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Ausgabe:

November/2002

Spalte:

1172–1174

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Guggenheimer, Heinrich W. [Ed.]

Titel/Untertitel:

1) The Jerusalem Talmud. First Order: Zeraïm. Tractates Peah and Demay. Edition, Translation, and Commentary.

2) The Jerusalem Talmud. First Order: Zeraïm. Tractates Kilaim and Seviït. Edition, Translation, and Commentary.

Verlag:

1) Berlin-New York: de Gruyter 2000. XII, 648 S. gr.8 = Studia Judaica, 19. Lw. ¬ 148,00. ISBN 3-11-016691-7.

2) Berlin-New York: de Gruyter 2001. XIV, 677 S. gr.8 = Studia Judaica, 20. Lw. ¬ 148,00. ISBN 3-11-017122-8.

Rezensent:

Andreas Lehnardt

Die beiden Bände stellen die Fortsetzung der 2000 begonnenen englischen Übersetzung der Ordnung Zera'im des Jerusalemer Talmud dar - jenes Talmud also, in dem im Unterschied zum später redigierten Babylonischen Talmud die schriftgelehrten Traditionen, die in den Akademien des 3. und 4. Jh.s n. Chr. in Palästina gelehrt worden sind, aufgenommen wurden. Wichtig sind die vorliegenden Traktate des Talmud Yerushalmi vor allem, weil sie Kommentare zur Mischna und weitere Materialien bieten, die im Babylonischen Talmud nicht enthalten sind.

Die Traktate Pe'a, Dema'i, Kila'im und Shevi'it behandeln landwirtschaftliche Halakhot, die in Babylonien nicht beobachtet und (anscheinend) daher in den dortigen Lehrhäusern nicht studiert wurden: Der Traktat Pe'a ("Ackerecke") erläutert Bestimmungen in Lev 19,9 f.; 23,22 und Dtn 24,19-22 bezüglich der den Armen zu überlassenden Ecke eines Feldes; außerdem werden in ihm die auf Dtn 14,28 f.; 26,12 fußenden Gebote der Armenfürsorge ausgebreitet. Der Traktat Dema'i ("Zweifelhaftes") behandelt die rabbinischen Bestimmungen zu Naturalien, von denen es zweifelhaft ist, ob von ihnen die Zehnthebe und der zweite Zehnte für Leviten und Priester entrichtet worden ist. Dieser Traktat ist nicht nur wegen der Menge an Informationen über landwirtschaftliche Fragen interessant, sondern er enthält auch Nachrichten über die Grenzen des Heiligen Landes, die eine Parallele in der Inschrift der Synagoge von Rechov (gefunden nahe dem heutigen Bet Shean) haben. Kila'im ("Vermischtes") rekurriert auf die Verbote vermischter Gewächse, Tiere und Kleidungsstoffe ("sha'atnez") in Lev 19,19 und Dtn 22,9-11.

Shevi'it ("Siebentes [Jahr]") erläutert einige sich aus Ex 23,11 und Lev 25,1-7 ergebende Fragen bezüglich der Beobachtung des siebenten Jahres, in dem die Felder brach liegen und nach Dtn 15 die Schulden erlassen werden sollen. In der Gemara dieses Traktates wird u. a. die wichtige Verordnung des Prosbul durch Hillel erklärt, eine in der Mischna begründete Erklärung vor Gericht, die die Durchführbarkeit des Sabbatjahres erst ermöglicht zu haben scheint.

Wie der erste Band der Reihe, der den Traktat Berakhot (Segenssprüche) umfasst und dem eine traditionell gefärbte Einleitung in die talmudische Literatur, insbesondere des Talmud Yerushalmi, beigegeben ist, bieten die vorliegenden Bände den mischna-hebräischen und galiläisch-aramäischen Text des Yerushalmi mit einer (z. T. an den "palästinischen" Targumim orientierten) Vokalisation und einer englischen Übersetzung mit kurzen philologischen, historischen und realienkundlichen Anmerkungen. Der Vf. folgt in Aufbau und Art der Bearbeitung des Textes seinem bereits in seiner Übersetzung des Seder Olam Rabba (Seder Olam. The Rabbinic View of Biblical Chronology. Translated and with Commentary, Northvale NJ- Jerusalem 1998) eingeführten System der Gliederung in kleinere Sinneinheiten. Der Text der Gemara des Yerushalmi wird also nicht strukturiert wiedergeben, wie in der von J. Neusner edierten und zum größten Teil von ihm selbst übersetzten Reihe (The Talmud of the Land of Israel. A Preliminary Translation and Explanation, Chicago 1982-1994), sondern wie in der noch unvollendeten Tübinger Übersetzungsreihe (hrsg. von M. Hengel, P. Schäfer, H.-J. Becker und F. G. Hüttenmeister; bisher 25 Bände) nach inhaltlichen Überlegungen angeordnet.

