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Ausgabe:

November/2002

Spalte:

1168–1171

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Schiffman, L. H., Tov, E., and J. C. VanderKam [Eds.]

Titel/Untertitel:

The Dead Sea Scrolls. Fifty Years after their Discovery. 1947- 1997. Proceedings of the Jerusalem Congress, July 20-25, 1997.

Verlag:

Jerusalem: Israel Exploration Society 2000. XXII, 970 S. m. zahlr. Abb. gr.8. Geb. US$ 104,00. ISBN 965-22-038-2.

Rezensent:

Matthias Albani

Das fünfzigjährige Jubiläum der Entdeckung der Handschriften vom Toten Meer war Anlass für die Veranstaltung einer Reihe von Fachkongressen, auf denen der Stand der Qumranforschung diskutiert und dokumentiert wurde. Dazu gehörte auch der Jerusalemer Qumrankongress vom 20. bis 25. Juli 1997 im Israel Museum, die größte Veranstaltung dieser Art, die jemals zu diesem Thema stattgefunden hat (350 Teilnehmer aus 25 Ländern, 125 Vorträge!). Dementsprechend voluminös ist auch der Kongressband, der auf beinahe 1000 Seiten nicht weniger als 94 Referate enthält.

Die durch die notwendige Beschränkung der Vortragszeiten bedingte Kürze der Beiträge (meist unter 10 Seiten) erlaubte den Autoren in der Regel nur eine Zusammenfassung ihrer jeweiligen Forschungsposition, die sie in anderen Veröffentlichungen ausführlicher dargestellt haben oder zu publizieren beabsichtigen. Der Band bietet damit einen guten Überblick über das breite und bunte Spektrum von Themen der Qumranforschung.

Zugleich dokumentieren die zahlreichen Beiträge den beeindruckenden Aufschwung der Qumranwissenschaft, die nach den heftigen öffentlichen Kontroversen um die schleppende Publikation der Schriftrollen Anfang der neunziger Jahre eine deutlich breitere internationale Basis bekam. Der vorliegende Band sowie zahlreiche andere Veröffentlichungen zum 50-jährigen Jubiläum (vgl. z. B. J. C. Vanderkam/P. Flint, The Dead Sea Scrolls after Fifty Years. A Comprehensive Assessment, 1998/ 1999, 2 Bde., ca. 1350 S.) zeigen eindrucksvoll, dass sich die Qumranforschung inzwischen zu einer eigenständigen und komplexen Forschungsdisziplin entwickelt hat. Die Bibliographie der Qumranforschungsliteratur von García Martínez und Parry umfasst 560 Seiten allein für die Jahre 1975-1995. Es ist daher nicht mehr möglich, diese Disziplin der alt- oder neutestamentlichen Wissenschaft sowie der Judaistik "anzuhängen" und sie nebenher zu betreiben, wie es vor allem in Deutschland noch Brauch ist. Vielmehr bedarf es eigener Lehrstühle oder Institute, die sich ausschließlich einem Forschungsgebiet widmen, das für das Verständnis der Bibel insgesamt wie für die Erforschung des antiken Judentums eine Schlüsselstellung erlangt hat.

Das umfangreiche Werk ist in sieben Hauptteile untergliedert, denen teilweise wiederum verschiedene Kapitel zugeordnet sind. Hier sei zunächst ein Überblick zum Inhalt des Bandes geboten:

Part I. The Hebrew and Greek Bible in Light of the Qumran Discoveries, Chapter 1. Qumran and the History of the Text (Beiträge von R. Fuller, R. S. Hendel, A. Lemaire, D. W. Parry, A. Rofé, S. Talmon, E. Ulrich, 1-59), Chapter 2. Biblical Interpretation at Qumran (Beiträge von G.J. Brooke, H. J. Fabry, W. M. Schniedewind, J. C. Vanderkam, 60-104), Chapter 3. The New Testament and Qumran (Beiträge von R. Bauckham, J. H. Charlesworth, J. J. Collins, M. Dacy, K. P. Donfried, J.Kampen, 105-169);

Part II. The Qumran Corpus, Chapter 1. The Nature of the Qumran Corpus (Beiträge von D. Dimant, St. J. Pfann, B. Thiering, E. Tov, 170-216), Chapter 2. Liturgical and Sapiential Texts (Beiträge von E. G. Chazon, T. Elgvin, D. Falk, D. J. Harrington, B. Nitzan, H. Stegemann, E. J. C. Tigchelaar, 217-292), Chapter 3. Themes in the Scrolls (Beiträge von M. A. Daise, J. Krasovec, A. Steudel, 293-340), Chapter 4. Texts, Readings and Multiple Editions of Qumran Texts (Beiträge von S. L. Berrin, E. Eshel/H. Eshel, F. García Martínez, C. Hempel, S. Metso, D.M. Pike/A. C. Skinner, M. Segal, A. Shemesh, E. J. Wilson, 341-417), Chapter 5. The "Apocrypha" and "Pseudepigrapha" at Qumran (Beiträge von J. A. Fitzmyer, E. Isaac, E. Larson, B. Zion Wacholder, B. G. Wright, 418-480);

