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Ausgabe:

November/2002

Spalte:

1156 f

Kategorie:

Altertumswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Andersen, Øivind

Titel/Untertitel:

Im Garten der Rhetorik. Die Kunst der Rede in der Antike. Aus dem Norw. von B. Mannsperger u. I. Tveide.

Verlag:

Darmstadt: Primus/Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2001. 335 S. gr.8. Lw. ¬ 39,90. ISBN 3-89678-195-2.

Rezensent:

Marius Reiser

Die Untersuchung biblischer Texte mit Hilfe der rhetorischen Kategorien der Antike und das, was man heute "rhetorical criticism" nennt, ist nach einer längeren Latenzzeit wieder in Mode gekommen. Die Initiatoren dieser Mode sprachen von einem neuen Ansatz; dann entdeckte man, dass das alles schon in der Renaissance da war, und demnächst wird sich zeigen, dass die Renaissance nur die Ansätze der mittelalterlichen Exegese fortführte und diese die der Kirchenväter, die wesentlich von dem zehren, was Origenes erarbeitet hatte. Wenn jemand das Verdienst zukommt, das Instrumentarium der antiken Rhetorik in die biblische Exegese eingeführt zu haben, dann ihm. Auf diesem Hintergrund ist eine umfassende Einführung in die antike Rhetorik wie die angezeigte höchst willkommen.

Die ersten vier Kapitel (25-200) behandeln die Sache (Kommunikation, Sprache und Stil, Mündlichkeit, Argumentation), die nächsten vier (201-307) gehen auf kulturgeschichtliche Aspekte ein (Rhetorik als Lehrfach, Verhältnis zur Philosophie, Ethik, Pädagogik, Gesellschaft). Abgerundet wird das Ganze durch eine Einführung, ein Nachwort von G. Ueding, ein Literaturverzeichnis, ein Stichwort- und ein Quellenregister.

Nun gibt es auch in deutscher Sprache gute Einführungen in die antike Rhetorik wie die von M. Fuhrmann (1990). A.s Einführung ist umfassender und anders angelegt. Der sachliche Hauptteil lässt sich die Disposition nicht von der antiken Systematik vorgeben (Redegattungen, Redeteile, Stilarten, Figurenlehre usw.), sondern bietet den gesamten Stoff nach problemorientierten Aspekten wie Kommunikation, Argumentation und Pädagogik. Dadurch entsteht nicht nur der "Garten" mit seinen verschiedenen "Beeten", sondern dadurch wird auch die Aktualität der antiken Erkenntnisse und Kategorien erst richtig deutlich.

Mit diesem Vorzug verbindet sich ein zweiter. A. schreibt klar und lesbar, ohne linguistische Barbarismen, in vorbildlich schlichter Stilart, und er schreibt interessant; die Lektüre ist ein Vergnügen. Die Übersetzung ist vorzüglich (bis auf den Neologismus "im Endeffekt" [27]). Die Darlegungen sind von vielen Zitaten aus den Quellen durchzogen; längere Zitate sind im Druck abgesetzt. Für die deutsche Übersetzung wurden sie von B. Mannsperger eigens neu übertragen. Die schönen Zitate über die Sprache als das eigentliche Humanum (274-277) sind gerade heute beherzigenswert, da man sich vielfach schwer tut, noch einen Unterschied zwischen Mensch und Tier zu finden. Alle Zitate sind nachgewiesen, Anmerkungen fehlen. (Man vermisst sie auch nicht.) Alle wichtigen Begriffe werden lateinisch und griechisch (in Umschrift) gegeben und erklärt. Sorgfältig ausgewählte Anekdoten erhellen die Sache und lockern auf (z. B. 46. 66.120.259 ff. über die Meister der zweiten Sophistik). Man trifft immer wieder auf Ausführungen zu Themen, die in den üblichen Handbüchern nicht vorkommen. So über das Pathos und seine ganz andere Wertung heute (45-48) oder über die Mündlichkeit der Kommunikation, die der antiken Kultur ein ganz eigenes Gepräge gab (95-138). Dazu gehören Stichworte wie Mnemotechnik, Vortrag, Ohr und Rhythmus, die Macht des Wortes. Bemerkenswert ist auch das Kapitel über Dialektik und Rhetorik, in dem es heißt: "Alle Argumente können bezweifelt und widerlegt, abgeschwächt und abgelehnt werden; das ist nun einmal die Bedingung der Rhetorik - und auch der Politik, des Rechtswesens, der Geschichtsschreibung und des täglichen Lebens" (150). Und auch der Exegese. "Sed non in dialectica conplacuit Deo salvum facere populum suum" (Ambr. fid. I 5, 42; CSEL 78/8, 18). Zum Glück.

Anschaulich zeigt der Vf., wie sich in der zweiten Sophistik "eine griechisch-römische und rhetorisch-philosophische Mischkultur" (264) herausbildet und bemerkt mit E. R. Curtius kritisch: "Die Rhetorisierung der Literatur war der verhängnisvollste Prozeß in der Entwicklung der antiken Rhetorik, denn dadurch wurden die Gattungsbegriffe, die Formenlehre und die Beispielsammlungen des künstlichen Systems der Rhetorik für die Literatur insgesamt maßgebend" (268). Zum Glück ist davon im Neuen Testament nichts zu finden.

A.s Buch gibt eine Vorstellung davon, wie weit unsere heutige Zivilisation in Europa von einer Kultur des Wortes entfernt ist und wie tief sie in dieser Hinsicht unter der Kultur der Antike steht. Die Zeit, die wir für den Umgang mit dem PC opfern, ist für die Kultur der Rede und damit für den Geist verloren. Und allzu viele Theologen sorgen dafür, dass der Logos immer mehr untergeht in der Polylogia.