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Ausgabe:

November/2002

Spalte:

1174–1177

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Hezser, Catherine

Titel/Untertitel:

Jewish Literacy in Roman Palestine.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2001. X, 557 S. gr.8 = Texts and Studies in Ancient Judaism, 81. Lw. ¬ 124,00. ISBN 3-16-147526-7.

Rezensent:

Friedrich Avemarie

Der Klappentext des Buches wirbt für "the first comprehensive study of Jewish literacy in antiquity", und das Beiwort "comprehensive" muss man sich dreifach unterstrichen denken; das Thema "literacy", "Schriftkundigkeit", ist hier so breit gefasst wie möglich. Wer konnte lesen im Judentum des antiken Palästina, wer konnte obendrein schreiben? Wozu war Schriftkundigkeit nütze, was hatte das Schreibenkönnen mit Bildung und Wohlstand zu tun, wie war es um die Schriftkundigkeit von Frauen bestellt? Was wurde geschrieben (und was nicht), womit wurde geschrieben, wie behalfen sich Analphabeten? All dies und vieles mehr behandelt Hezser mit einer Gründlichkeit und Sachkenntnis, die ihresgleichen suchen. Den geographischen und zeitlichen Rahmen bildet das Judäa bzw. Palästina der römischen und byzantinischen Zeit; die Quellenbasis besteht entsprechend aus rabbinischen Texten, den Werken des Josephus, einer Fülle archäologischer Zeugnisse (denen in der Bibliographie allein 10 Seiten gewidmet sind) sowie diversen religiösen Schriften der Spätzeit des Zweiten Tempels, einschließlich der Qumranfunde und des Neuen Testaments.

Das Buch ist dreiteilig angelegt. Der erste und umfangreichste Teil - dem noch eine Einführung mit forschungsgeschichtlichem Schwerpunkt vorangeht - behandelt die Rahmenbedingungen der Schriftverwendung: das Ausbildungssystem, die materiellen Ressourcen des Schreibens und der Buchkultur, sozioökonomische und religiöse Zusammenhänge und das Phänomen der Mehrsprachigkeit. Einige Kernergebnisse: Belege für einen Elementarunterricht, in der tannaitischen Tradition selten (48), mehren sich in amoräischen Texten; dieser Elementarunterricht, ursprünglich eine innerfamiliäre Angelegenheit (49. 59 ff.), wird mit der Zeit mehr und mehr von kommunal angestellten Lehrern übernommen (55 ff.) und vermutlich in Nebenräumen von Synagogen abgehalten (52 f.); er vermittelt Knaben die Fähigkeit des Toralesens und bereitet sie damit auf die aktive Partizipation an der synagogalen Liturgie (79) sowie auf ein mögliches späteres Talmudstudium vor (65 f.). Dass in diesem Unterricht über das Lesen hinaus auch Schreiben, Rechnen und weitere Fertigkeiten erlernt worden wären, lassen weder die literarischen noch die archäologischen Zeugnisse erkennen (72 f.85 ff.). Eine spezielle Schulung der Schreibfähigkeit ist nur bei professionellen Schreibern zu vermuten (79).

Eine breitere Bildung, die auch die griechische Sprache und Literatur umfasste (und unter Umständen bis zur griechisch-römischen Philosophie, Rhetorik und Jurisprudenz reichen mochte, 103), dürfte auf wohlhabende Familien der jüdischen Oberschicht beschränkt gewesen sein, in diesem Rahmen allerdings nicht nur Knaben, sondern in gewissem Grade auch Mädchen offengestanden haben (90 ff., u. a. zu yShab 6,1). Als zweite Umgangssprache neben dem Aramäischen war das Griechische allerdings auch unter Juden verbreitet; Evidenz bieten weniger die vielen griechischen Sprachelemente im Rabbinischen als vielmehr das epigraphische Material und die Brief- und Urkundenfunde aus der judäischen Wüste (232 ff., vgl. 287.329.395. 420).

