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Ausgabe:

November/2002

Spalte:

1188–1190

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Landmesser, Christof

Titel/Untertitel:

Jüngerberufung und Zuwendung zu Gott. Ein exegetischer Beitrag zum Konzept der matthäischen Soteriologie im Anschluß an Mt 9,9-13.

Verlag:

Tübingen Mohr Siebeck 2001. VIII, 204 S. gr.8 = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 133. Lw. ¬ 69,00. ISBN 3-16-147417-1.

Rezensent:

Reinhard Feldmeier

Wie der Untertitel der Untersuchung "Ein exegetischer Beitrag zum Konzept der matthäischen Soteriologie im Anschluß an Mt 9,9-13" bereits andeutet, wendet sie sich einer umstrittenen Frage zu, nämlich dem Verhältnis von Heilszuspruch und dessen Konditionierung durch den Anspruch im ersten Evangelium. Gegenüber einer einseitigen Betonung der Ethik unterstreicht L., dass Mt bestimmt ist durch den unhintergehbaren Bezug auf Jesus Christus, "der zum Heil der Menschen in die Geschichte seines Volkes eingetreten ist" (1). Wie sich dieses "christologische Präferenzkriterium" zu den Einzelperikopen verhält, soll hier an einer nach L. für die Fragestellung paradigmatischen Einzelperikope dargestellt werden.

In einem ersten Hauptteil wird - mit Schwerpunkt auf der ersten Hälfte - zunächst das gesamte Evangelium als Kontext erhellt. Zeigte die Genealogie, dass Jesu Auftreten eine entscheidende Stelle in der Heilsgeschichte markiert, so präzisierte die Deutung seines Namens samt dem entsprechenden Reflexionszitat, dass die Sündenvergebung "das wesentliche Element des Wirkens Jesu nach dem Matthäusevangelium" ist (15). Das unterstreiche auch die Taufperikope, in der es beim Erfüllen aller Gerechtigkeit nicht um ein vorbildliches Verhalten Jesu gehe, sondern um seinen Weg in die von Sünde bestimmte Menschenwelt (25). 4,12-16 resümiert: Trotz aller Widerstände (vgl. 4,1-11) wird der Gottessohn sein die Todverfallenheit der Menschen überwindendes Heilshandeln fortsetzen. In den folgenden Kapiteln wird vor allem gezeigt, dass Gott selbst mit dem Auftreten seines Sohnes die Scheidung zwischen Jüngern und Nichtjüngern bewirkt; allein die Berufung zum Jünger ermögliche ein Verstehen von Wesen und Botschaft Jesu. Der dritte Abschnitt des Evangeliums Mt 16,21-28,20 unterstreicht in diesem Sinn, dass "allein die Jünger - und damit die matthäische Gemeinde - Ansprechpartner Jesu" sind (45). Nur sie können auch den hier dargestellten Zusammenhang zwischen Jesu öffentlichem Auftreten und seiner Passion verstehen als letzte Bestätigung der Gottessohnschaft, durch welchen das Heilshandeln zur Vollendung kommt.

Ein (kürzerer) zweiter Abschnitt analysiert sorgfältig die Struktur von Mt 9,9-13, um dann in einem dritten Teil die Einzelverse im Zusammenhang ausführlich zu interpretieren und dabei auch wichtige Bezüge zu anderen Texten des Evangeliums zu erläutern. Ein erster Schwerpunkt ist die von Mt vorgenommene Verbindung der Zöllnerberufung mit dem Zwölferkreis. Dabei wird - in Kombination mit der Kontrastgeschichte vom reichen Jüngling (Mt 19,16-22) sowie der Namensdeutung in Mt 1,21 - das Motiv der Nachfolge in einen unmittelbaren Zusammenhang mit der Sündenvergebung gebracht. Die sich anschließende Tischgemeinschaft mit dem Immanuel Gott mit uns bestätige dies, da sie als Aufnahme der Sünder in die Gemeinschaft mit Gott "Vollzug der Sündenvergebung" sei (131, vgl. 91 ff.). Das Hoseazitat in V. 13a sei in diesem Zusammenhang als Jüngerbeauftragung zu verstehen, während es für die Pharisäer ein Gerichtswort sei.

