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Ausgabe:

November/2002

Spalte:

1153–1156

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Pulikottil, Paulson

Titel/Untertitel:

Transmission of Biblical Texts in Qumran. The Case of the Large Isaiah Scroll 1QIsaa.

Verlag:

Sheffield: Sheffield Academic Press 2001. 240 S. u. Tab. im Anhang. gr.8 = Journal for the Study of the Pseudepigrapha Supplement Series, 34. Lw. £ 55,00. ISBN 1-84127-140-3.

Rezensent:

G. Wilhelm Nebe

Es handelt sich um die revidierte Fassung einer bei P. R. Davies an der Universität in Sheffield erstellten Dissertation (Ph.D.) des Vf.s aus dem Jahr 1995.

Die gängigen Bibelausgaben von Jesaja wie BHK, BHS und HUB(P) vermerken in unterschiedlicher Weise Textvarianten aus Jesa (HUB bietet die meisten), diese zumeist in Abhängigkeit von den (oft fehlerhaften) Transkriptionen Burrows. Eine systematische Arbeit zum Text und Textverständnis der HS Jesa ist schon seit langem ein Desiderat der Qumran- wie der alttestamentlichen Forschung. Die vorliegende Arbeit versucht mit großem Engagement und Scharfsinn diese Lücke zu schließen. Der Vf. will den Überlieferungsprozess (transmission) biblischer Texte in Qumran am Beispiel von Jesa aufzeigen und darüber hinaus die Schreibertätigkeit und -gelehrsamkeit im Judentum des 2. Tempels erhellen.

Für P. (wie für die meisten Interpreten von Jesa vor P.) gilt die Prämisse, dass der Text von MT in der HS Jesa vorausgesetzt ist und Jesa zur proto-masoretischen Textfamilie gehört. Nach P. ist die HS nicht von einem Kopisten (= Standardtext-Anhänger) erstellt, sondern das Produkt eines Schreiberzirkels, wo ein biblischer Text neugestaltet, paraphrasiert und sogar neugeschrieben werden konnte (36.204). Ein spezieller Schreiber handhabt einen speziellen Text in einer speziellen Zeit (40). Er wird zum Editor und über Qumran hinaus zum einzigartigen Zeugen für die Aspekte der Schreiberüberlieferung der Bibel. P. geht so vor, dass er eine einzigartige Lesung der Rolle identifiziert, zuerst technische und dann ideologische Implikationen bewertet und schließlich eine Synthese dieser drei Vorgehenselemente vornimmt, um auf die mögliche Herkunft der Rolle und ihre Beziehung zu anderen Texten aus demselben Zirkel bzw. Milieu zu schließen.

P. gliedert seine Arbeit in vier Kapitel: Nach dem forschungsgeschichtlichen Teil mit der Angabe des Ziels der Arbeit in Kap.1 (15-43) geht es in Kap. 2 (dem Hauptteil der Arbeit, 44- 129) um die Schreiberaktivität, in Kap. 3 (130-159) um den Interpretationsbeitrag des Schreibers zum Tradierten, um die traditio, und in Kap. 4 (160-199) um das Milieu des Schreibers und der Rolle. S. 200-215 fasst die Ergebnisse der Arbeit zusammen, und es folgt ein Appendix mit drei Tabellen. Die Arbeit ist durch ein Textstellenregister erschließbar.

P. hat mit J. C. Trevers Farbbildedition von Jesa (1972) und mit M. Burrows Schwarzweißbildedition von Jesa (1951) gearbeitet. D. W. Parry-E. Qimron's Jesa-Schwarzweißedition mit der heute geltenden Transkription ist noch nicht berücksichtigt.1 Es geht in der Arbeit nicht umhin, dass Texte an verschiedenen Stellen mehrfach zitiert und analysiert werden. Nicht alle verglichenen Texte werden von P. synoptisch gegenübergestellt, aber die Mehrzahl. Eine genauere stichische bzw. zeilenmäßige Gegenüberstellung wäre für den Leser von Vorteil. Der Vf. hat sie versucht, aber nicht durchgehalten (wie 59.60.62.67.103.107.152.167.180.182 f.).

P. geht davon aus, dass die bisherige Arbeit über Jesa sich mehr mit der Orthographie und Sprache der HS als mit den abweichenden Lesarten in ihrer inhaltlichen Bedeutung (interpretative readings) beschäftigt hat.

