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Ausgabe:

November/2002

Spalte:

1180–1183

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Becker, Jürgen

Titel/Untertitel:

Maria. Mutter Jesu und erwählte Jungfrau.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2001. 319 S. m. 20 Abb. 8 = Biblische Gestalten, 4. Kart. ¬ 14,50. ISBN 3-374-01932-3.

Rezensent:

Paul-Gerhard Müller

Mit Spannung und nicht geringer ökumenischer Erwartung nimmt man dieses Buch des protestantischen Ordinarius em. für Neues Testament und Judaistik der Universität Kiel über das kontroverstheologisch brisante Thema "Maria" zur Hand, in dem er die historische Gestalt der Maria und die wachsenden Marienbilder im Urchristentum darstellt. Es geht ihm zunächst um die "frühjüdische Ehefrau des Josef, die die Mutter Jesu war, und um die judenchristliche Witwe, die ihren ältesten Sohn verlor" (14). Dabei weiß der Vf. allzu gut, "daß das Thema Maria zu den ganz harten Nüssen in ökumenischen Gesprächen gehört" (28). Das der Lutherisch-Theologischen Fakultät Tartu/ Estland für die Verleihung der Ehrendoktorwürde gewidmete Buch richtet sich an einen weiteren Leserkreis von Laien und verzichtet daher auf fachspezifische bibelwissenschaftliche Auseinandersetzungen mit anderen Auffassungen in Detailfragen und auf einen kritischen Apparat (41 Quellenangaben in Fußnoten), verzeichnet aber S. 315-317 weiterführende Literatur zum Thema und bringt insgesamt 20 Schwarzweißabbildungen zum Thema "Maria" in der christlichen Kunst und Ikonographie vorwiegend des Mittelalters.

Nach einer Einführung über den ökumenischen und aktuellen Kontext des Themas "Maria" (11-28) behandelt der Vf. sein Thema "Maria - jüdische Mutter Jesu und von Gott erwählte Jungfrau" in vier Schritten. 1. Der irdische Jesus in Distanz zu seiner eigenen Familie, wobei er "Spuren in der Logienquelle und im Passionsbericht" und "Alte Traditionen zur Verwandtschaft Jesu" darstellt (29-52). Dann geht er auf den eigentümlichen exegetischen Befund "Maria unter dem Schweigen der ersten urchristlichen Generation" ein und beschreibt die lukanische Vorstellung von "Marias Anschluß an die Jerusalemer Urgemeinde" sowie "Marias Abwesenheit in den paulinischen Briefen" (53-80). Der Schwerpunkt der Studie liegt daher naturgemäß auf dem dritten Kapitel "Maria als Thema der zweiten und dritten urchristlichen Generation", weil hier nacheinander das Zeugnis des Markusevangeliums ("die abseits zu Jesus stehende Maria"), des Matthäusevangeliums ("die Jungfrau Maria als Mutter des Immanuel"), des Lukasevangeliums ("Ansätze zu einer Lebensgeschichte Mariens, biographische Perspektiven") und des Johannesevangeliums ("Maria als Mutter des gesandten Sohnes, Präexistenz und Inkarnation") analysiert werden, wobei auch Offenbarung 12 ("die mit der Sonne bekleidete Frau") und das dogmatische Zeugnis des Kirchenvaters Ignatius von Antiochien (110) in seinen Briefen ("inkarnatorische Christologie und Jungfrauengeburt" [80-233] behandelt werden.

Hatte der Vf. damit schon den vorgegebenen Rahmen des kanonischen Neuen Testaments durch den Ausblick auf die weitere Entwicklung des Themas bei den Apostolischen Vätern überschritten, so geht er nun im vierten Kapitel ausführlich auf die Wirkungsgeschichte des neutestamentlichen Befundes in der Folgezeit "Vom Ausgang des Urchristentums bis zu Irenäus" ein, indem er die Entfaltung und erhebliche Anreicherung des frömmigkeitsgeschichtlichen Motivfeldes "Maria" in den Texten der Gnosis und der neutestamentlichen Apokryphen und Pseudepigraphen (nichtkanonische Spätschriften) sowie bei den Kirchenvätern Justin dem Märtyrer (165) und Irenäus von Lyon (200) zur Darstellung bringt (233-303).

In einem ebenso prägnanten wie provokativen Schlussabschnitt seines Buches geht der Vf. auf "Maria als Thema in der heutigen Ökumene" ein (304-314), was sowohl evangelische wie katholische und orthodoxe Christen nicht ohne umkehrbereite Gewissenserforschung lesen sollten. Er bietet eine kompakte Bestandsaufnahme heutiger mariologischer Positionen, wobei auch das islamische Marienbild in Koran und Hadith nicht ausgeklammert bleibt (279 ff.).

Zweifellos ist der Vf. auf Grund seiner international und interkonfessionell hoch anerkannten Kommentare und anderen Fachpublikationen zum Neuen Testament, vor allem seines Paulus-Buches von 1989 (31998) und seines Jesus-Buches von 1996, für sein Vorhaben, das Thema "Maria" im Neuen Testament und in der frühkirchlichen Literatur bis etwa 200 darzustellen, bestens gerüstet und qualifiziert, so dass es keine Frage ist, dass dem umfassenden und differenzierten Befund zur Grundlegung einer Mariologie und einer christlichen Marienfrömmigkeit und -verehrung über alle Konfessionsgrenzen und Eigentraditionen von Kirchen, Bewegungen und Gemeinschaften hinaus weitgehend zuzustimmen ist.