Part III. History, Archaeology and Language, Chapter 1. The Qumran Texts and Early Judaism (Beiträge von J. M. Baumgarten, R. Gmirkin, D. Green, É. Puech, L. H. Schiffman, 481-557), Chapter 2. The Qumran Texts and Early Christianity (Beiträge von C. A. Evans, D. Flusser, H. W. Kuhn, G. Vermes, 558-586), Chapter 3. The Qumran Community (Beiträge von M. Bar-Ilan, L. Doering, H. K. Harrington, C. Martone, C. Werman, 587-630), Chapter 4. Archaeology (Beiträge von L. Cansdale, H. Eshel, R. A. Freund, R. Hachlili, Y. Hirschfeld, A. S. Kaufman, M. J. Leith, J. Magness, J. Patrich, R. Reich, J. Zias, 631-738), Chapter 5. Qumran Aramaic (Beiträge von U. Schattner-Rieser, M. Sokoloff, 739-754), Chapter 6. Women at Qumran (Beiträge von T. Ilan, S. Peterson, 755-772), Chapter 7. Eschatology and Messianism in the Qumran Texts (Beiträge von A. Aschim, J. Duhaime, J. Frey, A.Lange, 773-825);

Part IV. Texts from Sites Other than Qumran (Beiträge von D. M. Gropp, B. A. Levine, B. Porten, A. Yardeni, 826-874);

Part V. Dating, Restoration and Preservation of Qumran Texts (Beiträge von E. Boyd Alkalay/E. Libman, I. Carmi, É. Puech, C. P. Thiede/G. Masuch, 875-905);

Part VI. Perspectives (Beiträge von B. L. Segal, H. Shanks, N. A. Silberman, 906- 926);

Final Session (Beiträge von E. S. Frerichs, J. Aviram, F. M. Cross, H. Stegemann, E. Tov, 927-960).

Eine Abkürzungsliste und eine Liste der Autoren beschließen den Band. Da es nicht möglich ist, auf die einzelnen Beiträge angemessen einzugehen, können hier nur einige allgemeine Bemerkungen zum Stand der Qumranwissenschaft, wie er sich in den Jubiläumsbeiträgen widerspiegelt, angebracht werden.

Fragt man nach den Hauptthemen der Qumranforschung in den fünfzig Jahren bis 1997, so sind nach E. Tov, Editor-in-Chief des Dead Sea Scrolls Publication Project und Mitherausgeber des Bandes, vier Forschungsgebiete zu nennen: 1. Die Frage nach Wesen und Identität der "Qumrangemeinde" und ihrer Schriften, 2. die archäologische Erforschung der Qumransiedlung und ihrer Umgebung, 3. die Exegese der unterschiedlichen, in den Qumranhöhlen gefundenen Texte, und 4. die Beziehungen Qumrans zum frühen Christentum (958). Freilich bemerkt man, wie schwierig es für die Herausgeber war, angesichts der Vielfalt von Themen die Beiträge systematisch nach bestimmten übergreifenden Gesichtspunkten zu ordnen. Die Mehrzahl der Beiträge befasst sich mit speziellen Forschungsfragen, so dass der Band eher für Qumran-Experten zu empfehlen ist. Erschwert wird die Benutzung leider durch das komplette Fehlen von Registern!

Wer eine Orientierung über den aktuellen Stand der Qumranforschung sucht, der sei auf einige Beiträge allgemeineren Charakters verwiesen, die Tendenzen der Forschung aufzeigen und die bisherigen Ergebnisse zusammenfassen. In dieser Hinsicht sind besonders zu nennen: E. Ulrich, The Qumran Scrolls and the Biblical Text, 51-59; G. J. Brooke, Biblical Interpretation in the Qumran Scrolls and in the NT, 60-73; J. H. Charlesworth, Have the Dead Sea Scrolls Revolutionized our Understanding of the New Testament?, 116-132; D. Dimant, The Library of Qumran: its Content and Character, 170-176; G. Vermes, The Qumran Community, the Essenes, and Nascent Christianity, 581-586; und vor allem die beiden "Final-Session"-Beiträge: H. Stegemann, Qumran Challenges for the Next Century, 944-950 und E. Tov, Five Decades of Discoveries, Editions, and Research, 951-960. Freilich sind auch die genannten Beiträge, welche den Forschungsstand zu bewerten und zu bündeln versuchen, in den Einzelheiten deutlich von der persönlichen Forschungssicht des jeweiligen Autors geprägt. E. Tov hat die Forschungssituation mit dem Satz auf den Punkt gebracht: "A consensus has developed regarding many matters, and we have learned to disagree about even more." (959) Da nach der fast vollständigen Veröffentlichung der Qumranfragmente (vor allem in der Reihe Discoveries in the Judaean Desert, Abk.: DJD) die Interpretation der Texte neben ihrer Rekonstruktion zunehmend in das Zentrum der Forschungsbemühungen rückt, ist dies auch nicht anders zu erwarten. Die heftige öffentliche Kontroverse um die Bedeutung der Qumranfunde für das Verständnis des Neuen Testaments Anfang der neunziger Jahre war ein spektakuläres Beispiel dafür, wie unterschiedlich die Fragmente interpretiert werden können. In dieser Frage hat sich jedoch inzwischen ein weitgehender Forschungskonsens eingestellt: Man ist sich einerseits einig, dass die relevanten Qumrantexte das Verständnis neutestamentlicher Texte in entscheidender Weise bereichert und vertieft haben (vgl. Charlesworth, Brooke, Vermes sowie die anderen Beiträge in I,3 und III,2), doch stimmen andererseits die meisten Forscher auch darin überein, dass die Schriftrollen vom Toten Meer keine Zeugnisse des frühen Christentums sind. Die Qumrantexte haben gezeigt, dass die Schriften des Neuen Testaments trotz der Abfassung in griechischer Sprache im Hinblick auf ihre "major ideas" im Wesentlichen im Judentum verwurzelt sind (vgl. Charlesworth, 132) - eine Erkenntnis, die sich in der neutestamentlichen Wissenschaft inzwischen allgemein durchzusetzen scheint.

