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Ausgabe:

November/2002

Spalte:

1177–1179

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Laenen, J. H.

Titel/Untertitel:

Jewish Mysticism. An Introduction. Transl. by D. E. Orton.

Verlag:

Louisville-London-Leiden: Westminster John Knox Press 2001. XIV, 292 S. m. 3 Abb. gr.8. Kart. US$ 19,95. ISBN 0-664-22457-1.

Rezensent:

Giuseppe Veltri

Einleitungen in bestimmte Forschungs- und Lehrgebiete sind immer willkommen, weil sie sich der undankbaren Aufgabe unterziehen, das gesamte Material einer Disziplin zusammenzufassen. Alle sind wir Gershom Gerhard Scholem dankbar, dass er uns erstmals und umfassend in die Welt der jüdischen Mystik eingeweiht hat. Kritik an seinem Unternehmen ist so verbreitet wie billig, nachdem er den Weg durch das verworrene, oftmals nur in seltenen Drucken oder Handschriften befindliche Material geebnet hat. Doch auch trotz seiner bahnbrechenden Studien lässt sich nicht gerade behaupten, dass seine Nachfolger es leicht hätten: Noch immer liegt das meiste Material nur in Handschriftenform oder seltenen Drucken vor; es fehlt zudem an guten Übersetzungen in moderne Sprachen und vor allem an Einleitungen, die den status quaestionis für Kenner und interessierte Laien beschreiben sowie bibliographische Hinweise bereitstellen. Dies nun hat sich J. H. Laenen zur Aufgabe gemacht. In seiner Einleitung in die jüdische Mystik ist er bemüht, einen umfassenden Überblick über die verschiedensten Epochen und Bereiche der jüdischen Mystik zu bieten. Nach einem einleitenden Kapitel behandelt der Autor folgende Schwerpunkte: die jüdische Mystik der Antike (18-44); die "klassische" Kabbala (45-142); die Lurianische Kabbala (143- 188); die Kabbala von Shabtay Zevi (189-214) und den Chassidismus (215-250). In einem abschließenden Kapitel wird die mystische Sprache thematisiert.

Das Buch versteht sich als Brücke zwischen der wissenschaftlichen und der populären Literatur über das Thema. Aus diesem Grund fügt der Autor am Ende des Buches einen Anhang über populäre Literatur zur Kabbala an: Dort begegnen wir Reuchlin (!) und Cornelius Agrippa von Nettesheim neben Eliphas Lévi und Arthur Edward Waite. Der Autor ist sich wahrscheinlich nicht darüber im Klaren, dass christliche Kabbala und populäre mystische und esoterische Wissenschaft zwei verschiedene, wenn auch auf mannigfache Weise miteinander verflochtene Wissenszweige sind. L. betont zwar, dass Reuchlin "considerable knowledge of kabbalistic teaching" besessen habe (263), erwähnt ihn aber dennoch in dieser eher verwirrenden Liste. Andererseits sollte man sich nicht so abwertend über die christliche Kabbala äußern, da von den jüdischen Kabbalisten zu christlichen Denkern von Pico, Reuchlin, Paolo Ricci, Postel bis hin zu Molitor, einem der geistigen Lehrer Scholems, eine nicht immer klar definierbare, aber unleugbare Linie besteht. Schließlich hat sich Scholem höchstpersönlich als "Reuchlin redivivus" bezeichnet. Die Erforschung der Bedeutung der christlichen Kabbala für die europäische Geistesgeschichte insgesamt bleibt trotz sehr guter umfassender Studien ein Desideratum.