Durch das Studium dieses anregenden Buches und bei der kritischen und offenen Auseinandersetzung mit seinen immer ausgeglichenen und verantworteten Forschungsergebnissen und Thesen werden sich jene Christen, denen Marienfrömmigkeit prinzipiell suspekt bis ablehnungsbedürftig ist, schlicht und einfach mit dem eindeutigen biblischen Befund konfrontiert sehen müssen, wobei auch die Wirkungsgeschichte dieses Befundes in der nachneutestamentlichen Ära der Frühkirche nicht übersehen oder blindlings abgetan werden darf, während jene Christen, denen eine überhitzte Marienverehrung nachgesagt wird, indem sie Maria als Miterlöserin oder gar Maria in Präexistenz (Michaelsvereinigung) begreifen, durch diese sachlich-nüchterne wie ernüchternde Grundinformation wieder auf den Boden der Tatsachen biblisch-kanonischer wie frühkirchlich-nachapostolischer Textaussagen zurückgeführt werden, denen kirchliche Dogmengeschichte und liturgische Frömmigkeitsgeschichte aller Kirchen und Konfessionen immer verpflichtet bleiben.

Der Rez. teilt die Vermutung des Vf.s, dass "Exegeten in nicht geringer Zahl über die Konfessionskirchen hinweg zur neutestamentlichen Maria weitgehend gleiche Ansichten vertreten" (9). Berechtigt und notwendig ist auch die Grundsatzentscheidung des Vf.s, sein Thema über das Neue Testament hinaus bis etwa 200 zu verfolgen, weil damit wichtige Ansätze für die spätere Dogmenentwicklung in den Blick genommen werden (11), vor allem aus dem Protevangelium des Jakobus, dem ersten ausgesprochenen Marienevangelium, mit dem sich "das mariologische Interesse in eindeutiger Weise verselbständigt", indem nun Ma-rias Person und ihre Verehrung im Brennpunkt stehen, so dass die Mariologie die Christologie verdrängt. Maria wird als heilsgeschichtlicher Antitypos die neue Eva. Dabei werden kultisch-sexuelle Reinheit und Sexualaskese als dominante Parameter eingesetzt (275). Der pädagogisch versierte Vf. vermittelt dem Leser auch immer wieder unumgängliches Einleitungswissen, um Schriften und Aussagen historisch und theologiegeschichtlich in den Rahmen des Urchristentums und der Frühkirche einordnen zu können. Auch die religionsgeschichtlichen Querverweise auf den antiken Artemis- und Isiskult sind erhellend.

Dass katholische dogmatische Theologie die Brüder und Schwestern Jesu in Mk 3,31-35; 6,1-6 als Verwandte Jesu deutet, das Verhältnis von "Schrift und Tradition" anders sieht als das "Sola Scriptura" der Reformation und eine Reihe Mariendogmen hervorbrachte, die die Protestanten nicht schätzen, bleibt zwar weiterhin trennend zwischen den Kirchen stehen, kann aber durch den Mitvollzug der Untersuchungen dieses Buches in gegenseitiges versöhnliches Verstehen übergeführt werden (15). Dasselbe gilt von Ansätzen im jüdisch-christlichen Gespräch, in Maria die Personifikation Israels als Tochter Sion (Jes 66,7-14; Zef 3,14-20) zu sehen (Franz Mußner; Josef Ratzinger) (vgl. 23), oder Marien-Texte befreiungstheologisch oder feministisch zu interpretieren: Maria als Urbild befreiter Schöpfung und als Protagonistin im Kampf um Befreiung der Armen, Unterdrückten und Ausgebeuteten, gegen männlich-patriarchale Strukturen (Leonardo Boff, Luise Schottroff).

Stellt der Vf. zutreffend fest: "So gehört die Mariologie immer noch in den Kernbereich des Trennenden zwischen den Kirchen" (306), so hätte er notieren können, dass katholische Theologen gegenwärtig erwägen, die beiden neueren Mariendogmen in konsequent anthropologischem Sinn zu deuten: Das Dogma von der Unbefleckten Empfängnis von 1854, gegen Rationalismus und Aufklärung, die eine Erlösung des Menschen von Urschuld und Sünde leugneten, gerichtet, betone: Alle Menschen verdanken ihr Heil allein dem Mittler Jesus Christus; sie sind erlöst allein aus Gnade und allein durch Glauben. "Maria ist Urbild gelingender Rechtfertigung" (Karl Barth, Credo, 65). Und das Dogma von der leiblichen Aufnahme Mariens in den Himmel von 1950 betone gegen den praktischen und dialektischen Materialismus und angesichts der Millionen von Toten des II. Weltkriegs die Hoffnung auf die Auferstehung der Toten und das ewige Leben. So könnten diese Dogmen auch von Protestanten und anderen positiv zur Kenntnis genommen werden und keine kirchentrennenden Gegensätze mehr darstellen (H. Schütte [Hrsg.], Im Dienst der einen Kirche, Frankfurt/M. 2000, 225).

Zu erwähnen wäre auch, dass manche extremen marianischen Lebensformen, wie etwa Pater Kentenichs Schönstattbewegung, auch in der katholischen Kirche umstritten waren und sind. Froh sein dürfen protestantische Kirchenleitungen auch darüber, dass sie nicht mit der pastoralpsychologischen und medienpolitischen Problematik von ständig neuen Marienerscheinungen, wie etwa Medjugorje oder Marpingen/Saar im Bistum Trier, belastet sind und die Auseinandersetzungen mit den dahinter stehenden Priestern und Laien und deren kommerziellen Interessen an einem Wallfahrtstourismus durchfechten müssen.

Protestanten, Katholiken, Orthodoxen und anderen an dem Thema "Maria - die jüdische Mutter Jesu" Interessierten, sei das Studium dieses klaren und informativen Buches empfohlen, sofern sie am Abbau zählebiger Vorurteile und unzutreffender Vermutungen betreffs "Maria" interessiert sind und ein ökumenisch tragfähiges Marienbild suchen.