Er wirdft vor allem E. Y. Kutscher eine Überbetonung des linguistischen Einflusses vor. P. akzeptiert die Ergebnisse E. Y. Kutschers2 nur bedingt: "... ausgenommen eine abweichende Lesung passt nicht in den grammatischen oder linguistischen Kontext einer Passage oder unterbricht den logischen Fluss einer Passage", kommt ein Schreiberirrtum nicht in Betracht (24.201).

Der Exeget steht bei Jesa häufig vor der Frage: Handelt es sich um eine orthographische, phonetische, d. h. eine sprachliche, oder um eine echte Sinnvariante? P. zitiert Kutscher ca. 50-mal und kritisiert ihn manchmal zu Recht; oft wird aber auf Kutschers Analyse einer Stelle gar nicht eingegangen, obwohl sie den richtigen Weg zum Verständnis des Textes gewiesen hätte. Kutschers Einordnung der Sprache von Jesa in die Sprachsitu-ation der Zeit ist nicht unterzubewerten und die offensichtliche Gutturalschwäche der HS z. B. nicht wegzureden. Aber auch das andere Extrem der falschen Mutmaßung und Spekulation im Verständnis von "interpretierenden Lesungen" und ihrem ideologischen Milieu versucht P. zu vermeiden. Zwischen diesen beiden Polen entwickelt er seine Sicht der transmission.

Die Hauptverdienste der Arbeit finden sich vor allem im 2.Kap., wo P. die Kategorien der Schreiberaktivität darlegt: 1. Die Harmonisierung (45-78), (a) aus dem unmittelbaren Kontext (contextual), (b) aus anderen Jes-Texten (textual) und (c) aus anderen Bibeltexten (intertextual) heraus und anderes mehr.

Einwirkungen gebe es aus biblischen Texten: 8 % aus der Tora; 16 % aus Jos-Kön; 40 % aus Jes/Jer/Hes/12Proph; 24 % aus Ps und 12 % aus Esr/Neh/Chr. Dem Rez. sind die %-Zahlen nicht klar, da die zur Analyse herangezogenen Texte doch nur eine Auswahl darstellen. P. findet beim Schreiber die exegetische Technik: die hermeneutische Regel "die Bibel interpretiert die Bibel", d. i. die rabbinische Gezera schawa ("die gleiche Anordnung").

2. Die Explikation (ohne Harmonisierung) (78-117), (a) mit den Typen der erklärenden (wie z. B. Jesa 47,6; 45,18) oder der interpretierenden Lesung (wie z. B. Jesa 6,9), (b) der Methode der Explikation und (c) der Effekte betreffs der Satzstruktur. Und es heißt zusammenfassend (d), der Schreiber dupliziere nicht, sondern ein "conceptional universe of the scribe" sei sichtbar (116). 3. Die Modernisierung (117-122), sprich Anpassung der Sprache an die Zeit, und 4. die Textänderungen in Form von Textglättung und Entfernung sprachlicher Härten und Unregelmäßigkeiten (122-129).

Die beiden letzten Abschnitte (3) und (4) sind gerade angesichts der Vorarbeiten Kutschers viel zu knapp geraten.

P. bringt (a) Beispiele für eine Aramaisierung, (b) für die Form und Schreibung von Namen, (c) für späthebräisches Vokabular (Synonyme), (d) besondere Nominalformen, (e) zur Endung des Zugehörigkeitsadjektivs, (f) besondere Verbalformen, (g) den Gebrauch der Zeiten.

In Kap. 3 geht es um die traditio des traditum in der Rolle (130-159). Es gibt erstens zwei Typen der (exegetischen) Textkorrektur, die den Text akkurater machen, (a) infolge der historischen Exegese, bei der der Schreiber sein historisches und sein Ortswissen einbringt (wie z. B. Jesa 30,6; 20,6; 23,17; 37,13; Jesa 11,9; 35,8; 26,19; 5,12) und (b) infolge der theologischen Exegese, durch die der Schreiber Missverständnissen entgegenwirkt (wie z. B. Jesa 28,21; 66,16; 29,13). Zweitens gibt es Textänderungen bei wichtigen Themen der Rolle, die über eine spezifische "sectarian interpretation" oder einen spezifischen "parochial view" hinausgehen (158 f.).

Auch dieses 3. Kap. gehört zum Kernstück der Arbeit. Der Vf. beobachtet oft richtig, er gelangt ein gutes Stück über die bisherige Jesa-Exegese hinaus, neigt aber zur Überinterpretation.

Das letzte, das 4. Kap., handelt über das spezielle Milieu der Rolle (160-199). Ein "yachad milieu" findet P. beim sensiblen Gebrauch des Wortes Yachad.