Unumstritten ist nun auch, dass zahlreiche nichtbiblische Qumrantexte nicht aus der "Qumrangemeinde" stammen können. Vielmehr enthält die "Qumran-Bibliothek" (vgl. Dimant, 170 ff.) die literarischen "major exponents of Second Temple Judaism" (Tov, 959) - z. B. Psalmen, Weisheitsliteratur, Bibelexegese, halachische Texte, eschatologische und apokalyptische Texte bis hin zu kalendarischen, astronomischen und astrologischen Abhandlungen. Damit haben uns die Qumranfunde ganz neue und oft überraschende Einblicke in die religiöse Vorstellungswelt des gesamten Judentums in der Zeit des zweiten Tempels gegeben. Freilich ist im Einzelnen oft strittig, welche der nichtbiblischen Texte "qumranischer Herkunft" sind bzw. zumindest der religiösen Sicht der Qumran-Gemeinde entsprechen. Im Hinblick auf die "sectariantexts" der nichtbiblischen Qumrantexte ist der Trend zu vermerken, dass zunehmend Fragen der Literaturgeschichte dieser Schriften untersucht werden, vor allem bei den spezifischen "community compositions" wie 1QS, 1QH, CD und 1QM (vgl. dazu die Beiträge unter II,4). Ein anderer wichtiger Trend ist seit Anfang der neunziger Jahre die Einbeziehung naturwissenschaftlicher Methoden und Techniken in der Qumranwissenschaft (z. B. neue digitale Phototechniken, physikalische Altersbestimmung C-14 und AMS, DNA-Analyse der Lederfragmente usw.). So wurden durch die Anwendung physikalischer Techniken bei der Datierung der Schriftrollen 80 % der paläographischen Datierungen bestätigt (vgl. Carmi, 888).

Ein kontroverses Hauptproblem ist nach wie vor die Identität der "Qumrangemeinde" (Essener, Sadduzäer, andere Gruppen?) sowie ihre Stellung und Bedeutung im damaligen Judentum (siehe dazu Stegemann sowie die Beiträge in III,3). Ein weiterer wichtiger Kontroverspunkt bezieht sich auf die Bedeutung der biblischen Qumrantexte für die Textgeschichte der hebräischen Bibel. Es ist deutlich geworden, dass der Masoretische Text nur eine von vielen Formen des biblischen Textes damals war. Welche Konsequenzen sich aus dieser Vielfalt jedoch für die Textentwicklung ergeben, ist umstritten (vgl. Ulrich und die anderen Beiträge in I,1). Auf jeden Fall haben die biblischen Qumrantexte unser bisheriges Bild der Textgeschichte nach Tov "greatly revolutionized" (959). Schließlich ist noch auf die Diskussion der archäologischen Befunde hinzuweisen (vgl. III, 4). Besonders im Hinblick auf die Ruinen der Siedlung von Qumran ist nach wie vor umstritten, worum es sich dabei eigentlich handelt (Essenersiedlung, Villa, Festung, ..., vgl. dazu Hirschfeld, 673 ff., Stegemann, 944 ff.). Die klassische Theorie von de Vaux wird dabei immer noch von den meisten Wissenschaftlern favorisiert.

Soweit einige Schlaglichter auf den aktuellen Stand der Qumranforschung, wie er sich in den Beiträgen des vorliegenden Jubiläumsbandes widerspiegelt. Das Werk ist eine Fundgrube für jeden an der Qumranwissenschaft Interessierten und sollte in keiner wissenschaftlichen Bibliothek fehlen.