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Ausgabe:

November/2002

Spalte:

1161 f

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Ebach, Jürgen

Titel/Untertitel:

Noah. Die Geschichte eines Überlebenden.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2001. 249 S. m. 16 Abb. 8 = Biblische Gestalten, 3. Kart. ¬ 14,50. ISBN 3-374-01912-9.

Rezensent:

Markus Witte

Das für einen breiteren Leserkreis bestimmte Taschenbuch informiert ausführlich über den Helden der alttestamentlichen Sintfluterzählung in Überlieferung und Rezeption. Mittels eines synthetischen Zugangs, der Aspekte der klassischen historischen Kritik, der rabbinischen Exegese, der Wirkungsgeschichte und der leserorientierten Auslegung miteinander zu verbinden versucht, bietet der Vf. ein buntes Bild von Noah und seiner Geschichte, zu dem Ausführungen über die Flutüberlieferungen aus dem Alten Vorderen Orient ebenso gehören wie die Interpretation einzelner Gedichte von Hilde Domin oder Paul Celan.

Im Mittelpunkt des Buchs stehen elf unter der Überschrift "Darstellung" versammelte Exegesen ausgewählter Abschnitte aus Gen 5-9 (24-153). Dabei nimmt der Vf. freilich den gesamten Kontext der alttestamentlichen Fluterzählung in den Blick und bezieht punktuell die weiteren Abschnitte der biblischen Urgeschichte (Gen 1-4; 10-11) in seine Deutung ein. Die Auslegung ist über weite Strecken meditativ gehalten und mit zahlreichen, zum kreativen Nachdenken einladenden Wortspielen angereichert. In die Exegesen sind knappe, didaktisch sehr gut aufbereitete Exkurse zu chronologischen Angaben im 1. Buch Mose, zu wichtigen hebräischen Begriffen in Gen 5-9, zur hebräischen Namenskunde, zu zentralen theologischen Themen der Fluterzählung, zu den alttestamentlichen Gottesbezeichnungen, aber auch zu systematisch-theologischen Fragen (z. B. "Allmacht Gottes") und zu ethischen Problemen (z. B. "Bioethik") eingelegt. Die Darstellung des Vf.s besitzt in der Deutung von Gen 5-9 als einer "Lerngeschichte Gottes" (125) eine theologische Spitze, was allerdings u. a. auf den fraglichen Interpretationen der anthropologischen Aussage in Gen 8,21 als Abschwächung der Parallele in Gen 6,5 (109) und der Rede Gottes in Gen 9,1 ff. als "Halbierung des Segens" (122 f.), da nur Noah und seine Söhne, nicht aber deren Frauen angesprochen seien, beruht. Die vorgelegten Exegesen leben von einem intensiven Nachsprechen des Textes und seiner biblischen und außerbiblischen Kontexte, das immer wieder neue Dimensionen der Wahrnehmung des Textes und seiner Wahrheiten ermöglichen soll.

Kritik erhebt sich an der Darstellung der literargeschichtlichen Fragen (67 ff.), die der Abschnitt Gen 1-11 aufwirft. Hier referiert der Vf. die klassische Zweiquellentheorie, ohne auf eines der neueren Entstehungsmodelle, deren Kenntnis auch für Laien nicht bedeutungslos ist, hinzuweisen. Überhaupt kommt die Betrachtung der historischen Dimensionen der Fluterzählung trotz des Vergleichs mit den mesopotamischen Flutüberlieferungen und der leider nach wie vor unverzichtbaren Auseinandersetzung mit pseudowissenschaftlichen Versuchen, die Historizität der Sintflut zu "beweisen", zu kurz. Fragen nach der literargeschichtlichen Genese, nach dem soziokulturellen Umfeld, nach den Trägerkreisen und nach zeitgeschichtlichen Anspielungen in Gen 5-9 werden entweder ausgeblendet oder mit einem kurzen Hinweis auf forschungsgeschichtlich zumindest umstrittene Positionen abgehandelt (so beispielsweise in der kaum noch haltbaren Korrelation von Gen 9,26 f. mit der Zeit Davids [150 f.], vgl. dazu aber M. Witte, Die biblische Urgeschichte, BZAW 265, 1998, 316 ff., dort auch die Argumente gegen die vom Vf. wieder behauptete überlieferungs- und kompositionsgeschichtliche Linie zwischen Gen 5,29 und 9,20 [S.16], vgl. Witte, a. a. O., 102 ff. u. 207 ff.).

