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Ausgabe:

November/2002

Spalte:

1165–1167

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Kaiser, Otto

Titel/Untertitel:

Die alttestamentlichen Apokryphen. Eine Einleitung in Grundzügen.

Verlag:

Gütersloh: Kaiser/Gütersloher Verlagshaus 2000. 106 S. 8. Kart. ¬ 19,95. ISBN 3-579-02661-5.

Rezensent:

Armin Schmitt

Die Lutherische und die Reformierte Kirche erkennt den deuterokanonischen Büchern oder Apokryphen, die nur noch in die griechische, aber nicht mehr in die hebräische Bibel aufgenommen wurden, nicht denselben Wert wie den anderen Büchern der Heiligen Schrift zu und hat sie deshalb - im Gegensatz zur römisch-katholischen und Orthodoxen Kirche - aus dem Kanon ausgeschieden. Ungeachtet dieser Tatsache verdankt die Exegese hinsichtlich der deuterokanonischen Schriften gerade evangelischen Forschern wertvolle und bleibende Beiträge. In Auswahl sei nur an die Kommentare von R. Smend zu Jesus Sirach (1906) und J. Fichtner zur Weisheit Salomos (1938) erinnert. Auch das zweibändige Werk von E. Kautzsch, Die Apokryphen und Pseudepigraphen des AT, das vor rund hundert Jahren erschienen ist und seitdem mehrere Neuauflagen erlebte, soll nicht unerwähnt bleiben. Trotz der genannten Veröffentlichungen, die bei verschiedenen evangelischen Exegeten Wertschätzung der deuterokanonischen Literatur erkennen lassen, blieb jedoch besagtem Forschungszweig größere Aufmerksamkeit von seiten der protestantischen Bibelwissenschaft versagt. In jüngster Zeit scheint sich allerdings eine Trendwende abzuzeichnen. Bereits zu Anfang der 90er Jahre forderte O. Kaiser ein Umdenken in der Bewertung der Apokryphen des AT: "Es ist an der Zeit, daß auch in der evangelischen Theologie das Fehlurteil über diese Schriften als den anderen biblischen Büchern nicht gleichwertig revidiert" wird (Grundriss der Einleitung I, S. 9); vgl. ferner H. Gese, Das biblische Schriftverständnis (BEvTh 78), S. 13; M. Müller, The First Bible of the Church (JSNT.S 206); H. Hübner, Die Weisheit Salomos, S. 15. Unter K.s Betreuung erschienen seither mehrere Dissertationen, die sich diesem zu wenig beachteten Forschungszweig widmen. Nun legt er selbst eine Einleitung zu den alttestamentlichen Apokryphen vor. Die herkömmliche protestantische Bezeichnung "Apokryphen" wählt er für den Titel des Buches, im Innern der Publikation hingegen entscheidet er sich für die treffendere Benennung "deuterokanonisch". (Eine Erklärung für die Präferenz von "deuterokanonisch" anstelle von "apokryph" liefert er auf Seite 8.)

Nach Inhaltsverzeichnis (5) und "Verzeichnis vielzitierter Werke" (6) gruppiert er die deuterokanonischen Bücher folgendermaßen: Einleitung (7-16). Geschichtswerke: 1. und 2. Makkabäerbuch (17-26); 3. Esrabuch (27-31). Erzählungen: Tobit (32-40); Judit (41-45); Zusätze zum griechischen Esterbuch (46-47); Zusätze zum griechischen Danielbuch (48-52). Prophetenbücher: Baruch (53-59); der Brief Jeremias (60-61); Überblick über die apokalyptischen Schriften mit Schwerpunkt des Äthiopischen oder 1. Henochbuches (62-68). Nachbiblische Psalmen: Die Apokryphen oder Syrischen Psalmen und das Gebet des Manasse (69-71); die Psalmen Salomos (72-78). Weisheitsbücher: Die Weisheit des Jesus Sirach (79-90), die Weisheit Salomos (91-106).