Jesa 45,8 habe yachad "zusammen" absichtlich fortgelassen, und Jesa 42,14; 27,4; 43,26; 44,11; 50,8 masoretisches yachad zum Adverb yachdaw/yachdo korrigiert, um dem Missverständnis vorzubeugen, es als nomen zu verstehen und auf die Yachad-Gemeinde von Qumran zu beziehen. Das Wort yachad sei in Jesa 22,3 beibehalten, weil es als Objekt zum Verbum nadad verstanden sei. P.s Deutungen aller so genannten yachad-sensiblen Texte können nicht überzeugen.

Darüber hinaus gibt es Yachad-Themen in der Rolle, die ideologisch mit andern Yachad-Dokumenten übereinstimmen.

Der Tempel und das Torastudium: Jesa 2,3 habe absichtlich "zum Tempel Adonays" weggelassen; Jesa 8,11 ysyrny (hif. von sur) ersetze wysrny wegen der Separation der Gemeinde (Rez.: Die LXX kommt Jesa näher als MT!); in Jesa 50,11 gehe es um den Kampf gegen den Rest des Judentums ebenso wie in der offensichtlichen Jesa-Zitierung in CD V,13; in Jesa 14,1-2 (über die Rolle des Fremden) sei ein Bezug auf die Rabbim in Qumran sichtbar; nach Jesa 56,6 obliegt es den Fremden, "Diener zu sein und den Namen Adonays zu loben (brk)" anstelle "Adonay zu dienen und seinen Namen zu lieben"; P.s Interpretation von Jesa 59,7 übersieht den Einfluss von Jesa 60,18 und die von Jesa 30,19 den von 30,18.

Schließlich zeigt P. Textbeziehungen von Jesa zu andern Yachad-Texten auf, die nicht klaren Themen zuzuordnen sind.

Das sind die Jes-Bezüge in 1QS, 1QH, 1QM, 11QMelchisedeq, Damaskusschrift, den Pescharim (4Q176.161.162.163). Sodann schaut P. auf die Jes-HS 4QJesa (4Q57, paläographisch fast 150 Jahre später), die auffälligerweise häufiger mit Jesa als mit MT zusammenläuft, obwohl es keine direkte Verwandtschaft beider Texttraditionen im Sinne gemeinsamer exegetischer Erwägungen, sprich Interpretation, gibt (198; zusammengefasst in Tafel 3, 218).

Ein weiteres Ergebnis der Arbeit ist: dass auf der einen Seite zwischen Jesa und andern Yachad-Dokumenten eine "conceptional affinity" besteht ("cardinal themes of the Yahad documents are attested in the interpretative readings of the scroll"), dass auf der andern Seite aber die substantielle Textverwandschaft, was die Pleneorthographie angeht, gering ist und eine textual independence besteht (199).

Fragt man, von welchem der beiden oben genannten Pole sich der Vf. mehr angezogen fühlt, so ist das nach Meinung des Rez. sehr oft der Pol der spitzfindigen und einseitigen Überinterpretation. Dennoch liefert die Arbeit einen wichtigen Beitrag zu Jesa. Denn methodisch gesehen bildet sie einen Gegenpol zur rein philologischen Analyse der Rolle. Man wünschte sich für die Zukunft einen zusammenhängenden, fortlaufenden Kommentar zu der HS Jesa, der alle verfügbaren HSS und Versionen berücksichtigt.

Eine deutsche Übersetzung nach der Einheitsübersetzung mit der Textgraphik von 1QIsa hat jüngst O. H. Steck vorgelegt.3 Das DJD-Unternehmen plant als Band XXXII einen Band mit allen verfügbaren Jes-HSS vom Toten Meer.

Trotz des im Ganzen sorgfältigen Layouts sind mir Schreib- und Umbruchfehler aufgefallen auf Seite 63.64.65.71.88.92.94. 100.114.115.123.127.137.141.146.156.158.175.181.187.191.

Fussnoten:

1) The Great Isaiah Scroll (1QIsaa ). A New Edition, Leiden 1998 - Frontseite 1999! Mit einer Auswahl-Bibliographie XI-XXV).

2) The Language and Linguistic Background of the Isaiah Scroll (1QIsaa), Leiden 1974. Dazu das das Werk erschließende Beiheft: E. Quimron, Indices and Corrections, Leiden 1979.

3) Die erste Jesajarolle von Qumran (1QIsaa). Band 1: Schreibweise als Leseanleitung für ein Prophetenbuch. Band 2: Textheft, Stuttgart 1998.