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Ausgabe:

November/2002

Spalte:

1184–1186

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Heusler, Erika

Titel/Untertitel:

Kapitalprozesse im lukanischen Doppelwerk. Die Verfahren gegen Jesus und Paulus in exegetischer und rechtshistorischer Analyse.

Verlag:

Münster: Aschendorf 2000. VIII, 294 S. gr.8 = Neutestamentliche Abhandlungen, 38. Kart. ¬ 39,90. ISBN 3-402-04786-1.

Rezensent:

Christfried Böttrich

Der Prozess Jesu, der auch über die Grenzen der exegetischen Zunft hinaus stets mit großem Interesse wahrgenommen worden ist, hat im Laufe der Zeit eine kaum noch überschaubare Literatur hervorgebracht. Trotzdem sind nach wie vor zahlreiche Fragen offen geblieben. Je nachdem, ob man nach den historischen Rahmenbedingungen im "Vorfeld" fragt (z. B. P. Egger, Crucifixus sub Pontio Pilato, Münster 1997, vgl. ThLZ 124, 1999, 908-910), die Voraussetzungen jüdischer Rechtsprechung in den Blick nimmt (z. B. D. L. Bock, Blasphemy and Exaltation, Tübingen 1998, vgl. ThLZ 126, 2001, 162-164) oder die kommunikative Funktion der Verhörszenen untersucht (z. B. G. Holtz, Der Herrscher und der Weise im Gespräch, Berlin 1996, vgl. ThLZ 123, 1998, 854-856), ergeben sich dabei ganz unterschiedliche Perspektiven auf das Geschehen. Zugleich aber bewegen sich alle Forschungen auf diesem Feld zwischen den Spannungspolen einer zeitgeschichtlichen Einordnung des Prozesses einerseits und der literarisch-theologischen Akzentuierung seiner Darstellung andererseits.

Die Arbeit von E. Heusler, eine Würzburger Dissertation, wählt vor diesem Hintergrund einen verlockend einfachen (und einleuchtenden) Ansatzpunkt: Im Zentrum steht die Frage nach dem Prozesscharakter, den Lukas als Modell vor Augen hat bzw. seiner Erzählung zu Grunde legt. Dazu geben vor allem die markanten und von jeher diskutierten Eigenheiten des Berichtes in Lk 22 gegenüber der Mk-Passion Anlass. Ein Vergleich der Verfahren gegen Jesus und Paulus in der Gesamtkonzeption des lkn Doppelwerkes gestattet eine weitere Profilierung und Absicherung der jeweiligen Beobachtungen.

Die Grundthese der Arbeit lautet: Lukas schildert die beiden Kapitalprozesse gegen Jesus und Paulus nach dem Vorbild eines gegliederten Verfahrens, das der römischen Rechtspraxis seiner Zeit entspricht. Dafür bearbeitet er die mk Vorlage so, dass Ungereimtheiten getilgt, notwendige Elemente ergänzt und Abläufe korrigiert bzw. einander neu zugeordnet werden. Diese Überarbeitungen mit dem Ziel, das Bild einer im Grundsatz ordnungsgemäßen Rechtsprechung zu entwerfen, fügt sich zugleich seiner umfassenderen, wohlbekannten theologischen Konzeption ein: Von Jesus bzw. von den Protagonisten der Evangeliumsverkündigung geht keine Gefahr für das Imperium Romanum aus.

Das Hauptgewicht der Untersuchung liegt in Teil I auf einer sorgfältigen Analyse der beiden Gerichtsverfahren gegen Jesus (Lk 22-23) und Paulus (Act 21-26). Beide Erzähleinheiten werden dabei aufgelöst und in der Abfolge ihrer Einzelszenen parallelisiert: 1. das Vorverhör vor dem Hohen Rat, 2. die erste Verhandlung vor dem Statthalter, 3. die Einschaltung des jüdischen Königs, 4. die zweite Verhandlung vor dem Statthalter.

Dadurch gelingt es, die leitenden Prinzipien der Darstellung im unmittelbaren Vergleich sichtbar zu machen sowie das Modell einer trotz gelegentlicher (und situationsbedingter) Modifikationen gemeinsamen Prozessordnung herauszuarbeiten. Ausgangspunkt ist für jeden Schritt der Vergleich mit Markus im Hinblick auf den Prozess Jesu. Dabei wird deutlich: "Entscheidend löst sich der lukanische Verhandlungsbericht nicht dort von seiner Markusvorlage ab, wo er theologische, christologische oder soteriologische Aussagen im Blick hat. Seine größeren Abweichungen betreffen vielmehr den Verlauf des Prozesses, beziehen sich auf das gerichtliche Verfahren als solches." (2 f.) Was der Prozess Jesu bei Lukas als besondere Eigenheiten erkennen lässt - die Zusammenkunft des jüdischen Synedrions erst in den frühen Morgenstunden, der Verzicht auf Zeugenaussagen und das Fehlen eines Todesurteils in dieser ersten Verhandlungsrunde, die Eröffnung des Verfahrens vor Pilatus durch eine dreiteilige Anklage, die dreimalige Betonung der Schuldlosigkeit Jesu im Munde des Pilatus, schließlich die Einschaltung des Herodes Antipas in den Prozessverlauf - dies alles findet auch in dem Prozess gegen Paulus Entsprechungen und verrät eine genaue Kenntnis von und ein deutliches Interesse an Verfahrensfragen. Mit großer Sorgfalt beschreibt H. das narrative Geflecht beider Textkomplexe, wobei aus einer Fülle gediegener Detailbeobachtungen - die hier auch nicht andeutungsweise gewürdigt werden können - allmählich die große Linie eines stringent angelegten, absichtsvoll gegliederten und schlüssig durchgeführten Prozessverlaufes hervortritt.