Schriftliche Kommunikation war im Alltag eher die Ausnahme. Beim Memorieren kam es auf den Inhalt, nicht auf den Wortlaut an (204 f., vgl. 427 f.), und Verträge konnten nach rabbinischer Auffassung in aller Regel mündlich ebensogut wie schriftlich geschlossen werden (111ff.); auch Heirat und Scheidung bedurften keiner schriftlichen Form (116; wenngleich für eine geschiedene Frau der Besitz eines Scheidebriefs Voraussetzung für die Wiederverheiratung war, 301). Es bestand sogar ein gewisses Misstrauen gegenüber schriftlichen Urkunden, da sie als manipulierbar galten (117, vgl. 308 f.311). Schriftunkundigkeit war kein Makel; selbst gebildete Menschen brauchten nicht mehr als den eigenen Namenszug schreiben zu können, wenn sie sich im Übrigen professioneller Schreiber bedienten, die ihrerseits oft der untersten sozialen Schicht, dem Sklavenstand, angehörten (176 ff.). Beglaubigt werden konnten Dokumente auch von Analphabeten (denen das Dokument zuvor verlesen worden war); während die Rabbinen hierfür eine Signatur nach Schablonen oder das Nachziehen vorgezeichneter Schriftkonturen empfehlen (84), findet sich in den Dokumenten der Babatha und der Salome Komaise (frühes 2. Jh.) das Phänomen der stellvertretenden Unterzeichnung durch einen cheirochrestes (314.318.329.483 f.).

Weitere Themen dieses ersten Teils sind Schreibmaterialien, der Besitz von Büchern, öffentliche und private Archive, das Stadt-Land-Gefälle (das man H. zufolge nicht überschätzen sollte), das Verhältnis zwischen schriftlicher und mündlicher Tora, die Entstehung des Bibelkanons, die Verunreinigung der Hände durch heilige Schriften, die relative Autonomie der jüdischen Religion gegenüber der schriftlichen Tora und schließlich der magische Gebrauch heiliger Texte und anderen Schriftmaterials.

Die methodischen Zugänge sind höchst vielseitig. Neben den literarischen und archäologischen Belegen, auf denen naturgemäß das Hauptgewicht ruht, wird vielfach auch die pagane griechisch-römische Umwelt zum Vergleich genommen, und wo die Quellen versiegen, helfen Überlegungen zur sachimmanenten Plausibilität. So sind etwa "official scribal schools" für die Zeit nach 70 nirgends belegt, und ebensowenig liefern die Quellen "any evidence on the salary of Jewish scribes", aber aus sachlichen Erwägungen darf man dennoch davon ausgehen, dass die Ausbildung zum Schreiber üblicherweise "the form of an apprenticeship" im Betrieb eines "scribal master" hatte und dass die von berufsmäßigen Schreibern erhobenen Gebühren, auch wenn sie "in terms of an income" gering waren, ihren Klienten "rather high" vorkamen (124 f.).

Der zweite Teil, nur wenig kürzer als der erste, untermauert diesen mit einer Bestandsaufnahme dessen, was uns an Schriftzeugnissen des antiken palästinischen Judentums tatsächlich bekannt ist, sei es im Original, sei es durch Erwähnungen in der Literatur.

Das sind (1.) Briefe: die bei Josephus und in den rabbinischen Schriften erwähnten, dazu die Bar-Kochba-Briefe und weitere Funde aus der judäischen Wüste; meist handelt es sich um die Korrespondenz politischer, militärischer oder religiöser Führungspersönlichkeiten; (2.) Urkunden: wiederum die in der rabbinischen Literatur erwähnten, daneben die Archive der Babatha und der Salome Komaise und weiteres archäologisches Material, teils einfache, teils (gefaltete und vernähte) Doppelurkunden; (3.) Listen und Rechnungen, Etiketten und Namensschilder, Kurznachrichten (die meisten auf Ostraka von Herodion), Beschriftungen von Krügen und sonstigen Gegenständen; (4.) Inschriften auf Ossuaren (vornehmlich im 1. Jh.) sowie auf Sarkophagen und an Grabkammern (am häufigsten im 3./4. Jh., bevorzugt griechisch); Widmungsinschriften in Synagogen (3. bis 7. Jh., bevorzugt aramäisch oder hebräisch); (5.) literarische Texte, von religiösen Schriften aus der Zeit des Zweiten Tempels über Josephus und Justus von Tiberias (und eine breite Lücke im 2. Jh.) bis zur schriftlichen Fixierung der rabbinischen Überlieferung, wobei H. den Schwerpunkt auf Mischna und Talmud Jeruschalmi legt; und (6.) magische Texte, die freilich in dem hier betrachteten zeitlichen und geographischen Rahmen nur in geringer Zahl in Form von Amuletten existieren, bei denen ein jüdischer Kontext nicht immer gesichert scheint. Die detaillierten Referate und Diskussionen, die dieser zweite Teil bietet, dienen hauptsächlich zur Vertiefung der Ergebnisse des ersten Teils (s. oben zur Mehrsprachigkeit und zur Urkundenbeglaubigung durch Analphabeten); man kann diese 200 Seiten freilich auch als eine Art Inventar der antik-jüdischen Schriftdenkmäler mit besonderer Berücksichtigung der archäologischen Funde lesen; sie dürften sich dabei als ein Hilfsmittel ersten Ranges erweisen, jedenfalls, solange eine "complete database of all the existing material" (363, bezüglich der inschriftlichen Zeugnisse) noch ein Wunschtraum ist.