L.s Einleitung, die sowohl Spezialisten als auch Nichtspezialisten bedienen möchte, gerät leicht in die Gefahr, weder die einen noch die anderen zufriedenzustellen: Für die Ersteren ist das Buch zu allgemein geraten, für die Letzteren wiederum zu spezifisch. Andererseits möchte ich doch mal eine Lanze für die Spezialisten brechen, da nicht selten, sogar fast immer die genauere Analyse einer Lesart zum hermeneutischen Gesamtbild beiträgt. Ich erwähne nur ein Bespiel. Der Adept der Thronwagenmystik (yored merkava in der Hekhalot-Literatur) wird folgendermaßen beschrieben (Text nach der deutschen Übersetzung in Übersetzung der Hekhalot-Literatur, hrsg. von P. Schäfer et al., Tübingen 1987, 238-239): "Ich sah (einen) wie Hashmal. Er verbindet sich und erhebt sich und wählt aus unter den yorde merkava, sei es, dass (einer) würdig ist, zur Merkava hinabzusteigen, sei es, dass (einer) nicht würdig ist, zur Merkava hinabzusteigen. Wenn er würdig ist, zur Merkava hinabzusteigen - wenn sie zu ihm sagen: Geh hinein, er (aber) nicht hineingeht, und sie wiederum zu ihm sagen: Geh hinein! Und er sogleich hineingeht, (dann) loben sie ihn: Gewiss, dieser ist (einer) von den yored merkava. Wenn er aber nicht würdig ist, zur Merkava hinabzusteigen, (und) wenn sie ihm sagen: Geh nicht hinein, und er (dennoch) hineingeht, (dann) werfen sie sogleich Eisenstücke auf ihn" ( 258). Nun: eine Handschrift korrigiert die zweite Einheit, diejenige die den unwürdigen Adepten betrifft: Die Anweisung der Engel lautet dort: "Geh hinein!" und nicht "Geh nicht hinein!". Der Unterschied ist theologischer Natur. Der ersten Lesart zufolge besteht die Aufgabe der Engel darin, die Adepten von den Scharlatanen zu unterscheiden; gemäß der anderen hingegen provozieren die Engel den Nichtadepten, sie sind ihm feindlich gesinnt, sie wollen, dass er in die Falle geht. Das Motiv der Feindschaft der Engel dem Adepten gegenüber ist wohl keine Erfindung des Schreibers, sondern bezeugt eine sehr einflussreiche Strömung innerhalb der frühen jüdischen Mystik, wohl gnostischer Natur, die Peter Schäfer in seiner Habilitationsschrift beleuchtet hat (Rivalität zwischen Engeln und Menschen. Untersuchungen zur rabbinischen Engelvorstellung, Berlin, New York 1975 [Studia Judaica. Forschungen zur Wissenschaft des Judentums, 8]). Sie spiegelt sich in einer kleinen Lesart wider.

Einige Fragen wirft auch die vorgeschlagene Bibliographie auf. Im Kapitel zur antiken Mystik führt L. Blau, Daxelmüller und Trachtenberg auf. Sie haben aber nicht viel zur Erforschung der antiken jüdischen Mystik beigetragen. Hier wäre eher ein Verweis auf die Beiträge von Peter Schäfer, Rebecca Lesses, Claudia Rohrbacher (und Klaus Herrmann) sowie Michael Swartz - um nur einige Namen zu nennen - zu erwarten gewesen, die sich gerade in Bezug auf die Hekhalot-Literatur und die jüdische Magie Verdienste erworben haben. Statt Daxelmüller hätte ich eher Marvin Meyer, Paul Mireski und Fritz Graf erwartet - vor kurzem ist gerade auch ein einschlägiger Band über das Thema veröffentlicht worden, der als das Handbuch folgender Generationen gepriesen wird (Matthew W. Dickie, Magic and Magicians in the Greco-Roman World. London: Routledge, 2001, siehe die Rez. in Bryn Mawr Classical Review 02.02.26, Internetversion; das hat aber L. wohl noch nicht kennen können).

Trotz dieser kritischen Anmerkungen kann man das Buch sicherlich zu den Werken zählen, die man im Unterricht erwähnen sollte. Ob aber L.s Einleitung "reliable informed and authoritative" ist - wie der Klappentext behauptet -, wird sich - das Letztere zumindest - am Grad seiner Rezeption zeigen.