden mußte, so agierten doch sie, und nicht ihre oft verdutzten Widersacher, als radikale und dynamische Neuerer nicht nur in der Sphäre des Glaubens, sondern in vielen Bereichen des sozialen und kulturellen Lebens." (9)

M. geht diesem Grundgedanken in fünf Schritten nach, welche die Geschehenszusammenhänge zugleich chronologisch wie thematisch entfalten. Im ersten Kapitel "Vor der Jahrtausendwende" beschreibt er die geistigen und ökonomischen Voraussetzungen des Hochmittelalters, die Auswirkungen der Kirchenreform, die Umverteilung und Neudefinition von Kirchenbesitz, das Aufkommen volksreligiöser Bewegungen und die Erfahrung der Präsenz des Heiligen in Reliquien und Wundern. Das zweite Kapitel "Die Mächtigen und Armen" schildert den Prozess der mit dem Bevölkerungswachstum einhergehenden Urbanisierung Europas. Vor allem im Norden des ehemaligen Karolingerreichs entfaltet sich eine bis dahin unbekannte Bautätigkeit. Mit den zahlreichen Städtegründungen geht der Kirchen- und Kathedralenbau einher. M. macht deutlich, dass diese urbane Revolution das Ergebnis tiefgreifender gesellschaftlicher Umbrüche ist. Zu ihnen gehört die Kollektivierung von Abhängigkeitsverhältnissen durch das Aufkommen der Leibeigenschaft, die Veränderung ganzer Landstriche durch Kultivierung sowie die Entstehung einer neuen Agrarökonomie, bei deren Durchsetzung auch Reliquien eine Rolle spielen. Das dritte Kapitel behandelt den Themenbereich "Geschlecht und soziale Ordnung", darin zunächst das Verhältnis von Familie, Land und Macht, die Sicherung der Besitzrechte durch Einführung des Erstgeburtsrechtes, die Rolle der Klöster bei der Gründung und Sicherung von Dynastien, was die Ordensgründungen nicht nur aus religiösen Gründen plausibel werden lässt. Das Keuschheitsgebot der Mönche gewährleistet in Verbindung mit Armut und Gehorsam, dass das dem Kloster übereignete Land nicht zum Patrimonium einer neuen Dynastie wird, sondern zur Versorgung nachgeborener Söhne adeliger Familien dient. Das von der Kirche kodifizierte Eherecht erfüllt eine vergleichbare Aufgabe, indem es mit der Festlegung legitimer ehelicher Konstellationen der Festigung und Sicherung des dynastischen Erbes dient. Das vierte Kapitel "Der regulierende Geist" untersucht die Bedeutung von Bildung und Ausbildung in den sozialen und ökonomischen Umbrüchen, die Gründung von Schulen in Paris, Bologna, Oxford und anderswo in Europa, die Entwicklung der Dialektik als wissenschaftlicher Methode, die damit aufbrechende Spannung zwischen Vernunft und Glauben, Wissenschaft und Kirche und den Kampf um die Definitionsmacht der Lehre, durch den das Problem der Häresie aufbricht.

Als Beispiele werden der Streit um das Verständnis der Transsubstantiation und die sich um Abaelard und Gilbert rankenden theologischen Auseinandersetzungen angeführt. Auch wird die Funktion der Bildung für die Steigerung der königlichen Macht, das Wirken herausragender Gelehrter an den Höfen, ihre Kritik der praktischen Politik ebenso wie die denkerische Gestaltung der Regierungskunst erhellt. Ein wichtiges Licht auf die Zeit werfen Ausführungen über die im Hochmittelalter an vielen Stellen sich zeigenden Tendenzen zur Abgrenzung und Ausgrenzung, sei es gegenüber der griechischen Kirche, den muslimischen Arabern oder den Juden. Letztere sehen sich im 12. und 13. Jh. einer zunehmenden Ausgrenzung und Erniedrigung ausgesetzt, die schließlich in Pogrome und kollektive Vertreibungen einmünden. M. schreibt: "In ihrer Beziehung zu den Juden und in der Konfrontation mit dem Judentum lassen die Meister, die das prächtige Bauwerk der christlichen Ordnung des Mittelalters errichteten, so deutlich wie nirgendwo sonst erkennen, auf welch fragilen emotionalen und psychischen Fundamenten dieses Gebäude ruhte und unter welch ungeheurem Druck seine Erbauer standen." (244) Daran anknüpfend geht das fünfte Kapitel "Die restaurierte Ordnung" der Beobachtung nach, dass die zentrifugalen Tendenzen, die mit dem Aufkommen häretischer Strömungen gegeben sind, die weltlichen ebenso wie die kirchlichen Gewalten herausfordern, ihren Willen zum Monopol wecken und die Entstehung der Inquisition bewirken. Auch die Festlegungen der kirchlichen Lehre, der moralischen Normen und der sozialen Pflichten spiegeln den gestalterischen Willen, die Bindekräfte der Gesellschaft bei gleichzeitiger Ausgrenzung des Abweichenden zu stärken.

M. schildert in seinem Buch den Umbruch der europäischen Gesellschaft im 12. und 13. Jh. Er zeigt, dass erst jetzt die antike Gesellschaftsstruktur von der neuen feudalen Ordnung abgelöst wird, die für viele Jahrhunderte bis in die Frühe Neuzeit Bestand haben wird. Auch in den Veränderungen in Kirche und Religion spiegelt sich dieser Umbruch. Die Ordensgründungen, die Durchsetzung des priesterlichen Zölibates, die Zentralisierung der päpstlichen Macht, die Definition und Ausgrenzung von Häresie, die Auseinandersetzung mit der byzantinischen Kirche, dem Judentum und dem Islam sind ein Teil und ein Ausdruck dieses auf Weltgestaltung ausgerichteten Prozesses: "Eine besondere Mischung aus Gier, Neugier und genialem Erfindergeist trieb jene ersten Europäer an, ihr Land und die Arbeitskraft ihrer Leute immer intensiver auszubeuten, Verwaltungs- und Herrschaftsstrukturen auszuweiten und so zu perfektionieren, dass sie die Gesellschaft wirklich durchdrangen, und auf diese Weise schließlich die Voraussetzungen des europäischen Kapitalismus, der europäischen Industrialisierung, des europäischen Imperialismus zu schaffen: Im Guten wie im Schlechten war diese Revolution ein Ereignis nicht allein der europäischen, sondern der Weltgeschichte." (299 f.) M. hat mit seinem Buch, das durch mehrere Abbildungen, eine Zeittafel und ein Personenregister abgerundet wird, eine außerordentlich anregende und zu weiteren Untersuchungen ermunternde Gesamtdarstellung des europäischen Hochmittelalters vorgelegt.