Der Übersetzung der Gemara legt der Vf. die editio princeps (Venedig 1523) des nur in einem Manuskript (MS Leiden Or. 4720) vollständig erhaltenen Jerusalemer Talmud zu Grunde. An Stellen, an denen der Text verderbt ist oder offensichtliche (Druck)fehler aufweist, werden andere Handschriften und auch einige der bislang publizierten Fragmente aus der Kairoer Geniza sowie Zitate (Yalqut Shim'oni: Quntres aharon) und Kommentare einiger mittelalterlicher Autoren (Rishonim) und im Fall von Dema'i auch die Rechov-Inschrift zu Rate gezogen. Zumeist geschieht dies freilich, ohne die genauen Fundorte der Lesarten nachzuweisen und zu diskutieren (vgl. "Peah" 10, Anm. 10). Der Vf. geht, wie er in den Vorworten zu jedem Traktat stets festhält, davon aus, dass die "manuscript evidence" die meisten der in den traditionellen Kommentaren vorgeschlagenen Emendationen definitiv ausschließt. Allerdings zeigt sich gerade an den Geniza-Fragmenten, dass der Text des Yerushalmi nach der editio princeps durchaus an manchen Stellen verbessert werden muss, um ihn verständlich zu übersetzen.

Moderne Forschungsliteratur wird nur beiläufig berücksichtigt: Vgl. z. B. den Hinweis in "Shevi'it", 495 auf die Artikel von Y. Sussman, in: Tarbiz 43, 1974, 88-158; 45, 1976, 213-257; siehe die Zusammenfassung dieser Beiträge durch Sussman in: L. I. Levine (ed.), Ancient Synagogues Revealed, Jerusalem 1981, 146-151. Die traditionellen und modernen Kommentare (u. a. von S. Lieberman, Hayerushalmi Kiphshuto. A Commentary Based on Manuscripts of the Yerushalmi and Works of the Rishonim and Midrashim in MSS. and Rare Editions, Bd. I/1: Shabbath, 'Erubin, Pesahim, Jerusalem 1934 und ders., Tosefta Ki-Fshutah. A Comprehensive Commentary on the Tosefta. Order Zera'im, Jerusalem 1952 [hebr.]) werden ohne genauere Stellen- oder Seitenangaben erwähnt. Wie schon in der Einleitung in die talmudische Literatur im ersten Band der Reihe spiegelt sich in vielen Hinweisen ein traditionell geprägter Wissensstand wider, der internationalem wissenschaftlichem Standard nicht immer genügt.

Störend und zum Teil überflüssig in einer wissenschaftlichen Übersetzung des Talmud Yerushalmi sind auch Belehrungen über die heute übliche Halakha (vgl. z. B. "Peah", 5 Anm. 9; 13, Anm. 48) und recht willkürlich gegebene Hinweise auf mittelalterliche und neuzeitliche Minhagim (vgl. z. B. "Demay", 484, Anm. 19). Ebenso befremdlich wirken traditionsgeschichtliche Exkurse, die mit dem Inhalt der Gemara nichts zu tun haben (vgl. "Kilaim" 303, Anm. 83 mit einem Hinweis auf ein Heine-Gedicht). Auffällig ist auch die Vokalisation, die von der durch M. Kosovsky (Concordance of the Talmud Yerushalmi [Palestinian Talmud], bisher Bd. I- VII, Jerusalem 1979-1999) in die wissenschaftliche Literatur zum Yerushalmi eingeführten zum Teil stark abweichen. Besonders eigenartig ist die Punktierung des Titels "Ribbi" (in der Übersetzung durchgängig mit "Rebbi" wiedergegeben) statt des sonst üblichen "Rabbi". Einige philologische Anmerkungen sind dabei überflüssig, werden aber ständig wiederholt; vgl. etwa "Demay" 15, Anm. 54; ebd. 51, Anm. 180. Einige der von E. Guggenheimer beigebrachten Anmerkungen zu etymologischen Beziehungen zwischen arabischen und aramäischen Lexemen oder griechischen Lehnwörtern im Arabischen (vgl. "Peah" 73, Anm. 274) erscheinen ebenfalls fragwürdig. So interessant manche dieser philologischen Beobachtungen für sich genommen sind, zum Verständnis des Yerushalmi-Textes tragen sie wenig bei.