Der dritte, deutlich kürzere Teil handelt unter dem Titel "Participation in a Literate Society" von den Menschen, die sich des Mediums der Schrift bedienen: von den Lesenden, vom Lesen in Synagogen und Lehrhäusern, von privater Lektüre, vom lauten und stillen Lesen, dem Lesen von Dokumenten und Inschriften, von schlechter Beleuchtung und unleserlichen Schriftbildern, von der Angewiesenheit des Synagogenpublikums auf schriftkundige Vorleser, vom engen Wirkungsradius rabbinischer Schulliteratur und der Zurückdrängung häretischer Schriften; sodann von den Schreibenden, Diktierenden und fachkundigen Schreibkräften, von den zahlreichen, teils professionellen, teils dilettantischen Schriften der Qumrantexte, von rabbinischen Vorschriften zur Herstellung von Torarollen, Tefillin und Mesusot, von Amuletten, Urkunden, der stellvertretenden Signatur durch den cheirochrestes oder ypographeus (auf dessen Hilfe besonders Frauen angewiesen waren, die auch als Angehörige der Oberschicht meist nicht schreiben konnten), von Inschriften, die ihren Verfassern relativ viel, und Listen, Rechnungen und Aufschriften, die ihnen nur wenig an Schriftkompetenz abverlangten; und schließlich von den Sozialkontexten schriftlicher Kommunikation: Politik und Verwaltung, Rechtsverkehr, Wirtschaft, Freundschaft und öffentliche Ehrung.

Der Schlussabschnitt dieses dritten Teils schätzt anhand des Gesamtbefundes den Grad und die Streuung der Schriftkundigkeit in der antik-jüdischen Gesellschaft ab und bringt damit den Hauptertrag der Untersuchung auf den Punkt: Je nachdem, ob man einen Menschen schon als schriftkundig betrachte, wenn er einzelne Wörter und einfachste Sätze zu identifizieren und seinen Namen zu schreiben vermag, oder erst dann, wenn er ganze Texte wie Urkunden, Briefe und einfache literarische Formen versteht und über entsprechend entwickeltere Schreibfähigkeiten verfügt, sei die durchschnittliche "literacy" des antiken Judentums mehr oder weniger weit unterhalb der 10-15 Prozent anzunehmen, die sich für das kaiserzeitliche Rom (einschließlich des weiblichen Bevölkerungsteils) veranschlagen lassen (496). Die Gründe für diesen Rückstand des palästinischen Judentums werden in dessen ländlicher Prägung, der Einseitigkeit des jüdischen Elementarunterrichts, dem geringen Interesse an anderer Literatur als der Tora, dem rabbinischen Lehrmonopol, dem Fehlen öffentlicher Bibliotheken, der verbreiteten völligen "illiteracy" von Frauen und der rudimentären Ausbildung römischer Verwaltungsstrukturen vermutet. "The limitedness of the evidence for all types of writing cannot be explained away by reference to the general vicissitudes of document survival or the laziness of Israeli archaeologists, and the burden of proof rests upon those who argue that literacy was widespread amongst the Jewish population of Roman Palestine."

Über die Zweckmäßigkeit einer so großflächigen Evaluation mag man geteilter Meinung sein; möglicherweise wäre es sinnvoller, den Vergleich für die verschiedenen "types of writing" je für sich zu führen (und dabei auch die Besonderheiten archäologischer Fundkontexte wie Friedhöfe oder Fluchthöhlen sowie bei Urteilen zur Quantität die jüdische Besiedlungsdichte in Palästina einzukalkulieren); dann bliebe neben der Einsicht, dass es einen jüdischen Cicero nun einmal nicht gab (vgl. 256. 259), vielleicht deutlicher bewusst, dass sich umgekehrt den Funden von Qumran auf griechisch-römischer Seite kaum Vergleichbares gegenüberstellen lässt. Außer Frage steht jedoch, dass die vorliegende Untersuchung ihr abschließendes Fazit mit so viel Gründlichkeit erarbeitet hat wie nur möglich. Ebenso liegt auf der Hand, dass das Buch mitnichten nur um dieses Ergebnisses willen Interesse verdient. Es ist bei weitem reichhaltiger, informativer und anregender, als es diese Rezension anzudeuten vermag.