Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

November/2002

Spalte:

1190–1192

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Nicklas, Tobias

Titel/Untertitel:

Ablösung und Verstrickung. "Juden" und Jüngergestalten als Charaktere der erzählten Welt des Johannesevangeliums und ihre Wirkung auf den impliziten Leser.

Verlag:

Frankfurt/M.-Berlin-Bern-Bruxelles-New York-Oxford-Wien: Lang 2001. 464 S. 8. Regensburger Studien zur Theologie, 60. Kart. ¬ 65,40. ISBN 3-631-37615-4.

Rezensent:

Martin Meiser

Tobias Nicklas versucht in dieser seiner Dissertation (Erstgutachter: Hubert Ritt, Regensburg) mit Hilfe narrativer Analyse ausgewählter Texte des Johannesevangeliums zu erweisen, dass die Wurzeln für dessen antijüdische Wirkungsgeschichte in mehrfacher Weise in ihm selbst beschlossen liegen.

Das Phänomen der johanneischen Darstellung der Ioudaioi erschließe sich, so der einleitende Forschungsüberblick (16-72), weder über deren Funktion oder Identität noch durch die These einer gradlinigen johanneischen Widerspiegelung des zeitgeschichtlichen Hintergrundes. Bultmanns These, die Juden repräsentierten den ungläubigen Kosmos schlechthin, werde den spezifisch jüdischen Themen vieler Texte nicht gerecht (19); Lowe's Judäerthese erkläre nicht die negative Charakterisierung der Ioudaioi; Schnackenburgs und von Wahldes Differenzierungen der Referenz der Einzelbelege evozierten eher die Frage nach ihrer antijüdisch gemeinten bewussten Verwischung (29). Joh 9,22; 12,42; 16,2 seien nicht der Reflex der Einführung des sog. "Ketzersegens" in das Achtzehnbittengebet (gegen J. L. Martyn); angesichts der jüdischen Geschichte wie Literaturgeschichte sei die Vorstellung eines einheitlichen Judentums als Gegenüber zur johanneischen Gemeinde verfehlt (gegen K. Wengst), dementsprechend das johanneische Bild des Judentums keine adäquate Wiedergabe einer "greifbaren historischen Realität" (65). Die Einsicht in die Funktionsweise einer historiographischen Erzählung lasse Rückschlüsse auf die referierte Wirklichkeit nur bedingt zu. Erkennbar sei nur das "Dass" von Ablösungsprozessen.

Das Miteinander der historischen Erkenntnis hinsichtlich dieser Ablösungsprozesse und der literarischen Beobachtung narrativer Dreiecksstrukturen zwischen Jesus, den Ioudaioi und den Jüngern durch M. J. Cook veranlasst den Vf. daher zur Rückfrage nach der Funktion der Ioudaioi als Charaktere der erzählten Welt des Johannesevangeliums im Gegenüber zu den Erzählfiguren der Jünger. Mit Hilfe des Modells der narrativen Kritik werden im Folgenden Joh 1,19-51; 3,1-21; 5,1-18; 9,1-41 jeweils in fünf Schritten analysiert (textkritische Vorarbeiten, syntaktische Untersuchung, Charaktere und Charakterisierung, Perspektiven der Charaktere der erzählten Welt, der Weg des impliziten Lesers durch die erzählte Welt). Spannungen, Wiederholungen und Leerstellen im Text dienen in synchroner Lektüre "als Voraussetzung zur Untersuchung der Wirkungen des Textes auf den impliziten Leser" (89), die ihn durch seine eigene Mitarbeit im Prozess der Sinnkonstitution "mehr und mehr in das Erzählte" (89) involvieren. Die Techniken der Charakterisierung beschreibt der Vf. im Wesentlichen nach Adele Berlin, ebenso die Unterscheidung u. a. zwischen dem stereotyp gezeichneten Type und dem komplexer präsentierten Character: Die (potentiellen) Jünger oszillieren in unterschiedlichem Maße zwischen Type und Character und sind transparent für einen nicht zur Gänze parallelen, aber analogen Entwicklungsprozess beim Leser in seiner Hinwendung zu Jesus; die Ioudaioi sind bloßer Type.