In Teil II erfolgt dann in einer kürzeren, überblicksartigen Skizze die Präsentation des römischen Strafverfahrens der späten Republik bzw. der frühen Kaiserzeit mit dem Ziel, die bei Lukas ermittelten Züge des Prozessgeschehens im römischen Recht der Zeit zu verorten. Beraten durch die nach wie vor maßgebliche Studie T. Mommsens von 1887 werden dabei die wichtigsten Quellen (die Prozessreden Ciceros, die Edikte von Kyrene und die Korrespondenz zwischen Plinius und Trajan) zur Sprache gebracht. Hier erfolgt die Darstellung freilich so kompakt, dass sich die referierten Sachverhalte mitunter nur mühsam erschließen.

Zunächst erfolgt eine Bestimmung des grundsätzlich vorhandenen Spielraumes zwischen gesetzlicher Regelung und freier richterlicher Vollmacht - der gebundenen magistratischen Judikation und der nicht gebundenen magistratischen Koerzition. Als die entscheidenden Formen des Strafprozesses erscheinen sodann das Kognitions- und das Akkusationsverfahren. Die seditio, der Aufruhr gegen Rom, als das im Interesse der Arbeit zentrale Delikt, findet eine eigene Erörterung. Detailliertere Entfaltungen dieser Sachverhalte münden schließlich in eine schematische Zusammenfassung ein. Schon ein flüchtiger Blick auf die "Grundzüge eines Verfahrens des ordo" geben die vielfältigen Berührungen mit den lk Berichten deutlich zu erkennen. Genauer ist es dann nach dem Urteil der Autorin das römische Akkusationsverfahren, das Lukas als Schablone seiner Prozessdarstellungen gedient hat. Die wenigen Abweichungen oder Unstimmigkeiten, in denen sich die Richter über die Bestimmungen des ordo hinwegsetzen (so z. B. in der gelegentlichen Verletzung ihrer Neutralität oder in der vorübergehenden Delegierung der Prozessleitung an ihre jüdischen Kollegen), kommen durchgängig den Angeklagten zugute. "Der Vertreter Roms spricht sich nicht nur für ihre Loyalität aus, sondern setzt seine Auffassung auch noch in ein faires Verfahren um. Für Paulus als römischen Bürger mag dies als selbstverständlich anmuten, für Jesus als Provinzialen hingegen ist es weitaus mehr, als ihm rechtlich zusteht." (262) Dennoch werden beide Delinquenten letztlich verurteilt. Lukas ist dabei jedoch weniger an Schuldzuweisungen als an dem Aufweis des Heilsplanes Gottes interessiert: Auch und gerade ein ordnungsgemäßes Verfahren, das Wohlwollen der Richter sowie der ungerechtfertigte Ausgang folgen dem göttlichen "Muss".

Regelmäßige tabellarische Übersichten, mit erzählanalytischer Präzision erhobene Beobachtungen, gegliederte Zusammenstellungen von Argumenten sowie prägnante Zusammenfassungen der Ergebnisse werfen bei der Lektüre dieser Studie einen vielfältigen Gewinn ab. Zahlreiche Einzelheiten beider Prozessberichte erscheinen in einem neuen Licht. Die Forschungsgeschichte stellt keinen eigenständigen Abschnitt dar, sondern wird in dankenswerter Konzentration an den jeweils relevanten Stellen referiert. Ein dreifach gegliedertes Register (I. Stellen, II. griech. Wörter, III. Namen und Sachen) schließt den Band ab.

Die Untersuchung hat einen scheinbar nahe liegenden und dennoch überraschend neuen Gesichtspunkt in die Diskussion der lk Prozessberichte eingebracht und überzeugend entwickelt. Als Schlüssel für die erzählerischen Eigenheiten und damit auch für die theologischen Intentionen der lkn Prozessberichte wird die Wahrnehmung der Verfahrensfragen künftig mehr Aufmerksamkeit beanspruchen dürfen.