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Ausgabe:

November/2002

Spalte:

1167 f

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Baeck, Leo

Titel/Untertitel:

Aus Drei Jahrtausenden. Das Evangelium als Urkunde der jüdischen Glaubensgeschichte. Hrsg. von A. H. Friedlander, B. Klappert, W. Licharz.

Verlag:

Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2000. 487 S. gr.8 = Leo Baeck Werke, 4. Geb. ¬ 99,00. ISBN 3-579-02337-3.

Rezensent:

Hans-Jürgen Becker

Der vierte Band der im Auftrag des Leo Baeck Instituts New York herausgegebenen Werkausgabe Leo Baecks enthält den vollständigen Text zweier im Jahre 1938 zuerst erschienener Bücher, deren Erstauflagen unmittelbar nach dem Druck von der Gestapo beschlagnahmt und größtenteils vernichtet wurden: den vom Schocken-Verlag angeregten und von Baeck selbst zusammengestellten Sammelband "Aus drei Jahrtausenden" (27-399) und die kleine Schrift "Das Evangelium als Urkunde der jüdischen Glaubensgeschichte" (401-471), ursprünglich Band 87 der Schocken-Bücherei.

"Aus drei Jahrtausenden" (nach der Epocheneinteilung Baecks: 500 v. bis 500 n. Chr.; 500 bis 1500; 1500 bis 2500) umfasst 22 Beiträge unterschiedlichen Gewichts, die fast alle bereits in den Jahren 1914 bis 1935 in verschiedenen Zeitschriften und Festgaben publiziert wurden - allein neun stammen aus der "Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums". Der längste und nach Baecks eigener Auffassung vermutlich wichtigste Beitrag, "Romantische Religion", wurde zuerst in der Festschrift zum fünfzigjährigen Bestehen der Berliner Hochschule für die Wissenschaft des Judentums im Jahre 1922 veröffentlicht (im selben Jahr wie die zweite Auflage seines Buches "Das Wesen des Judentums") und für den Band "Aus drei Jahrtausenden" um drei Kapitel ergänzt (Werkausgabe: 59-129). Ursprünglich hatte Baeck sogar die Absicht, die Studie zu einem eigenen Werk zu erweitern. In einer ausführlichen Beschreibung des idealtypisch als "romantische Religion" kategorisierten Christentums geht es hier letztlich um die Selbstvergewisserung des - im Gegensatz dazu - als "klassische Religion" dargestellten Judentums. Stärker als in den meisten anderen Beiträgen des Sammelbandes wird deutlich, wie sehr Baeck in seiner Zeit und für seine Zeit schrieb. Ist die im Blick auf das Christentum eingenommene Perspektive stark von der Schleiermacherschen Prägung des protestantischen Christentums beeinflusst, so repräsentiert das religiöse Ideal, das Baeck dem gegenüberstellt, ein auf Rationalität und Ethik basierendes jüdisches Selbstverständnis, das ohne Kant und Hermann Cohen in dieser Form nicht denkbar wäre. Die Wiederveröffentlichung (und sofortige Beschlagnahmung) von "Romantische Religion" im Jahre 1938 verlieh dem in ihr vertretenen, auf das Humanum zielenden Verständnis des Judentums eine 16 Jahre zuvor noch kaum vorstellbare Aktualität im Kontrast zu der menschenverachtenden Ideologie, die im Novemberpogrom ihre zerstörerischen Wirkungen zeigte und der damals auch Baecks Wirkungsstätte in der Fasanenstraße zum Opfer fiel.

Leo Baeck war in seiner Berliner Zeit nicht nur Gemeinderabbiner, sondern unter anderem auch Vorsitzender des Allgemeinen Rabbinerverbandes in Deutschland (seit 1922) sowie der Bnai-Berith-Logen (seit 1924) und in diesen Funktionen schon vor seiner Präsidentschaft in der "Reichsvertretung der deutschen Juden" (seit 1933) ein herausragender Repräsentant des deutschen Judentums. Angesichts der zahlreichen damit verbundenen praktischen Aufgaben dokumentieren Baecks Untersuchungen "Aus drei Jahrtausenden" eine in dieser Kontinuität und Qualität erstaunliche Vertiefung in Fragen der jüdischen Religionsgeschichte. Der Sammelband behandelt neben Grundsätzlichem ("Hat das überlieferte Judentum Dogmen?"; "Theologie und Geschichte"; "Romantische Religion"; "Judentum in der Kirche", 31-150) nicht nur wichtige Themen aus Hebräischer Bibel und rabbinischem Midrash (151-250), sondern auch Probleme der jüdischen Mystik ("Ursprung der jüdischen Mystik"; Studien zum Sefer Jezira und zum Buch Bahir, 251-291), der Religionsphilosophie ("Mittelalterliche Popularphilosophie", 292-341) und der religiösen Erziehung (345-376). Wenn vieles davon heute eher von forschungsgeschichtlichem als von aktuellem Interesse ist, so liegt das daran, dass die behandelten Gebiete in der Judaistik zum Teil sehr intensiv weiterbearbeitet wurden.

Im Jahre 1958 brachte der Tübinger Mohr-Verlag "Aus drei Jahrtausenden" in einer Neuauflage heraus, die - mit 20 Jahren Verspätung - den Beiträgen Leo Baecks zu neuer Aufmerksamkeit verhalf. Die hier besprochene Werkausgabe druckt im Anhang (479-487) auch die damals vorangestellte, lesenswerte Einführung von Hans Liebeschütz noch einmal ab.

Die Schrift "Das Evangelium als Urkunde der jüdischen Glaubensgeschichte" wurde zu einer Zeit geschrieben, in der man sich auf Seiten der "Deutschen Christen" - mit nicht geringer Resonanz in manchen theologischen Fakultäten - um eine "Arisierung" Jesu bemühte. Auf diesem Hintergrund erscheint Baeck in einer aus heutiger Sicht bewegenden Rolle als jüdischer Apologet des Evangeliums. Obwohl mit seiner historisch-kritisch fundierten Darbietung der "echten" synoptischen Jesusüberlieferung vor allem ein allgemeines jüdisches Publikum angesprochen und unterrichtet werden sollte, war sie doch durch ihre Rezeption der damals aktuellen Ergebnisse neutestamentlicher Wissenschaft auch ein Gesprächsangebot an die christliche Theologie. Wurde die Schrift ihrer Wirkung innerhalb des deutschen Judentums dadurch beraubt, dass man ihre Auslieferung 1938 weitgehend verhinderte, so war 1961, als sie nachgedruckt wurde, die neutestamentliche Forschung gerade auf dem Gebiet der synoptischen Tradition so weit fortgeschritten, dass die Rekonstruktion Baecks auch in dieser Richtung keine Wirkung mehr entfalten konnte. Das in ihrem Titel zum Ausdruck gebrachte Programm bleibt, unter veränderten Voraussetzungen, eine Herausforderung an die Zusammenarbeit von Judaistik und neutestamentlicher Theologie.