Ausgestattet sind die Bände mit Indices der biographischen Anmerkungen (nicht jedoch aller in Mischna und Gemara genannten Personen!), der Bibelstellen, der griechischen und lateinischen Lehnwörter, der hebräischen Wörter, deren arabische Äquivalente erläutert werden, sowie einem Register der modernen Autoren, der Ortsnamen und einiger Sachen. Vergeblich sucht man ein Verzeichnis der Parallelen in Mischna, Tosefta und Talmud Yerushalmi, das gerade im Hinblick auf die im Yerushalmi sehr häufig anzutreffenden Wiederholungen sehr wichtig wäre. Auf Parallelen wird vom Vf., wenn überhaupt, nur ungenau hingewiesen (vgl. "Peah", 8); häufiger anzutreffen sind dagegen die Hinweise auf Parallelen im Babylonischen Talmud, in denen sich allerdings oft eine andere Halakha als im Yerushalmi widerspiegelt.

Auf Grund einer genaueren Überprüfung einiger Angaben sind folgende Stellen zu korrigieren: Zu "Peah and Demay": 3, Anm. 3: statt "Lev 23:19" muss es "Ex 23:19" heißen; lies 102, Anm. 95 "libellarius" statt "libellaris". Öfter variiert die Transkription von "am haärez"; vgl. z. B. 604, Anm. 22. Anzumerken ist auch, dass zahlreiche Identifizierungen von Ortsnamen fehlen oder schlicht falsch sind: Vgl. 56 f. mit Anm. 208: bei "Rabbi Hanania Entanayah" handelt es sich um "Rabbi .Hananya aus En Tunya" (vgl. M. Kosovsky, Concordance of the Talmud Yerushalmi [Palestinian Talmud], Onomasticon - Thesaurus of Proper Names, Jerusalem 1985, 575; G. Reeg, Die Ortsnamen Israels nach der rabbinischen Literatur, BTAVO.B 51, Wiesbaden 1989, 483); 144 "Rabbi .Hanania Tortaya" muss es wohl "Rabbi Hanania aus Turtaya" heißen, d. h. aus einem Ort in Galiläa (s. Reeg, a. a. O., 624 f.); ebd. ist wohl mit Hs Leiden und der vom Vf. nicht erwähnten Parallele in yBB 9,9 (17a) statt "a man from Madon", "a man from Meron", d. h. einem Mann aus einem Ort in Galiläa, zu lesen (s. dazu bereits J. N. Epstein, Introduction to Amoraitic Literature, Babylonian Talmud and Yerushalmi, ed. E. Z. Melamed, Jerusalem - Tel Aviv 1962, 381; Reeg, a. a. O., 424). 327, Anm. 94 wird "Kufra" gelesen, was manchmal auch "Kifra" vokalisiert wird. Dieser Ortsname wird vom Vf. mit einem Ort im Süd-Libanon identifiziert; nach Reeg, a. a. O., 376 (u. a.) muss jedoch ein auch in yMeg 1,1 (70a,49) genannter Ort bei Tiberias gemeint sein.

Fazit: Deutschsprachige Leser sollten für die Traktate Pe'a und Dema'i auf die von G. A. Wewers (z. T. unter Mitarbeit von F. G. Hüttenmeister) vorgelegten Übersetzungen in der von M. Hengel und P. Schäfer u. a. herausgegebenen Reihe zurückgreifen. Sie bieten wissenschaftlichen Standards entsprechendere Anmerkungen, erläutern den schwierigen Text durchgängiger und verweisen stets auf die Parallelüberlieferungen im Yerushalmi und der übrigen rabbinischen Literatur. Die deutschen Übersetzungen bieten außerdem aktuellere Bibliographien, die die weitere Arbeit am Text erleichtern. Für die Traktate Kila'im und Shevi'it bieten zur Zeit nur die in der von J. Neusner herausgegebenen Reihe erschienenen Übersetzungen eine zuverlässigere Bearbeitung. Im Vergleich zu der Edition des Vf.s bieten die Bearbeitungen von I. J. Mandelbaum (Chicago 1990) und J. Avery-Peck (Chicago 1991) eine präzisere Kommentierung und erläutern die logischen und philologischen Probleme angemessener.

Mit ihren vokalisierten Texten und den recht wörtlichen Übersetzungen mögen die vorliegenden Bände also gelegentlich eine Hilfe für den Unterricht bieten. Für die judaistische Forschung stellen sie jedoch keine Alternative zu der wissenschaftlichen Edition der wichtigsten Handschriften und Drucke dar, wie sie nun in der Synopse zum Talmud Yerushalmi, hrsg. von P. Schäfer und H.-J. Becker, Tübingen 1991-2001 vorliegen.