Im Blick auf Jesus wird zunächst seine Zuwendung zu den Sündern hervorgehoben; die bei Mt so auffällige Betonung des Tuns wird dem dann als "sekundäre Konditionierung des Heils" zugeordnet. Damit weist die matthäische Soteriologie eine Doppelstruktur auf: Einerseits beruht das Heil auf dem Eingehen in die Gemeinschaft der Nachfolger, die sich allein dem souveränen Ruf des Gottessohnes verdankt, andererseits ist es an die Erfüllung des Gotteswillens gebunden "als die neben der Berufung durch Jesus in die Jüngerschaft weitere notwendige Voraussetzung für das Eintreten in das Himmelreich" (145). Daraus aber folgt: "Einen für die Christen gegenwärtigen Indikativ des Heils kennt der Verfasser des Matthäusevangeliums demnach nicht" (146). Im Schlusskapitel wird deshalb der matthäischen Position attestiert, dass sie die Wirksamkeit des Handelns Jesu relativiert und damit - im Gegensatz zur Position des Paulus - die Heilsgewissheit und die Freiheit des Christen von sich selbst und zur Zuwendung zu Gott und den Menschen aufhebt.

Die Untersuchung besticht durch ihr Bemühen um exegetische und theologische Klarheit. Das Evangelium wird konsequent in den Blick genommen als frohe Botschaft von der durch Jesus Christus eröffneten Gemeinschaft mit Gott. Zugleich wird sehr scharf gesehen, wo Mt die eigene Frohbotschaft durch seine Einschränkungen und Konditionierungen relativiert. Dass der Vf. hier immer wieder um eine klare theologische Position ringt, gehört zu den unbestreitbaren Stärken der Arbeit.

Demgegenüber fällt es weniger ins Gewicht, dass einige Schlussfolgerungen doch gewagt erscheinen und ihre Begründungen nicht immer zwingend sind (etwa, dass das Bild vom Arzt wegen des Bezuges auf Ez 34 Jesus als den messianischen Heilsfürsten ausweist, oder die Interpretation der an die Gegner gerichteten Aussage von Mt 9,13a als Jüngerbeauftragung). Gravierender ist schon, dass das gesamte Evangelium aus der Perspektive einer Perikope gedeutet wird, der die anderen Texte zugeordnet werden. Dadurch werden weite Teile des Evangeliums nur am Rande und vor allem unter einem eingeschränkten Blickpunkt wahrgenommen, nämlich dem der Sündenvergebung. Diese dient dann ihrerseits als Vergleichspunkt mit der paulinischen Rechtfertigungsbotschaft, wobei erwartungsgemäß die Defizite ganz auf der Seite des ersten Evangeliums liegen.

Selbst wenn man dem theologischen Urteil zustimmt, dass Paulus die Konsequenzen von Kreuz und Auferstehung präziser erfasst hat, so wirkt doch letztlich die Reduzierung des Mt auf dieses Defizit unbefriedigend.

Welche Missverständnisse der Gnadenbotschaft haben den mit Kleinglauben und Gesetzlosigkeit in seinen Gemeinden ringenden Verfasser des Evangeliums bewogen, so stark neben den Zuspruch den Anspruch zu setzen? Kann man den Ernst der Nachfolge wirklich auf die Aufhebung von Heilsgewissheit reduzieren? Wäre nicht auch dann, wenn man theologische Sachkritik übt, noch einmal zu klären, was die particula veri dieser Theologie ist, die etwa in Gestalt der großartigen Reden die Kirche immer wieder segensreich wachgerüttelt und auf den Weg der Nachfolge gebracht hat? Endlich: Wenn das Hauptdefizit des Mt gegenüber Paulus in seiner Konditionierung des Heils besteht, dann hätte man sich gewünscht, dass in diesem Zusammenhang auf paulinischer Seite nicht nur soteriologische Spitzensätze wie Röm 5,1 und 2Kor 5,17 dem gesamten ersten Evangelium gegenübergestellt werden, sondern auch auf Stellen wie Gal 6,7-9 (oder auch 1Kor 6,9 f.; 10,12; Gal 5,21) eingegangen wird, wo der Apostel in Konfliktsituationen Warnungen formuliert, welche mit den matthäischen Konditionierungen gewiss nicht identisch, aber doch auch nicht so völlig von ihnen verschieden sind.