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Ausgabe:

November/2002

Spalte:

1187 f

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Klumbies, Paul-Gerhard

Titel/Untertitel:

Der Mythos bei Markus.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 2001. IX, 375 S. gr.8 = Beihefte zur Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft und die Kunde der älteren Kirche, 108. Lw. ¬ 98,00. ISBN 3-11-017120-1.

Rezensent:

Dieter Lührmann

Noch M. Dibelius und R. Bultmann, die Väter der Formgeschichte, hatten in Bezug auf das Markusevangelium recht unbefangen von Mythos gesprochen. Hieran knüpft Paul-Gerhard Klumbies in seiner 2000 in Hamburg angenommenen Habilitationsschrift an. Sein Forschungsbericht (Kap.1, 7-62) zeigt, wie dieser Begriff unter der Redaktionsgeschichte verloren gegangen ist und erst neuerdings wieder auftaucht. Er zeigt zugleich, wie stark die Formgeschichte als exegetische Fragestellung nicht zufällig der Dialektischen Theologie zuzuordnen ist, wenn vielleicht auch zu sehr der Erste Weltkrieg als Zäsur betont wird - auch der Expressionismus, auf den K. als parallele Erscheinung verweist, ist ja schon kurz nach der Jahrhundertwende zu finden. Doch muss über K.s Darstellung hinaus auch die nachfolgende Redaktionsgeschichte als theologische Frage, nämlich nach der Aktualisierung des Bekenntnisses, begriffen werden, wie im Übrigen ja auch die Leben-Jesu-Forschung des 19. Jh.s keineswegs untheologisch gewesen ist. Und ist nicht die von K. vor allem im amerikanischen Bereich verfolgte vorerst letzte Phase der Markus-Forschung als "narrative Theologie" bis hinein in Predigttheorien direkt aufgenommen worden?

Wie heute weithin üblich, gibt K. der Synchronie den Vorzug, sucht freilich eine "Brücke" zur Diachronie. In der Literatur finden sich neuerdings verstärkt auch Hinweise auf "die Bedeutung des Mythos bzw. mythischer Elemente oder Strukturen für das Verständnis der Evangelien" (50 f.), denen nachzugehen K. das eigentliche Ziel seiner Arbeit nennt (61). Das wirkt durch "bzw." und "oder" unscharf, und genau daraus entstehen in der Durchführung nicht unerhebliche Probleme.

Zunächst aber stellt K. in Kap. 2 (63-98) die Mythos-Theorien von Ernst Cassirer und Kurt Hübner im Anschluss an Definitionen in der neuesten Veröffentlichung zum Thema von J. Mohn1 dar. Wichtig daraus werden später vor allem das von Cassirer zusammengestellte Inventar möglicher mythischer Phänomene und bei Hübner die Begründung der Zeit im Mythos durch eine "Arché, ein heiliges Ursprungsereignis" (94).

Das 3. Kap. "Mk 1,1-16,8 als Erzählzusammenhang" (99- 146) geht aus vom letzten Vers 16,8 als Lektüreeinweisung und stellt die Darstellungsmittel auf der synchronen Textebene zusammen. Diese erweisen sich für K. im Wesentlichen als mythisch geprägt. Erhebliches Gewicht kommt dabei der Zeitstruktur zu. Dass Mk durchgehend im Präsens erzählt, interpretiert K. im Sinne der für den Mythos konstitutiven Aufhebung der Differenz zwischen den Zeiten. Ein Vorbehalt ist aber z. B. schon gegenüber seiner vorschnellen Kennzeichnung von Mk 14,22-25 als "Selbstvergegenwärtigung Jesu im sakramentalen Mahl" (138) anzumelden, da im Unterschied zu der Fassung von 1Kor 11, 23-25 bei Mk alle Züge der Wiederholung gerade fehlen, auch jede vergegenwärtigende Anrede ("für viele", nicht "für euch"). Noch schwerer wiegt, dass die häufige Verwendung von palin wohl kaum zur "ewigen Wiederkehr des Gleichen" im mythischen Sinne überhöht werden kann. Zusammen mit dem von K. nicht erwähnten etwa gleich häufigen kai euthys verknüpft es - viel harmloser - erinnernd einzelne Szenen miteinander.

Kap. 4 "Die Darstellung Jesu nach Markus", der umfangreichste Teil (147-302) des Buches, bringt eine synchrone Interpretation des ganzen Evangeliums, auffälligerweise nicht ohne von der vorgegebenen Perikopenabfolge abweichen zu müssen. Hervorgehoben werden jeweils mythische "Strukturen" bzw. "Gehalte" oder auch "Sequenzen", denen fast überraschend dann aber doch zunächst nur eine "dienende Funktion" zugestanden wird (284). Das ermöglicht manche erhellende Einsichten im Einzelnen; insgesamt leidet die Darstellung unter der zu unscharfen Themenstellung. Dass die angebliche Umkehrung der mythischen Ost-Orientierung im Markusevangelium ein ganz entscheidendes Gewicht bekommen soll (259 f.276.300.313), ergibt sich freilich erst, wenn man eine Karte "Jerusalem zur Zeit Jesu" heranzieht, nicht wenn man das Markusevangelium liest, dem für Jerusalem nahezu jede spezielle Ortskenntnis fehlt.

Erst Kap. 5 "Die markinische arche des Evangeliums - Zusammenfassung der Ergebnisse" (303-314) verrät das eigentliche Ziel der Arbeit: von 1,1 her das Evangelium zu verstehen als "Arché" im Sinne des Gründungsmythos für das gegenwärtige Evangelium von Christus: "Der Mythos stellt eine Gattung bereit, bei der die Geschlossenheit des Erzählganzen der inneren Einheit der integrierten Einzelelemente korrespondiert" (303). Ist insofern das Markusevangelium als "Arché" ein Mythos, liest es sich ein paar Seiten später jedoch so: "Dennoch lässt sich von der markinischen Darstellung insgesamt nicht sagen, sie sei ein Mythos. Der Erzähler bedient sich zur Entfaltung seines Anliegens einer Vielzahl mythischer Anschauungen" (312), und: "Der Tod Jesu markiert theologisch die Grenze der mythischen arche" (313). So scheint mir die Arbeit insgesamt in einer merkwürdigen Weise gescheitert an der unklaren Bestimmung von "Mythos" - die Väter der Formgeschichte verstanden darunter wohl schlicht "Göttergeschichten". Außer der semantischen und grammatischen Deutung, dass sich arche in 1,1 nicht auf den Beginn des Textes beziehe, bleibt vor allem strittig, ob denn von einem "Anfang" nur in einem "Gründungsmythos" erzählt werden kann und wie nicht a priori mythische Elemente in der Erzählung einzuschätzen sind, die ja in einer auch "vordergründig" plausibel entworfenen Welt spielt. - Ein ausführliches Literaturverzeichnis (315-354) sowie drei Register (355-375) schließen das außerordentlich gut redigierte Buch ab.

Fussnoten:

1) Mythostheorien. Eine religonswissenschaftliche Untersuchung zu Mythos und Interkulturalität, 1998.