Der zweite, insgesamt kürzere Hauptteil des Buches widmet sich, ebenfalls in elf Abschnitte gegliedert, explizit der "Wirkung" der Noahfigur und der Noahgeschichte (154-239). Insgesamt trägt dieser Teil, der sich von Ausführungen über die frühesten Noah-Rezeptionen in den zwischentestamentlichen Schriften und im NT über die Darstellung der Noah-Symbolik in der mittelalterlichen Auslegung und Kunst bis hin zur Besprechung moderner Karikaturen erstreckt, noch stärker als der erste Teil Feuilletoncharakter. Dazu tragen auch die beherzigenswerten Reise- und Lektüreempfehlungen, vor allem aber die (kirchen-) politisch engagierten Statements und Gesellschaftsanalysen des Vf.s bei, die sich trotz oder gerade wegen ihres aktuellen Bezugs (das Manuskript des Buchs wurde im Herbst 2000 abgeschlossen [vgl. 219]), als zeitbedingt und angesichts der durch den 11. September 2001 ausgelösten Veränderungen als revisionsbedürftig erweisen (vgl. dazu beispielsweise die Ausführungen des Vf.s über den von ihm diagno- stizierten "pausbäckigen Optimismus" der gegenwärtigen Gesellschaft, 228).

Das auch stilistisch lesenswerte Buch hat seinen Hauptzweck sicher dann erfüllt, wenn es seine Leser u. Leserinnen mittels der präsentierten Lesarten zu einem neuen Lesen der Geschichte von Noah, dem Überlebenden, anregt und zu einer Einschreibung dieser vielschichtigen Dichtung in die eigene Lebensgeschichte ermutigt.

Abgeschlossen wird das kleine, aber tiefsinnige Werk mit einem Verzeichnis benutzter und weiterführender Literatur und der zehn (leider in relativ schlechter Druckqualität) gebotenen Abbildungen (240-249). Auch wenn angesichts der Zielgruppe des Buches und der "Flut" an Literatur zu Gen 5-9 eine Beschränkung auf ausgewählte Titel notwendig ist, fällt doch das Fehlen einschlägiger Werke auf. Zudem wäre, gerade im Blick auf den angestrebten Adressatenkreis, eine thematisch und methodisch orientierte Gliederung des Literaturverzeichnisses hilfreich. So stehen hier - darin allerdings dem synthetischen Konzept des Buches entsprechend - wissenschaftliche Kommentare, Textausgaben, Anthologien moderner Lyrik, exegetische Spezialaufsätze, Bildbände u. v. m. allein alphabetisch nach Verfassernamen sortiert hintereinander.

Korrekturhinweise: Das Buch weist fast keine Druckfehler auf. Allerdings ist auf S.119, Z.10, die Angabe der Bibelstelle ausgefallen; lies: "1. Mose 2". Noahs Arche landete nicht auf dem "Berg Ararat", sondern auf den Bergen Ararats (35, zutreffend dann auf 94). Die Begriffe "Utopie" und "utopisch" (120.126 u. ö.), die der Vf. auch zur Beschreibung des konstatierten Lernprozesses Gottes von einer Idealutopie hin zu einer Realutopie benutzt, erscheinen mir nicht nur in dieser Hinsicht, sondern auch im Blick auf die Idealvorstellungen der biblischen Urgeschichte und entsprechender eschatologischer Vorstellungen des AT zumindest missverständlich.