Vor dem Hintergrund neuester Forschungsergebnisse behandelt K. in gedrängter Form Fragen zum Text, zur Literar-, Form-, und Gattungskritik, zur Traditions- und Motivgeschichte sowie zur Entstehung, Datierung und Lokalisierung des betreffenden Buches. Mit Genugtuung nimmt man zur Kenntnis, dass bei den vielen kontroversen Sachverhalten, die sich zwangsläufig aus einem so breiten Forschungsfeld ergeben, der Vf. sorgfältig und souverän zwischen den einzelnen Positionen abwägt und zu einem aus heutiger Sicht verantwortbaren Schluss gelangt. Man weiß ja, um ein erstes Beispiel aufzugreifen, welche Probleme etwa mit einer literarkritischen Analyse des Tobitbuches verbunden sind. Hier steht der aramäische/hebräische Grundtext nur in Fragmenten (20 % des aramäischen und 4 % des hebräischen Textes sind abgedeckt) zur Verfügung. Daher müssen die literarkritischen Operationen nach heutigem Kenntnisstand anhand von griechischen (GI GII GIII) und lateinischen (Vetus Latina) Versionen durchgeführt werden. Daraus resultieren beträchtliche Unsicherheitsfaktoren. Als weiteres Beispiel sei die Datierung des Weisheitsbuches herangezogen. Überwiegend wird heute der Abfassungstermin dieses Buches auf Grund sprachlicher Indizien (spätbezeugte Vokabeln; besonders: diagnosis und kratesis) für die augusteische Zeit angesetzt. Man nimmt derartige Datierungsversuche jedoch wegen der Lückenhaftigkeit und Zufälligkeit der Überlieferung mit Unbehagen und Zweifel zur Kenntnis. Unsere griechischen Wörterbücher hätten sicher ein ganz anderes Aussehen, wenn alle Werke der großen griechischen Tragiker oder der hellenistischen Schriftsteller erhalten wären. Zur Warnung möge Sirach dienen: In der griechischen Version findet sich dort eine Reihe von Vokabeln, die erst für das 1. Jh. n. Chr. bezeugt sind. Hätten wir nicht das Vorwort des Übersetzers, so wären sicher nicht wenige bereit, die griechische Sirachübersetzung dem 1. Jh. n. Chr. zuzuordnen. Beide Beispiele sollen dokumentieren, welche Vorsicht bei Entscheidungen oft geboten ist.

Bewundernswert bleibt die gestraffte und verständliche Form der Darbietung dieser Einleitung. Dabei kann der Autor aus reicher Erfahrung als akademischer Lehrer schöpfen. Das didaktische Geschick wird nicht zuletzt aus dem Aufbau der einzelnen Abschnitte erkennbar, die sich aus "Lehrsätzen", "Zusätzen" und "Bemerkungen" zusammensetzen. Dadurch wird Übersicht und Klarheit erreicht. Jeder Benützer kann sich somit schnell und zuverlässig informieren.

Die bei den einzelnen Sektionen notierte weiterführende Literatur bietet eine wertvolle Hilfe für Detailfragen. Selbstverständlich darf man bei einer "Einleitung in Grundzügen" hinsichtlich der Literaturangaben keine Vollständigkeit erwarten. Dennoch sollen zwei Ergänzungen angeführt werden: Für die Zusätze zum griechischen Danielbuch (52): A. Schmitt, Die griechischen Danieltexte ("th" und o') und das Theodotionproblem: BZ 36 (1992) 1-29. Zum Buch Tobit (40): Ders., Wende des Lebens (BZAW 237), 146-183. (Hier wird die gesamte Achikarüberlieferung aufgelistet und diskutiert.)

In formaler Hinsicht entspricht K.s Einleitung höchsten Anforderungen. Drei geringfügige Versehen seien vermerkt: Auf S. 92 erfolgt die Abgrenzung Weish 10,1-11,1, während auf S. 92 und 99 die nämliche Einheit mit den Eckpunkten 10,1-11,4 notiert wird. Ferner: Cenury - century (100, Anm. 306); überlicherweise - üblicherweise (104).

K.s Schrift ist mit Nachdruck zu empfehlen. Dem Autor gebührt Dank, dass er nicht nur der exegetischen Fachwelt, sondern auch der gesamten Theologie eine so fundierte und transparente Einführung in die deuterokanonischen Bücher des AT geschenkt hat. Möge darüber hinaus vorliegendes Werk dazu beitragen, die literarische Schönheit und theologische Bedeutung dieser zu Unrecht vernachlässigten und teilweise wenig bekannten Texte einem größeren Leserkreis zu erschließen.