Der Einsatz bei Joh 1 ist insofern sachgerecht, als hier textintern in der Beziehung der Erzählfiguren auf Jesus, textextern in der Einführung des Lesers in die Welt und die Sprache des Textes die Weichen gestellt werden. Die Ioudaioi reagieren in Joh 1,19-34, so der Vf., nur auf die negativen Selbstaussagen des Johannes, aber nicht auf die Andeutungen Joh 1,23.26 f. und fehlen vollends in der Szene Joh 1,29-34. So bringen sie sich von vornherein um die Möglichkeit, die folgenden Ereignisse richtig zu verstehen, und werden zu tragischen Figuren der johanneischen Ironie. Gleichzeitig sind sie als Autorität mit richterlicher Gewalt (114) und als "bedrohliche Macht" (127) gezeichnet. Beides zusammen bewirkt in dem Leser eine Distanz von ihnen; dank seiner Lektüre von Joh 1,1-18 kann er sich jedoch ihnen überlegen fühlen. Die o. a. Darstellung der Jünger als Vorbilder partieller Identifikation erreicht der Vf. in Joh 1,35-51 durch den bewussten Einsatz semantischer Polyvalenz bei den sinntragenden Verben.

Nikodemus ist (trotz Joh 19,38-42) nicht Kryptochrist, sein Verhältnis zu Jesus bleibt "im Letzten unbestimmt" (245); das veranlasst den Leser, sein eigenes Verhältnis zu Jesus zu klären und die Stellung des Nikodemus zwischen den Ioudaioi und der johanneischen Gemeinde zu überwinden; "für die vorösterliche Sicht der Ioudaioi und letztlich des Nikodemus ist aus der nachösterlichen Perspektive des Erzählers kein Platz" (247). Der Leser muss akzeptieren, "dass der Weg des Offenbarers über die Erhöhung am Kreuz in die Verherrlichung zu gehen hat" (246).

Ist in Joh 5 die Krankenheilung aus der Perspektive des Lesers als "Typos für die Ermöglichung neuen Lebens durch Gott" (304) als Angebot des Neuanfangs für Israel zu verstehen, bleibt die Reaktion des Geheilten zwiespältig, die der "Juden" feindselig, ohne dass der Erzähler dem Leser zu bedenken gäbe, "dass aus innertextlicher Perspektive eigentlich auch die Sicht der Ioudaioi in sich völlig konsequent ist" (305). Daher ist das Johannesevangelium keine an Juden gerichtete Missionsschrift.

Auch zu Joh 9 (die Geheilten aus Joh 5 und Joh 9 sind Kontrastfiguren) zeigt der Vf., wie der Erzähler Schritt für Schritt den Leser dazu führt, seine Sicht der Dinge zu übernehmen und Stellung gegen die Ioudaioi zu beziehen, bei denen Ratlosigkeit und Gewaltbereitschaft Hand in Hand gehen. Kritisch benennt der Vf. als Gefahr der Blindheit für den Leser die "Unfähigkeit, die Sicht der Dinge der Gegenseite, wenn nicht zu übernehmen, so doch in ihrer eigenen Logik zu verstehen" (389).

Als Faktoren antijüdischer Rezeption des Johannesevangeliums gelten, so der Vf. abschließend, die Verschränkung nachösterlicher evaluativer mit vorösterlicher zeitlicher Perspektive - das Wissen des Lesers ist den Erzählfiguren innerhalb des Textes noch gar nicht zugänglich -, die Ausblendung der Sicht der Ioudaioi im Verbund mit dem historischen und ideologischen Wahrheitsanspruch des Evangeliums sowie die Präsentation der Ioudaioi als Type, die die unreflektierte "Übertragung ihrer Zeichnung als Charaktere der erzählten Welt auf jüdische Personen und Gruppen des realen Lebens" erleichtert (409).

Die unter umfassender Benutzung der Sekundärliteratur geschriebene Studie kann unsere Einsichten in die Arbeitsweise des Evangelisten bereichern (lohnend wäre die Frage nach pagan-antiken, frühjüdischen und christlichen Parallelen, wichtig die Frage nach dem Gesamtbild der Ioudaioi incl. Joh 1,45; 12,11 u. a. in der narrativen Analyse) und führt ein weiteres Mal die theologische Relevanz neuerer literaturwissenschaftli-cher Zugänge vor Augen.